32
»Wo sollen Jack und ich denn schlafen?«, wollte Beth am nächsten Tag aufgebracht von One Eye wissen. Sie kochte vor Wut, denn sie hatte gerade zufällig gehört, wie er Dolores und Mary, zwei der Saloon-Mädchen, gesagt hatte, dass sie oben einziehen könnten.
»Ich werde dir dein Zimmer nicht wegnehmen, solange du mir nicht ständig dumm kommst«, antwortete er. Er stand halb abgewandt von ihr, und sein gesundes Auge sah in ihre Richtung, während das Glasauge blind geradeaus starrte. »Jack wird allerdings runter in die Küche ziehen müssen, denn ich habe sein Zimmer zwei anderen Mädchen versprochen.«
Beth hatte das Gefühl, gleich zu explodieren, aber sie wagte es nicht aus Angst, dass er Jack und sie rausschmeißen könnte. »Das ist nicht richtig, Mr Donahue«, flehte sie. »Jack hat dieses Haus gebaut, und es ist unser Zuhause. Tun Sie uns das nicht an! Es war schlimm genug zu erfahren, dass Theo Ihnen das Haus verkauft hat, ohne uns ein Wort davon zu sagen.«
Am Tag zuvor hatten Jack und sie zuerst gedacht, One Eye wolle sie auf den Arm nehmen, als er behauptete, er habe den Saloon gekauft. Er war bekannt für seine Scherze, und jedes Mal, wenn er in der Vergangenheit in einem auffälligen karierten Anzug und einem mit Federn dekorierten Stetson-Hut ins Golden Nugget gekommen war, hatte er irgendetwas Lächerliches behauptet. Er neigte auch dazu, mit Geld um sich zu werfen, und obwohl sie ihn für einen Narren hielten, hatten sie doch geglaubt, er sei harmlos.
Aber zu ihrem Entsetzen und ihrer Bestürzung zog One Eye einen Vertrag aus der Tasche, aufgesetzt von einem Anwalt hier in Dawson und von Theo unterzeichnet, in dem stand, dass er den Saloon mit allem, was dazugehörte, für achtzigtausend Dollar gekauft hatte.
Sie hatten es erstaunlich gefunden, dass Theo so skrupellos gewesen war, diesen Deal am Sonntag einzufädeln, aber zu feige, nachts nach Hause zu kommen und ihnen in die Augen zu sehen. Doch er hatte den Nerv besessen, am Montag, nachdem er den Vertrag unterzeichnet und den Bankscheck eingelöst hatte, zurückzukommen und die Einnahmen und ein paar heimlich zusammengepackte Sachen mitzunehmen. Er hatte sich sogar noch gut gelaunt mit Jack unterhalten und ihn daran erinnert, dass sie noch mehr Whiskey brauchten, und war dann ohne Hast gegangen, um mit dem Dampfer wegzufahren – ironischerweise mit genau jenem, dem Beth gewinkt hatte.
Jack schäumte vor Wut; ohne ihn hätte Theo den Saloon nicht bauen können. Doch das Schimmern von Tränen in seinen Augen zeigte Beth, dass es ihn am meisten traf, sich so in Theo getäuscht zu haben. Er hatte gedacht, er und Theo seien wie Brüder, und konnte einfach nicht glauben, dass er ihn so hintergangen hatte.
Beth erkannte, wie umfassend dieser Betrug war. Egal, was passiert wäre, sie hätte immer zu Theo gestanden, selbst wenn er den Saloon in einem Pokerspiel verloren hätte. Vielleicht war ihr Verhältnis in letzter Zeit etwas abgekühlt, aber sie liebte ihn immer noch und war davon ausgegangen, dass er diese Liebe erwiderte. Aber festzustellen, dass er einfach gegangen war, nach allem, was sie zusammen durchgemacht und einander bedeutet hatten, dass ihm das Geld wichtiger war als sie, war einfach niederschmetternd.
Rechtlich hatten sie natürlich keinerlei Ansprüche. Das Grundstück gehörte Theo, und er hatte nie ein Schriftstück aufgesetzt, das seine Partner am Saloon beteiligte, obwohl er immer erklärt hatte, das tun zu wollen. Wenn One Eye sich dazu entschloss, Jack und sie rauszuschmeißen, dann war er rechtlich dazu befugt.
Aber noch schlimmer war, dass sie auch noch dankbar dafür sein mussten, dass er sie weiterbeschäftigte und ihnen ein Dach über dem Kopf gab.
Seit der Eröffnung des Golden Nugget hatten sie nicht einmal richtigen Lohn bekommen, und Jack war nie für den Bau des Gebäudes bezahlt worden. Sie hatten nur hier und da ein paar Dollar bekommen, wenn sie etwas brauchten, weil sie naiverweise davon ausgegangen waren, dass das Geld, das der Saloon abwarf, ihnen allen gehörte, genauso wie sie in der Vergangenheit alles miteinander geteilt hatten.
One Eye betrachtete Beth mit kalter Berechnung. Ihm gefiel der verletzte und wütende Ausdruck in ihren Augen nicht; Frauen, die sich ungerecht behandelt fühlten, machten immer Ärger. Er musste einen Weg finden, um sie zu beruhigen, denn er wusste nur zu gut, dass sie die eigentliche Attraktion des Golden Nugget war. Tatsächlich hatte er sich nur wegen ihr für den Laden interessiert. Smarte Kartengeber, Tänzerinnen und geschickte Barkeeper gab es genauso viele wie Betrunkene. Aber hübsche Geigerinnen waren so selten wie ein gezähmter Grizzlybär.
Er wusste, dass er sie noch eine Woche bei Laune halten musste, bis der Fluss zugefroren war. Dann hatte sie keine andere Wahl mehr, als den Winter über zu bleiben. Und wenn er Cockney Jack loswerden konnte, ohne sie gegen sich aufzubringen, würde er sie vielleicht irgendwann auch in sein Bett kriegen.
»Hör zu, meine kleine Gypsy Queen«, sagte er in beschwichtigendem Tonfall. »Es tut mir leid, dass dein Freund dich verlassen hat; er ist ein Lump, weil er dir das angetan hat. Aber ich habe für diesen Laden viel Geld bezahlt, und jetzt muss er etwas abwerfen. Deshalb muss ich diese beiden Zimmer vermieten. Aber ich sage dir was, ich lasse den Hut rumgehen, wenn du spielst, und du kannst alles behalten, was reingeworfen wird. Wie klingt das?«
Beth war noch zu geschockt, um weiter zu protestieren. Ohne Theo würde es sowieso kein richtiges Heim mehr für sie sein, also nahm sie an, dass es keine Rolle spielte, ob vier Frauen bei ihnen einzogen.
Wie immer beruhigte sie das Geigespielen an diesem Abend. Vielleicht schaffte sie es nicht, die Leute dazu zu bringen, aufzustehen und zu tanzen – tatsächlich hatten einige im Publikum bei ihren traurigen Melodien Tränen in den Augen. Aber als der Hut herumging und wieder bei ihr ankam, zählte sie über fünfunddreißig Dollar, die Bestätigung, dass sie ein einmaliges Talent besaß, durch das sie niemals würde hungern müssen.
Es war ein ruhiger Abend, und One Eye ließ sie um ein Uhr schließen, weil nur wenige Leute kamen. Die Frauen sollten erst am nächsten Tag einziehen, deshalb nahm Jack sich eine Flasche Whiskey und erklärte, dass sie ihren Kummer damit ertränken könnten.
»Ich wette, Theo hatte diesen Deal mit One Eye schon länger geplant, aber nicht den Mut, es durchzuziehen«, sagte Jack ein bisschen später, als sie mit der Decke über den Beinen an den beiden Enden von Beths Bett saßen und tranken. »Und als er dann hörte, wie dieser Kerl über Soapy Smith und dich sprach, sah er darin die perfekte Möglichkeit zu gehen, ohne wie ein totaler Schuft dazustehen.«
»Aber das bedeutet, dass ich ihm schon lange nichts mehr bedeutet habe«, sagte Beth und musste erneut mit den Tränen kämpfen. »Warum konnte er das denn nicht zugeben?«
»Ich bezweifle, dass es daran lag. Er war durch und durch ein Spieler«, erinnerte Jack sie. »Ich wette, dass er nur an das Geld dachte, das er dann besitzen würde. Alles in allem müssen es mit den Einnahmen und allem, was noch auf der Bank war, mehr als achtzigtausend gewesen sein. Das reicht für jede Menge Pokerspiele. Oder vielleicht hat er das Geld auch einfach als einen großen Gewinn gesehen und geglaubt, aussteigen zu müssen, solange das Glück ihm noch hold war.«
»Aber ich habe immer zu ihm gehalten. Er hat gesagt, dass er mich liebt, und er hat gewusst, dass ich überall mit ihm hingegangen wäre. Warum wollte er mich nicht mitnehmen?«
»Ich weiß es nicht, Beth.« Jack schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber erinnere dich doch daran, wie es war, seit wir Philadelphia verlassen haben. Sam und ich mussten ihn immer mit durchbringen. Sicher, er hat seine Gewinne mit uns geteilt, aber ohne uns wäre er niemals durch Kanada gekommen, und hierher schon gar nicht. Vielleicht war ihm das klar, und es war ihm unangenehm. Mit dem Geld durchzubrennen könnte ihm das Gefühl gegeben haben, frei zu sein.«
»Und jetzt wird er sich irgendeine Frau aus der gehobenen Gesellschaft suchen, die ihm nicht peinlich sein muss«, sagte sie verbittert. »Denk doch nur, wie er in Montreal war, immer auf der Suche nach Leuten mit Rang und Namen, mit denen er zusammen sein konnte. Es war ihm egal, dass ich in einer Fabrik arbeiten und in einer armseligen Hütte leben musste. Ich wette, er war froh, als ich die Fehlgeburt hatte und der Doktor sagte, ich könne keine Kinder mehr bekommen. Auf diese Weise musste er keine Verantwortung übernehmen. Was für eine Närrin ich war!«
Jack nahm ihre Hand und drückte sie mitfühlend. Aber er widersprach ihr nicht, indem er sagte, dass sie sich irre.
»Ich hoffe wirklich, dass er das ganze Geld beim nächsten Spiel verliert«, sagte sie wütend. »Wenn er in der Gosse liegt und nichts mehr hat, dann hoffe ich, dass er auf Knien zu mir zurückgekrochen kommt. Und dann trete ich ihm ins Gesicht.«
Sie tranken schweigend noch eine Weile weiter, beide in ihre verbitterten Gedanken vertieft.
»War da was zwischen Soapy und dir?«, fragte Jack später. »Ich weiß, du hast eine Nacht mit ihm verbracht, aber war da mehr zwischen euch?«
»Nein, aber da hätte mehr sein können.« Sie seufzte, dann erzählte sie Jack, wie sie Soapy kennengelernt und wie sie an ihrem letzten Tag in Skagway noch etwas mit ihm getrunken hatte und dass sie später mit ihm auf seinem Pferd nach Dyea geritten war. »Ich mochte ihn sehr, aber wie es scheint, war es richtig, mich nicht für ihn zu entscheiden. Er war genauso wie Theo, oder? Glaubst du, es stimmt, dass Soapy jemandem befohlen hat, ihn zu töten?«
»Ich denke, es wäre möglich, aber ich bezweifle, dass es dabei um dich ging. Ich schätze, Theo ist ihm in die Quere gekommen. Sie waren sich sehr ähnlich, beide Betrüger. Ich meine, nicht nur beim Kartenspielen und bei Frauen, sondern in allem. Sie benutzten ihren Charme, um sich die Leute gefügig zu machen und sie anschließend auszunutzen. Theo hat mich getäuscht, so viel steht fest, und was mir wirklich gegen den Strich geht, ist, dass ich für ihn gestorben wäre.«
Mitte Oktober war es in Dawson sehr viel ruhiger. Es war Schnee gefallen, und der fest zugefrorene Yukon wurde nur von Schlittenhunden benutzt, die Vorräte zu den Goldminen brachten oder Feuerholz holten.
Die Leute, die im Juni gekommen und wie verlorene Seelen durch den Schlamm gelaufen waren, hatten fast alle die Rückreise angetreten, solange das noch möglich war. Jetzt, wo keine Schiffe mehr Leute herbrachten oder mitnahmen, war das Ufer verlassen. Rauch stieg aus Tausenden von Kaminen auf und schuf einen grauen Nebel vor einem noch graueren Himmel.
An den unteren Berghängen um Dawson herum standen keine Bäume mehr, und die schwarzen Stümpfe sahen aus wie verfaulende Zähne. Unter den Leuten, die noch immer in Zelten lebten, breiteten sich Krankheiten aus. Die Stadt war auf Sumpfland gebaut, und während des heißen Sommers forderten wegen der fehlenden Abflüsse und sanitären Anlagen Seuchen wie Typhus, Ruhr und Malaria viele Opfer. Skorbut trat ebenfalls immer öfter auf, genauso wie Fälle von Lungenentzündung und schlimmer Husten.
Die Bewohner der Front Street nahmen die Not der ärmeren Einwohner gar nicht wahr oder interessierten sich nicht dafür, denn sie konnten es sich leisten, Feuer in ihren Boilern, Kaminen und Öfen zu entzünden und die Plumpsklos zu leeren, und ihre Vorratskammern waren immer gut gefüllt. Die Elektrizität hatte Einzug gehalten, ebenso wie das Telefon, und für diejenigen mit genügend Geld war Dawson genauso lustig und farbenfroh wie Paris, selbst wenn es bitterkalt war.
Beth stellte dagegen fest, dass sie das Elend der Armen und Kranken nicht ignorieren konnte. Jeden Tag kochte sie einen großen Topf Suppe und brachte ihn auf einem Schlitten zu Vater William Judge, einem zierlichen, ausgezehrten Priester, der ein kleines Hospital am Fuße des Hügels am Nordende von Dawson führte.
Für sie war Vater Judge ein Heiliger. Er arbeitete unermüdlich von frühmorgens bis spätabends und trug trotz der extremen Kälte nur eine abgewetzte Soutane. Beth nahm an, dass seine Krankenschwestern nicht so selbstlos waren und die im Sterben liegenden Patienten bestahlen, deshalb blieb sie immer so lange, bis die Kranken die Suppe gegessen hatten, um sicher zu sein, dass sie nicht weggebracht und anderswo mit Gewinn verkauft wurde.
Jack war auch zunehmend desillusioniert darüber, wie die Dinge in Dawson liefen. Die meisten Leute katzbuckelten vor den Reichen und bewunderten die extravagante Zurschaustellung ihres Reichtums, während sie dafür sorgten, dass ein Teil davon bei ihnen landete. Er fand es abstoßend, dass viele der reichsten Leute in der Stadt die Armen ausbeuteten, ihnen nur einen Hungerlohn für das Wäschewaschen, das Holzhacken und andere Hilfsarbeiten zahlten. Wenn One Eye ihm befahl, Leute aus dem Saloon zu werfen, die lange über einem einzigen Drink saßen, um sich etwas aufzuwärmen, dann weigerte Jack sich. Er wusste, dass einige dieser Männer in ihren Zelten und ungeheizten Hütten erfrieren würden, und er war der Ansicht, dass One Eye etwas christliche Nächstenliebe zeigen sollte.
Die beiden Männer stritten oft, denn One Eye hatte kein Verständnis für Jacks Ehrlichkeit und seine Menschlichkeit.
»Ich muss hier weg«, sagte Jack schließlich eines Abends im November zu Beth, nachdem sie den Saloon geschlossen hatten. »Wenn nicht, dann werde ich irgendwann die Geduld verlieren und One Eye angreifen. Er verdünnt den Whiskey mit Wasser, er hat die Mädchen zu Huren gemacht und nimmt sich fast das ganze Geld, das sie verdienen, und ich glaube, er betrügt auch beim Kartenspiel. Ich kann nicht länger danebenstehen und dabei mitmachen.«
Beth war auch entsetzt gewesen, als sie sah, wie die vier Saloon-Mädchen anfingen, an den Abenden mit Männern nach oben zu gehen; sie waren zwar nicht unschuldig gewesen, als Theo sie einstellte, aber auch keine Huren. Dolores hatte ihr anvertraut, dass One Eye ihnen gedroht hatte, sie zu feuern, falls sie sich weigerten, mit Männern mitzugehen, wenn er es ihnen sagte.
Er hatte die Mädchen in der Hand, und sie taten Beth unendlich leid. Keine von ihnen war besonders hübsch oder schlau, und da alle anderen Saloons schon genug Mädchen hatten, würden sie nirgendwo anders Arbeit finden. Das Einzige, auf das sie hoffen konnten, war, dass einer der Goldgräber sie als »Winterfrau« zu sich nahm, um ihm das Bett zu wärmen und für ihn zu kochen. Aber eine kalte, primitive Hütte am Stadtrand, ohne eigenes Geld und mit einem Mann, den sie nicht liebten, war vermutlich genauso schlimm, wie eine Hure zu sein.
»Wohin willst du gehen?«, wollte Beth von Jack wissen. Die Aussicht, ihn zu verlieren, legte sich wie eine eiserne Faust um ihr Herz. Sie hatte geglaubt, über den Tod von Sam und Molly hinweg zu sein, aber als Theo sie verließ, war es, als wären alle traurigen Ereignisse der Vergangenheit schlagartig wieder da. Ohne Jack, ihren einzigen wirklich treuen Freund, wäre sie zusammengebrochen und vielleicht versucht gewesen, allem ein Ende zu setzen, genauso wie es andere sitzengelassene Frauen getan hatten.
Aber schon seit Wochen war sie sich bewusst, dass Jack One Eye hasste und verachtete, und es wäre nicht richtig gewesen, ihn aus reiner Selbstsucht zu bitten, bei ihr zu bleiben.
»Raus nach Bonanza, zu den Goldfeldern.« Er zuckte mit den Schultern. »Da gibt es jede Menge Arbeit.«
»Aber das Leben da draußen ist so hart«, protestierte sie.
»Nicht so hart, wie vor dem alten One Eye zu katzbuckeln«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Ich komme zurück, wenn das Eis im Frühling schmilzt, und wenn dich bis dahin nicht irgendein reicher und attraktiver Mann erobert hat, dann sind wir ja vielleicht so weit, in die Welt da draußen zurückzukehren.«
Beth lächelte schwach. Sie konnte an dem Glitzern in Jacks Augen sehen, dass er sich sogar darauf freute, in Bonanza zu arbeiten. Er hatte nie Angst vor schwerer Arbeit oder rauen Lebensumständen gehabt, und er hatte mehr mit den Goldgräbern gemeinsam als mit den Spielern, Parasiten und feinen Pinkeln hier in Dawson. Es war nur Theos Einfluss gewesen, der ihn Barkeeper hatte werden lassen, und eigentlich konnte er viel mehr als das.
»Ich habe kein Interesse an Liebesaffären, aber ich weiß, dass ich dich schrecklich vermissen werde.« Sie umarmte ihn fest. »Pass auf dich auf, und gib jemandem Nachrichten mit, damit ich weiß, wie es dir geht.«
Jack fuhr zwei Tage später mit einem Goldgräber namens Cal Burgess auf dem Hundeschlitten mit. Beth ging hinunter zum vereisten Ufer, um ihm zum Abschied zu winken. Sie lächelte, obwohl sie weinen wollte. Die Malamuts bellten wild und zogen an ihren Geschirren, weil sie los wollten. Als Cal hinten auf den Schlitten sprang und den Hunden ein Zeichen gab, schossen sie begierig nach vorn.
Jack wandte sich um, das Gesicht halb verdeckt von seiner mit Wolfsfell besetzten Kapuze, und hob die behandschuhte Hand, aber weil sein Mund eine gerade Linie bildete, nahm sie an, dass er sie nur ungern zurückließ.
Es war furchtbar gewesen, als Theo sie verlassen hatte. Sie hatte sich bloßgestellt und gedemütigt gefühlt, und all ihre Hoffnungen und Träume waren zerbrochen. Aber sie hatte ihre Beziehung irgendwann noch einmal nüchtern Revue passieren lassen, seine vielen Fehler und die Enttäuschungen aufgelistet, die er ihr bereitet hatte, und eingesehen, dass er immer nur auf die große Chance aus gewesen war. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen, als ihm blind zu vertrauen.
Aber es gab kein solches Gefühl, mit dem sie sich über die Traurigkeit hätte hinwegtrösten können, dass Jack weiterzog. Kaum eine Stunde verging, in der sie ihn nicht vermisste. Als sie sich die erste Tasse Kaffee des Tages machte, stellte sie sich sein verschlafenes Gesicht am Morgen vor, mit den schwarzen Bartstoppeln, und sein strahlendes Lächeln, wenn sie ihn weckte. Später, als der Saloon öffnete, erinnerte sie sich daran, wie sie in ruhigen Zeiten auf einem Barhocker gesessen und mit ihm geredet hatte, während er die Regale putzte und die Gläser polierte.
Und sie hatten so viel über die Gäste gelacht. Jack konnte ihr seine Meinung über eine sehr große Nase, einen Sprachfehler, einen zwanghaften Lügner oder irgendetwas anderes dieser Art durch ein Lächeln oder eine gehobene Augenbraue mitteilen. Manchmal konnte sie das Lachen nicht unterdrücken und musste sich hinter die Bar hocken oder nach hinten laufen, aus Angst, nach einer Erklärung gefragt zu werden.
Aber es waren die Abende, an denen sie ihn am meisten vermisste, denn sie waren immer gegen sechs Uhr essen gegangen. Wenn sie zurückkamen, hatte sie sich umgezogen und sich die Haare aufgesteckt, und später, wenn sie in den Saloon kam, um zu spielen, hatte er immer einen bewundernden Pfiff ausgestoßen. Er war immer da gewesen, hatte sie immer bewundert und unterstützt, war immer der Freund gewesen, der sie niemals im Stich ließ. Mit ihm hatte sie jederzeit reden können, Tag und Nacht, und er hatte auch einfach schweigend mit ihr zusammengesessen, wenn es das war, was sie wollte.
Und so war es immer schon gewesen. Wenn er sie nicht gedrängt hätte, ins Heaney’s zu gehen, dann hätte sie vielleicht nie öffentlich gespielt, sondern sich einen Job als Verkäuferin gesucht. Er war nicht gegangen, als sie ihn für Theo verließ, und trotz all der Frauen, die es seitdem in seinem Leben gegeben hatte, und es waren viele gewesen, hatte er nie zugelassen, dass sich eine davon zwischen sie drängte.
Er hatte sie nach ihrer Fehlgeburt bestärkt und getröstet und sich in Skagway um alles gekümmert. Er hatte sie über den Chilkoot Pass gebracht. Er hatte mit ihr um Sam getrauert und verstanden, wie sehr Mollys Tod sie traf. Er hatte sogar mit ihr gelitten, als Theo sie verließ.
Aber jetzt war er in sein eigenes Leben aufgebrochen, und sosehr sie ihn auch vermisste, sie freute sich für ihn. Er hatte Sam, Theo und sie viel zu lange unterstützt; es wurde Zeit, dass er seine Energie und seine Fähigkeiten für sich selbst nutzte.
Und ihr wurde klar, dass sie dasselbe tun musste.
Von dem Moment an, als sie Theo kennenlernte und ihm ihr Herz schenkte, hatte sie ihr Leben praktisch in seine Hände gelegt. Sie hatte sich nie gefragt, ob sie wirklich Teil seiner grandiosen Pläne sein wollte; tatsächlich hatte sie sogar verlernt, selbst welche zu schmieden. Im Rückblick kam es ihr unglaublich vor, dass sie so viele tausend Meilen gereist war und so viele Beschwernisse auf sich genommen hatte, nur um an seiner Seite zu sein.
Ein paar Wochen nach Jacks Weggang kämmte sie sich eines Morgens in ihrem Zimmer das Haar, als ihr plötzlich klar wurde, dass One Eye sie genauso benutzte wie Heaney in New York. Die Tatsache, dass sie das Geld aus dem Hut nahm und ihm dankbar dafür war, dass er sie in ihrem Zimmer wohnen ließ, spielte ihm in die Hände. Sie wurde ausgenutzt, und wenn sie nicht aufpasste, dann saß sie genauso in der Falle wie Dolores und die anderen Mädchen aus dem Saloon.
Sie verdiente ungefähr zweihundert Dollar pro Woche, aber die hohen Lebenshaltungskosten in Dawson fraßen einen Großteil davon auf, denn sie hatte sich neue Kleider, einen Pelzmantel, um sie draußen zu wärmen, und dicke, pelzgefütterte Stiefel gekauft.
In der ganzen Aufregung, hier anzukommen und Teil des Wahnsinns von Dawson zu sein, war ihr der Grund entfallen, wieso sie überhaupt auf diese gefährliche Reise gegangen waren. Eigentlich hatten sie hier ein Vermögen verdienen wollen.
Theo hatte das getan, aber alles, was Beth als Lohn für ihre harte Arbeit vorweisen konnte, waren Ersparnisse von hundertsechzig Dollar. Damit würde sie nicht weit kommen.
»Komm schon, Schätzchen, gib mir einen Kuss!«
Beth wich angewidert zurück, als One Eye betrunken nach ihr griff. Er trug seinen gelb-schwarz karierten Anzug, und die Weste saß so eng, dass ein Teil seines Bauches darunter hervorlugte. Sein Gesicht war rot und glänzte vor Schweiß, und sein Atem stank.
Es war vier Uhr morgens, und es war sehr viel zu tun gewesen, denn es hatte ein Pokerspiel mit hohen Einsätzen stattgefunden. Wie immer hatte One Eye den ganzen Abend an einem Tisch gesessen und mit seinen Kumpanen getrunken und sich nur umgedreht, um noch mehr Drinks zu bestellen oder um eine der Huren aus der Paradise Alley zu befummeln, die in letzter Zeit oft hierherkamen.
Das Pokerspiel war seit einer Stunde vorbei. Alle Spieler waren nach Hause gegangen, und die einzigen verbliebenen Gäste waren sieben Männer, die so betrunken waren, dass sie entweder mit den Köpfen auf den Tischen schliefen oder auf ihren Stühlen gefährlich schwankten.
Der derzeitige Barkeeper, der als Sly, das Schlitzohr, bekannt war – was ein passender Name für einen Mann war, der sich, da war Beth sicher, den Preis für viele Drinks in die eigene Tasche steckte –, wollte gerne schließen und nach Hause gehen. Er hatte Beth gebeten, ihm zu helfen, und als sie zu One Eye ging und ihm vorschlug, die Betrunkenen hinauszuwerfen, war dieser aufgestanden.
Aber er hatte niemanden rausgeworfen; stattdessen versuchte er, sich an sie heranzumachen.
Plötzlich wusste Beth, dass sie sich gegen ihn durchsetzen musste.
»Verzieh dich, du ekelhafter Widerling«, fuhr sie ihn an. »Ich bin nicht deine Frau. Wenn du mich auch nur berührst, dann wirst du es bereuen.«
»Wenn du so mit mir redest, dann werfe ich dich auf die Straße«, lallte er.
Sie betrachtete ihn wütend, während er schwankend vor ihr stand, und dieses Mal erinnerte sie sich daran, dass sie in der Stadt beliebt war, während die Leute über ihn lachten. »Wirf diese Leute da raus«, sagte sie und deutete auf die Betrunkenen. »Und dann geh nach Hause. Ich werde mich morgen mit dir befassen.«
Sie stolzierte die Treppe hinauf und schloss die Tür hinter sich ab. Sie bezweifelte, dass One Eye nach Hause gehen oder die Betrunkenen hinauswerfen würde, denn trotz all seiner großen Reden war er eigentlich ein schwacher Mann. Es war gut möglich, dass sie alle am Morgen noch da sein und bewusstlos auf dem Boden im Saloon liegen würden.
Es war jetzt Anfang Dezember und so kalt, dass der Schnee auf den Straßen so hart wie Stein war und das Atmen schmerzte. Sie hatte ihren Entschluss von vor zwei Wochen nur deshalb noch nicht in die Tat umgesetzt, weil es in ihrem Zimmer über dem Golden Nugget so warm und gemütlich war. Sie fühlte sich dort sicher, obwohl sie One Eye verachtete. Aber diese Sicherheit existierte nicht mehr, wenn er sie plötzlich als sein Eigentum betrachtete. Er war heute Abend sehr betrunken gewesen, aber nüchtern war er noch viel gefährlicher. Sie traute ihm zu, dass er sich ihr aufzwingen würde oder dass er ihr irgendeine kriminelle Tat anhängen würde, um sich für ihre Abfuhr zu rächen.
Die restliche Nacht machte sie kaum ein Auge zu, denn jedes Knarren im Haus ließ sie denken, der Mann käme die Treppe hinauf. Um neun Uhr schließlich stand sie auf.
Zuerst ging sie in den Saloon und stellte fest, dass alle Männer auf dem Boden lagen. One Eye umklammerte noch immer eine Flasche Whiskey, sein Mund stand offen, und er schnarchte laut. Der Gestank ließ sie würgen; es war nicht nur das Erbrochene auf dem Boden, sondern etwas noch Widerlicheres.
Sie schloss die Tür wieder, zog sich ihren Mantel an, setzte sich ihren Pelzhut auf und verließ das Gebäude durch die Hintertür.
Sonst vermied sie es, an Theo zu denken, doch jetzt konnte sie nicht anders. Denn sie wusste, wie entsetzt er über das gewesen wäre, was sie gerade gesehen hatte. Er hatte immer gewissenhaft darauf geachtet, dass die Männer nichts mehr zu trinken bekamen, wenn sie nicht mehr wussten, was sie taten. Wenn ein Mann so aussah, als wenn er gleich zusammenbrechen würde, befahl er den Freunden des Mannes, ihn nach Hause zu bringen, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte. Bei ihm hätte niemand betrunken auf dem Boden gelegen.
Die Saloons hatten noch nicht geöffnet, deshalb ging sie in ein Café in der Kind Street und bestellte sich Frühstück.
Um elf Uhr betrat sie das Monte Carlo. »Ich möchte mit Mr Fallon sprechen«, sagte sie zu dem jungen Mann, der den Boden fegte. »Sagen Sie ihm, Gypsy will ihn sprechen.«
Das Monte Carlo hatte mehrmals den Besitzer gewechselt, seit sie im letzten Juni dort gespielt hatte, und mit jedem neuen Besitzer war es mit Spiegeln, Kerzenleuchtern, Ölbildern und Teppichen prunkvoller ausgestattet worden. Es hieß, der derzeitige Besitzer, John Fallon, sei ein Südstaaten-Gentleman und habe noch größere Pläne für den Saloon. Beth war ihm noch nie begegnet, aber sie vertraute darauf, dass er von ihr gehört hatte.
»Er liegt noch im Bett«, sagte der junge Mann.
»Dann soll er aufstehen«, erklärte sie ihm knapp. »Ich habe nachher noch andere Verabredungen.«
Er verschwand nach hinten, und sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Ein paar Minuten später hörte sie die Schritte erneut, und sie wurde mutlos, weil sie davon ausging, dass Fallon ihn wieder heruntergeschickt hatte, um ihr auszurichten, dass er für niemanden aufstand.
Aber zu ihrer Überraschung war es nicht der junge Mann, sondern ein Mann Ende dreißig. Sein Haar war zerzaust, und er trug ein Smokingjackett aus Satin über einem ziemlich dreckigen kragenlosen Hemd.
»John Fallon, zu Ihren Diensten, Mam«, begrüßte er sie, nahm ihre Hand und küsste sie. »Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug. Hätte ich gewusst, dass die Klondike Gypsy Queen mich besucht, hätte ich mich in Schale geworfen und Sie schon erwartet.«
Beth war hocherfreut, dass die Gerüchte, die sie gehört hatte, stimmten und er wirklich ein Südstaaten-Gentleman war.
»Ich bin es, die sich entschuldigen sollte, dafür, dass ich Sie so früh störe«, sagte sie.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mam.« Er lächelte. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Musik. Ich habe schon oft vor dem Golden Nugget gestanden und Ihnen zugehört. Zu Hause in Virginia haben wir auch gute Geiger, aber ich glaube nicht, dass ich schon mal jemanden besser spielen gehört habe als Sie.«
Beths Herz klopfte ein bisschen schneller. »Danke, Sir«, sagte sie atemlos. »Dann bin ich hier vielleicht richtig.«
Sein breites Lächeln und der interessierte Ausdruck in seinen blassblauen Augen ließen sie die Nerven behalten. »Sehen Sie, ich suche nach einem Saloon, in dem ich auftreten kann. Und das Monte Carlo würde mir gut gefallen, vorausgesetzt, dass Sie mit meinen Bedingungen einverstanden sind.«
»Vielleicht sagen Sie mir, welche das sind?« Sein Lächeln wurde zu einem listigen Grinsen.
»Fünfzig Dollar pro Abend plus alles, was die Leute in den Hut werfen. Und ich brauche ein Zimmer.«
Er sog die Luft ein. »Fünfzig Dollar pro Abend ist zu viel. Ich könnte Ihnen fünfundzwanzig geben.«
Beth wäre auch bereit gewesen, für fünfzehn Dollar zu spielen, aber dass er ihr mehr anbot, machte sie mutiger.
»Es tut mir leid, Mr Fallon, aber dann kann ich nicht für Sie spielen«, sagte sie, drehte sich um und ging zur Tür.
Sie wollte sie gerade aufdrücken, als er hustete. »Vielleicht könnte ich auf fünfunddreißig gehen«, sagte er.
Beth wandte sich zu ihm um. »Kommen Sie schon, Mr Fallon. Sie möchten doch nicht, dass ich im Criterion spiele, oder? Wenn Sie mir fünfundvierzig geben, dann gehe ich dort gar nicht erst hin. Vorausgesetzt, Sie geben mir ein anständiges Zimmer.«
Er zögerte nur eine Sekunde lang. »Einverstanden«, sagte er und kam zu ihr, um ihr die Hand zu schütteln. »Wann können Sie anfangen?«
»Wann ist das Zimmer fertig?«, fragte sie.
»In einer Stunde?«, schlug er vor.
Sie nickte. »Haben Sie jemanden, der mich zurück ins Golden Nugget begleiten könnte, damit ich meine Sachen holen kann? Ich fürchte, One Eye könnte wütend werden, wenn er erfährt, dass ich seinen Laden verlasse.«
»Ich werde selbst mitkommen, Mam«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Geben Sie mir nur fünf Minuten, um mich anständig anzuziehen.«
Es war ein unglaublich befriedigendes Gefühl, den Ausdruck von unverhohlener Wut auf One Eyes Gesicht zu sehen, als er John Fallon mit Beths Kleidern auf dem Arm auf der Treppe sah.
»W-w-wohin wollen Sie denn mit den Sachen?«, stotterte er.
»Zu mir«, erklärte Fallon gut gelaunt. Er wandte sich zu Beth um, die auf der Treppe hinter ihm ging. »Haben Sie jetzt alles?«
»Alles, was mir wichtig ist«, sagte sie und grinste One Eye an. Sie hielt ihre Geige in einer und ihre vollgepackte Reisetasche in der anderen Hand. »Sie können mein Zimmer an zwei weitere Huren vermieten. Schließlich brauchen Sie etwas, womit Sie die Leute hier reinlocken können, wenn ich nicht mehr für Sie spiele.«
»Du kannst mich doch nicht einfach so im Stich lassen«, protestierte One Eye.
»Aber, aber, Mr Donahue«, sagte Beth mit seidiger Stimme. »Gäste, die sich in die Hose scheißen und auf den Boden kotzen, interessieren sich nicht für Geigenmusik, und jetzt können Sie doch endlich den ganzen Laden in einen Puff verwandeln. Sie kommen schon zurecht.«
Es war eine große Befriedigung für sie zu wissen, dass Dolores, eine der größten Klatschtanten von Dawson, oben an der Treppe stand und zuhörte. Bis spätestens heute Abend würden alle in der Stadt davon erfahren haben.
»Sie sollten besser dafür sorgen, dass der Saloon bis heute Abend wieder sauber ist«, sagte Beth knapp, als sie an One Eye vorbeirauschte. »Sonst denken die Leute noch, Sie kommen nicht mehr zurecht!«
»Der Gent kann nicht bei Trost gewesen sein, als er Sie verließ«, sagte Fallon, während er Beths Sachen in eines der beiden vorderen Schlafzimmer im Monte Carlo trug. »Es war unglaublich würdevoll, wie Sie One Eye in die Schranken gewiesen haben.«
»Meine Zeit im Golden Nugget ist jetzt vorbei«, erklärte sie fest. »Ich wäre froh, wenn Sie es nicht mehr erwähnen würden.«
Er legte ihre Kleider auf das Bett und lächelte. »Gerne, und ich glaube, wir sollten etwas Champagner trinken, um diesen Neuanfang zu feiern.«
»Das wäre schön.« Sie lächelte. Sie mochte das Aussehen des Mannes und den Klang seiner Stimme. Von jetzt an würde sie sich genau umsehen und jede Gelegenheit nutzen, die sich ihr bot.
Das Monte Carlo war gerammelt voll an diesem Abend, und als Beth kurz vor ihrem Auftritt über das Geländer nach unten blickte, nahm sie an, dass die neueste Geschichte über sie gerade herumging und mit jedem neuen Erzählen dramatischer wurde.
Fallon hatte draußen Schilder aufgestellt, die ankündigten, dass sie heute Abend hier spielte, und der junge Tom hatte ihr gerade berichtet, dass er am Golden Nugget vorbeigekommen war und nur drei oder vier Gäste darin gesehen hatte.
Sie würde hier sehr viel Geld verdienen. Sie wohnte im besten Zimmer im Haus, hatte eine Federmatratze auf dem Bett und einen Schminktisch, der prachtvoll genug war, um der Königin von Saba zu gefallen. Selbst Elektrizität gab es, und es war mollig warm im Haus.
Theo war jetzt nur noch ein dumpfer Schmerz. Sie konnte sehr gut ohne ihn leben.
Als sie sich umdrehte, um in ihr Zimmer zu gehen und ihre Geige zu holen, sah sie sich selbst in dem hohen Spiegel im Flur. Ihr Haar glänzte wie nasser Teer, ihre Augen strahlten vor Aufregung, und die Wangen waren leicht gerötet. Sie wusste, dass sie in ihrem violetten Satinkleid mit den schwarzen Spitzenvolants, das sie sich kürzlich von der Schneiderin hatte anfertigen lassen, den ellbogenlangen schwarzen fingerlosen Handschuhen und der violetten Blume im Haar sensationell aussah.
»Nutz es zu deinem Vorteil«, flüsterte sie sich selbst zu. »Sei die Gypsy Queen!«
Den ganzen Dezember über und bis in das neue Jahr 1899 feierte Beth im Monte Carlo Triumphe. Sie spielte jeden Abend zwei Mal zwei Stunden lang, aber auch zusammen mit anderen Musikern. John Fallon mochte es, wenn sie sich unter die Gäste mischte, und fast jeder Abend war wie eine Party.
Silvester und ihr zweiundzwanzigster Geburtstag Anfang Februar waren besondere Höhepunkte, denn Fallon veranstaltete eine private Neujahrsfeier für die reichsten und mächtigsten Leute in der Stadt, und an ihrem Geburtstag organisierte er eine Feier nur für sie und schenkte ihr ein goldenes Armband.
Beth spürte an der Art, wie Fallon ihr das Armband anlegte, und an seinem Handkuss, dass er sie begehrte, und sie war froh, dass es ihr genauso ging, denn das bedeutete, dass sie Theo endlich überwunden hatte.
Sie war nicht auf der Suche nach einer ernsthaften Liebesbeziehung, aber sie war bereit für eine kleine Affäre. Nicht sofort – sie wollte sich von Fallon erst noch ein richtiges Bild machen –, aber in der Zwischenzeit konnte sie mit ihm flirten.
Manchmal während der dunklen und eisigen Januar- und Februartage war Beth sogar froh, dass Theo sie verlassen hatte, denn wenn er noch da gewesen wäre, hätte sie vielleicht niemals herausgefunden, wie stark und unabhängig sie tatsächlich war. Sie bestimmte jetzt selbst über ihr Leben, sie war eine lebende Legende in Dawson, und sie wusste, dass sie genug Selbstvertrauen und Glauben an sich selbst hatte, um erfolgreich zu sein, egal wo sie von hier aus hingehen würde.
Anfang März beschloss Beth, dass die Zeit reif war für eine Nacht der Leidenschaft. Sie konnte seit Wochen an kaum etwas anderes mehr denken und wachte oft in der Nacht von erotischen Träumen auf.
Es war Gesetz in Dawson, dass an Samstagen alle Läden um Mitternacht schließen mussten, und seit Beth im Monte Carlo spielte, hatte Fallon immer eine Flasche Champagner aufgemacht, sobald die Türen sich schlossen, und sie dazu eingeladen, sie mit ihm zu trinken.
Sie hatte all ihr Geld gespart, seit sie im Monte Carlo arbeitete, und weil sie für Fallon besonders gut aussehen wollte, beauftragte sie die Schneiderin, ihr ein neues scharlachrotes Kleid zu nähen. Es war im Stil der Flamencotänzerinnen geschnitten, mit einem tiefen Ausschnitt, Rüschen an den Ärmeln und einem engen Mieder, das bis zu ihren Hüften reichte und dann in mehreren Lagen von Rüschen bis zu ihren Füßen fiel.
Es war ein sensationelles Kleid, eines, das sie niemals irgendwo anders zu tragen gewagt hätte als in Dawson, und ein Teil von ihr freute sich darüber, dass es gewagt war und dass einige die Augenbrauen heben würden. Sie wusste, dass die Leute über sie redeten, seit Theo sie verlassen hatte, und vielleicht bewies dieses Kleid, dass sie über ihn hinweg war. Sie wusste, dass sie es war, denn als sie es über ihre neue mit Spitzen besetzte Seidenunterwäsche zog, konnte sie nur daran denken, wie Fallon die Korsettschnüre und Knöpfe öffnen würde, und es ließ ihre Wangen erröten.
An diesem Abend spielte sie allein für ihn. Der Saloon war voller Leute, die alle zu der kleinen Bühne aufsahen und mit den Füßen wippten, in die Hände klatschten und lächelten. Aber sie fixierte mit ihren dunklen Augen sein Gesicht, während er in der Ecke der Bar stand. Er war nicht so auffällig attraktiv wie Theo; seine Haut war blass, und er wirkte unscheinbar mit seinen blassblauen Augen. Aber er hatte Stil – heute Abend trug er eine seegrüne Seidenweste unter seinem dunklen Anzug, seine Hände waren weich und gepflegt, und das Lächeln auf seinen Lippen galt ihr allein.
»Sie sehen heute Abend wunderschön aus«, sagte Fallon, als er ihr in seinem Salon ein Glas Champagner reichte, nachdem sie den Saloon geschlossen hatten. »Und das neue Kleid steht Ihnen sehr gut.«
Der Salon war klein – es passte nichts anderes hinein als ein Sofa, das vor dem Kamin stand, ein großer lackierter Holztisch, ein Stuhl und ein Safe, in dem sich Papiere stapelten. Von hier aus führte er den Saloon, und das angrenzende Zimmer war sein Schlafzimmer.
»Vielen Dank, Mr Fallon«, sagte sie lächelnd.
»Ich heiße John.« Er stand mit dem Rücken zum Kamin. »Ich kann doch keine Dame verführen, die mich Mister nennt.«
»Dann hast du also vor, mich zu verführen?«, fragte sie schelmisch.
»Das habe ich schon vor, seit du damals in den Saloon gekommen bist.« Er grinste. »Aber ich spüre, dass du mir heute Abend das Signal gibst, es auch zu tun. Liege ich da richtig?«
»Würde eine Dame das zugeben?«
»Eine, die so ehrlich ist wie du, schon.«
Sie stand auf und stellte ihr Glas auf den Tisch. »Dann solltest du mich vielleicht küssen.«
Beth hatte sich in letzter Zeit oft seinen Mund angesehen. Er war in der Tat das Attraktivste an ihm. Seine Lippen waren wohlgeformt und voll und hoben sich an den Enden, fast so, als wenn er ständig lächeln würde. Sie hoffte, das würde bedeuten, dass er gut küssen konnte.
Er legte seine Hände um ihre Hüften, zog sie an sich und sah amüsiert auf sie herunter. »Ich hoffe, du spielst nicht nur mit mir!«
Sie antwortete nicht, denn seine Lippen legten sich auf ihre, und er zog sie in seine Arme.
Er konnte gut küssen, war nicht zu heftig und auch nicht zu zögerlich, und als sich seine Zungenspitze zwischen ihre Lippen schob, wurde ihr ganz schwindelig vor Verlangen.
Die Wände im Monte Carlo waren nichts weiter als Trennwände aus Brettern, und die Geräusche der anderen Bewohner, die lachten oder die Treppen hinauf- oder hinuntergingen, waren ein bisschen beunruhigend. Beth hatte Angst, dass die anderen hören konnten, wie schwer sie atmete, während John sie auf das Sofa legte und wieder und wieder küsste. Als er eine Hand in das Mieder ihres Kleides schob, ihre Brüste herausholte und an ihnen saugte, musste sie ein verzücktes Keuchen unterdrücken.
»Wunderschöne Brüste«, murmelte er und leckte mit der Zungenspitze über ihre Brustwarzen. »Davon habe ich schon so lange geträumt.«
Er schob seine Hand unter ihren Rock, streichelte die weiche Haut über ihren Strümpfen und arbeitete sich langsam nach oben zu ihrer Unterhose vor, bis seine Finger ihre Scheide erreichten. »So nass«, flüsterte er. »Ich glaube, du willst mich wirklich.«
Beth vergaß, dass die Leute sie hören konnten, denn John tat Dinge mit seinen Fingern, bei denen sie schreien wollte, weil es so wundervoll war. Aber er war auch grob zu ihr, schob ihr den Rock hoch, damit er ihren Körper betrachten konnte, was ihr das Gefühl gab, verrucht und schamlos zu sein.
Er nahm sie dort auf dem Sofa, während sie beide noch angezogen waren, und stieß mit einer solchen Wucht in sie, dass es sie gleichzeitig schockierte und erregte.
»Es tut mir so leid, das war nicht sehr galant von mir«, sagte er, als er fertig war. »Bitte verzeih mir.«
»Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte sie, denn selbst wenn es sie nicht völlig befriedigt hatte, war es doch gut gewesen.
»Außerdem habe ich dein Kleid zerknittert«, sagte er und sah besorgt aus.
»Das gibt sich wieder.« Sie lachte. »Gehen wir jetzt in dein Bett, oder soll ich wieder in meins gehen?«
»Bitte bleib bei mir«, sagte er und küsste sie erneut. »Ich möchte dir beweisen, dass ich ein zärtlicher Liebhaber sein kann.«