11
»Land in Sicht!«
Bei dem aufgeregten Ruf eines ihrer Mitreisenden aus dem Zwischendeck holte Beth sofort ihren Mantel und reihte sich in die vielen Leute ein, die an Deck drängten. Es war früher Nachmittag, acht Tage nach ihrer Abreise aus Liverpool, und es kam ihr komisch vor, dass selbst die, die die ganze Reise seekrank gewesen waren, sich plötzlich stark genug fühlten aufzustehen.
Es regnete heftig, und die Sicht war schlecht, und alles, was Beth erkennen konnte, war eine etwas dunklere Linie am Horizont, doch das schien keinen zurück in die Wärme unter Deck zu bewegen. Um sich herum konnte sie hören, wie die Leute sich gegenseitig fragten, wie lange es noch dauern würde, bis sie ankamen, und dann diskutierten, was sie als Erstes tun würden, sobald die Einwanderungsformalitäten erledigt waren.
Nachdem sie fast die ganze Reise über das Deck für sich allein gehabt hatte, fühlte es sich komisch an, von so vielen Menschen bedrängt zu werden. Sam war nicht da – sie nahm an, dass er bei Annabel war –, und sie konnte auch Jack nirgends sehen. Um nicht zerdrückt zu werden und um sich einen Platz zu suchen, von wo aus sie einen Blick auf das Land erhaschen konnte, bahnte sie sich einen Weg durch die Menge bis zu der Absperrung, die sie von der ersten Klasse trennte.
Dort, direkt auf der anderen Seite der Absperrung, stand zu ihrer Überraschung Clarissa mit einem Gentleman unter einem Regenschirm zusammen.
Beth hatte sie im Dunkeln zwar nur kurz gesehen, aber sie wusste ohne jeden Zweifel, dass es Clarissa war, sogar noch bevor sie sie sprechen hörte. Sie trug einen langen, hellbraunen Pelzmantel und einen passenden Hut. Ein paar blonde Haarsträhnen flatterten im Wind um ihr Gesicht.
Beth sah weiter geradeaus, aber ihre Augen huschten zur Seite, um die Frau zu betrachten. Sie war das, was die meisten Leute eine klassische Schönheit nennen würden: Sie hatte ein ovales Gesicht, Porzellanhaut, eine perfekte gerade Nase und hohe Wangenknochen. Beth konnte ihre Augen nicht genau sehen, aber sie nahm an, dass sie blau waren. Doch ihr Aussehen war nicht so interessant wie die Art, wie sie mit ihrem Begleiter umging. Er hielt den Regenschirm mit einer Hand über ihren Kopf, aber sie hatte sich besitzergreifend bei ihm untergehakt und blickte ihm jedes Mal, wenn er etwas sagte, direkt in die Augen.
Beth nahm an, dass er ein weiterer Verehrer war, weil er nicht zu dem Bild des alten, korpulenten Mannes passte, das sie sich in Gedanken von dem Ehemann dieser Frau gemacht hatte. Er war um die vierzig und groß, mit einem kleinen Kinnbart und einem gepflegten Schnurrbart und so aufrecht und schlank wie ein Gardist in seinem schicken dunkelblauen Mantel mit Astrachan-Kragen. Ungewöhnlicherweise trug er keinen Hut, und sein braunes Haar war wellig und voll. Obwohl er nicht so umwerfend attraktiv war wie der andere Mann, den Beth gesehen hatte, war sein Gesicht doch hübsch und sympathisch, und er lachte über etwas, das Clarissa zu ihm sagte.
»Ich fürchte, mir fliegt gleich der Regenschirm weg«, hörte Beth ihn sagen, als ein Windstoß diesen fast umstülpte und er sich anstrengen musste, ihn nicht zu verlieren.
»Ich habe dir doch gesagt, mein Schatz, dass es ein Fehler ist, ihn mit nach draußen zu nehmen«, erwiderte Clarissa und lächelte ihn liebevoll an. »Regenschirme gehören nicht auf Schiffe, sondern in die Stadt.«
»Soll ich meine wunderschöne Frau nass werden lassen?«, rief er lächelnd.
Beth war so überrascht darüber, dass dies der betrogene Ehemann war, dass sie fast den Kopf herumriss und das Paar anstarrte, aber sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig und sah weiter geradeaus zum Horizont.
»Es wäre sicher besser gewesen, wenn wir uns das Land vom Salon aus angesehen hätten, so wie ich es vorgeschlagen hatte«, hörte sie Clarissa sagen.
»Vielleicht besser, aber hier draußen ist es doch viel aufregender«, erwiderte ihr Mann und winkte mit einer Hand den Passagieren des Zwischendecks. »Sieh sie dir an, wie sie beim ersten Anblick von Amerika schreien.«
Beth wusste, es hätte sie abstoßen müssen, dass diese Frau so wenig von ehelicher Treue hielt. Offensichtlich war ihr Ehemann kein Monster, und sie hatte nur mit den Gefühlen des hübschen jungen Mannes gespielt. Doch sie war eher enttäuscht und traurig, dass der andere Mann sehr verletzt sein würde.
Ein paar Minuten später lichteten sich Nebel und Regen gerade genug, um das Land undeutlich erkennen zu können, und das lenkte Beth von Clarissa und ihrem Liebhaber ab.
Zu ihrer Enttäuschung erfuhren die Passagiere, dass sie heute Abend noch keinen Fuß auf New Yorker Boden setzen würden, denn das Schiff musste im Hudson River vor Anker liegen, bis der Mann von der Einwanderungsbehörde an Bord kam. Es hieß, er müsse überprüfen, ob es Krankheiten auf dem Schiff gebe, und dann – vorausgesetzt, es war alles in Ordnung – würde man ihnen am folgenden Morgen einen Liegeplatz in den New Yorker Docks zuweisen.
Die ruhigere See und die Freude darüber, dem Ziel so nah zu sein, heilten die Seekranken sofort, und alle wollten, dass ihr letzter Abend ein denkwürdiger war. Selbst Miss Giles, die mit Adlerlaugen über die ihr anvertrauten Frauen gewacht hatte, ließ in ihrer Wachsamkeit nach.
Als der übliche Kessel mit Stew zum Abendessen heruntergebracht wurde, kam es fast zu Handgreiflichkeiten, weil alle zuerst etwas haben wollten. Einige Passagiere hatten seit Liverpool nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim und trockenes Brot gegessen und waren jetzt schrecklich hungrig.
Beth traute ihren Augen kaum, als sie sah, wie die Leute über die graubraune, fettige Brühe mit dem wenigen darin herumschwimmenden Gemüse und den extrem knorpeligen Fleischstücken herfielen. Sie hatte sich jeden Abend gezwungen, etwas von dem ekelerregenden Gebräu zu essen, weil es nichts anderes gab, aber sie sahen alle aus, als würden sie es wirklich mögen.
Als die Mahlzeit vorüber war, wurden die Geige, die Löffel und die Mundorgeln herausgeholt, und das Singen, Tanzen und Trinken begann. Jack hatte eine Flasche Whiskey und bot sie Beth an. Sie nahm einen Schluck und zuckte zusammen, als er in ihrer Kehle brannte, doch sie war entschlossen, etwas zu wagen, und nahm noch einen Schluck, den sie einfacher herunterbekam.
Vielleicht lag es nur am Whiskey, aber an diesem Abend fühlte Beth sich wie ein Schmetterling, der sich aus seinem Kokon befreit hatte. Allein die Anzahl der jungen Männer, die mit ihr tanzen wollten, bewies, dass sie attraktiv war; sie blickte aufgeregt und optimistisch auf das Abenteuer, das sie am Morgen erwartete. Obwohl sie wusste, dass sie Molly in den kommenden Wochen schrecklich vermissen würde, wurde ihr plötzlich klar, dass es ihr nicht leidtat, England verlassen zu haben.
»Hol deine Geige raus und spiel, Beth«, drängte Sam sie.
Sie versuchte sich zu weigern, weil sie noch nie öffentlich gespielt hatte und befürchtete, dass sie nicht so gut war wie der alte Mann. Aber Sam ließ nicht locker, und bald forderten sie auch alle anderen Leute um sie herum auf zu spielen.
Beth hatte immer nach Gehör gespielt, obwohl sie durch das Klavierspielen Noten lesen konnte, und so hörte sie sich ein paar Takte der Melodie an, die der alte Mann angestimmt hatte, als sie mit ihrem Instrument zurückkam, und als sie glaubte, sie ebenfalls zu können, stimmte sie in das Stück mit ein.
Es war viel schneller, als sie es gewohnt war, doch es fühlte sich richtig an, es war die Art, wie man eine Geige spielen sollte. Ihre Finger bewegten sich rasend schnell über die Saiten, und ihr Bogen ließ die Geige singen. Sie bewegte ihren ganzen Körper im Rhythmus, schloss die Augen und ging ganz in der Musik auf.
Sie spürte die Begeisterung ihres Publikums eher, als dass sie sie sah: Das Stampfen der Füße wurde lauter, und die Tänzer stießen Freudenschreie aus. Auf einmal wusste sie, dass sie genau dafür gemacht war: um schnelle, fröhliche Musik zu spielen, die sie und die um sie herum an einen besseren Ort brachte. Sie vergaß, dass sie sich auf einem Schiff umgeben von schmutzigen, blassen Leuten befand, und fühlte sich, als würde sie barfuß im hellen Sonnenschein über eine Wiese voller Butterblumen tanzen.
Als die Melodie endete, öffnete sie die Augen wieder und sah, dass sie alle mit an diesen Ort genommen hatte. Ihre Augen strahlten, sie grinsten breit, und Schweiß bedeckte ihre Gesichter.
»Du kleine Zigeunerin!«, rief ein Mann in der Menge. »Das war mit Sicherheit die beste Geigenmusik, die ich außerhalb von Dublin gehört habe!«
Beth spielte noch ein paar Mal, bevor sie die Geige weglegte und mittanzte. Es ging noch wilder zu als am ersten Abend, die Musik war lauter, und während sie in einer schnellen Polka herumgewirbelt wurde, lachte sie vor purer Lebensfreude.
Sam kam immer wieder an ihr vorbei, jedes Mal mit einem anderen Mädchen im Arm. Sein breites, zufriedenes Lächeln sagte ihr, dass er sich über ihre Ausgelassenheit freute, und das hob ihre Stimmung noch weiter. Ihr wurde klar, dass er vermutlich nicht sicher gewesen war, ob sie ihre brave Art jemals ablegen würde, und vielleicht hatte er sogar befürchtet, dass sie eine Belastung für ihn sein könnte.
Da schwor sie sich, ihm zu beweisen, dass sie das Leben genauso bewältigen konnte wie ein Mann, und sich mit ganzem Herzen in das große Abenteuer zu stürzen.
Ein paar Stunden später floh Beth vor dem Pfeifen- und Zigarettenqualm und der Anzahl der schwitzenden Körper an Deck, um frische Luft zu schnappen.
Während sie die Treppe hinaufging, wurde ihr zu ihrer Bestürzung klar, dass sie ein bisschen beschwipst war, denn sie hatte Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu koordinieren. Als sie fast nach hinten gefallen wäre, spürte sie zwei Hände, die sich um ihre Hüften legten und sie festhielten.
Es war Jack.
»Ganz ruhig, Mädchen«, sagte er. »Wenn du wirklich unbedingt an Deck willst, dann begleite ich dich lieber.«
Als sie schließlich oben standen, fühlte sich die kalte frische Luft wunderbar an. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war klar und voller Sterne, und silbernes Licht schimmerte auf dem Meer.
»Das ist besser«, seufzte sie und holte tief Luft. »Wie schön das alles aussieht.«
»Das tut es«, stimmte Jack ihr zu. »Die See sieht aus wie schwarzer Satin, und sieh dir den Mond an!«
Es war nur eine Sichel, aber sie wirkte viel näher und heller, als Beth es jemals in Liverpool gesehen hatte. Sie setzten sich auf eine Backskiste und blieben dort für eine Weile in kameradschaftlichem Schweigen sitzen. Eine Kapelle spielte im Salon der ersten Klasse, und jetzt, wo sie den Hudson River hinauffuhren, war es viel wärmer als auf See, so viel wärmer, dass mehrere andere Paare heraufgekommen waren und in einiger Entfernung an Deck standen.
»Du bist ein stilles Wasser«, meinte Jack und grinste sie an. »Du hast mir nie erzählt, dass du so spielen kannst. Ich dachte, dass du nur diese kreischende Kammermusik machst, als ich den Geigenkasten sah.«
»Es ist eine irische Geige«, entgegnete Beth lächelnd. »Ich glaube nicht, dass sie etwas anderes spielt als Jigs. Meine Mutter war nie begeistert davon; sie fand immer, es sei Wirtshausmusik.«
»Du wirst immer Arbeit finden, wenn du so spielen kannst«, meinte Jack. »Aber wohin werdet ihr morgen gehen? Habt ihr schon Pläne?«
»Ich glaube, Sam schon«, antwortete sie. »Wie steht’s mit dir?«
»Ich werde zu meinem Freund gehen«, erwiderte er. »Ich glaube nicht, dass es ein toller Ort ist, so eine Art Pension, aber es wird reichen, bis ich Arbeit gefunden habe.«
»Und was für Arbeit wird das sein?«
»Alles, was gut bezahlt ist«, sagte er. »Ich wünschte nur, ich hätte ein Talent wie deins. Die Leute werden sich darum reißen, dich zu engagieren.«
»Mich engagieren?«, rief sie. »Um Geige zu spielen?«
»Ist es nicht das, was du tun willst?« Er sah verwirrt aus.
»Ich dachte, ich suche mir eine Stelle als Hauswirtschafterin oder als Verkäuferin, so wie zu Hause«, sagte sie.
Jack lachte schnaubend. »Na ja, das wäre aber ganz schön dumm, wenn du mit so einem Talent aufwarten kannst.«
»Aber die werden doch keine Frau engagieren, oder?«
»Das ist doch eine noch größere Attraktion«, widersprach Jack. »Vor allem bei einer so hübschen wie dir.«
»Danke, Jack«, sagte sie und wurde ein bisschen rot.
»Ich komme gerne und höre dir zu, aber ich glaube nicht, dass du mich noch kennen willst, wenn du erst in den schicken Etablissements verkehrst.«
»So ein Unsinn«, erklärte Beth entrüstet.
»Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin zu hässlich für jemanden wie dich. Deine Freunde werden mein vernarbtes Gesicht ansehen und glauben, dass ich der Falsche bin.«
»Wo hast du die her?«, fragte sie und streckte die Hand aus, um die Narbe sanft zu berühren.
»Das war mein Pa. Er schlug Ma, ich versuchte ihn aufzuhalten, und er nahm sich ein Messer und verletzte mich damit. Deshalb verließ ich London. Ich konnte nicht mehr.«
»Wenn du sie bekommen hast, weil du deine Mutter verteidigen wolltest, dann musst du dich dafür nicht schämen«, sagte Beth und küsste seine Narbe.
Plötzlich legten seine Arme sich um sie, und er küsste sie.
Beth war überrascht, aber nicht unangenehm. Jacks Lippen waren weich und warm; sie mochte die Art, wie seine Hände ihr Gesicht streichelten, und den Schauer, der ihr über den Rücken lief. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schmiegte sie sich in seine Arme und legte ihre um seinen Hals.
Als sich seine Zunge zwischen ihre Lippen schob, fand sie, dass er zu weit ging, aber es fühlte sich gut an, und sie wollte den Kuss nicht unterbrechen. Er atmete schwer, hielt sie fester und fester, und erst da wurde ihr klar, dass sie mehr nicht zulassen durfte.
»Wir sollten jetzt zurückgehen«, sagte sie, als sie sich von ihm löste und aufstand. »Wir müssen morgen früh raus, und es liegt noch so viel vor uns.«
»Ich will dich niemals mehr gehen lassen«, flüsterte er. »Du bist so wunderschön.«
Beth lächelte und tätschelte sein Gesicht. »Das ist süß von dir, aber du siehst mich doch morgen.«
»Ich würde alles für dich tun«, sagte er und hielt sie an den Schultern fest. »Alles!«
Als Beth wieder unter Deck kam, war die Party zu Ende. Ein paar betrunkene Männer torkelten herum, aber die Frauen und Kinder lagen im Bett. Im Frauenquartier warteten Maria und Bridie auf Beth; offenbar hatte ihnen jemand berichtet, dass sie mit Jack gesehen worden war.
»Bist du mit ihm zusammen?«, flüsterte Bridie, und auf ihrem sommersprossigen Gesicht erschien ein neugieriger Ausdruck.
»Nein, zumindest glaube ich das nicht«, erwiderte Beth, zog sich schnell das Kleid und die Schuhe aus und schlüpfte ins Bett. Sie hatte keine Ahnung, ob man mit jemandem zusammen war, nur weil man ihn geküsst hatte. Sie mochte Jack, aber er war auch der einzige Mann, den sie auf dem Schiff kennengelernt hatte. Vielleicht würde sie ja jemand Passenderen kennenlernen, wenn sie an Land gingen.
»Hat er dich geküsst?«, flüsterte Maria.
»Ja.«
»Wie war es?«, wollte Maria wissen.
»Schön«, flüsterte Beth zurück. »Aber ich habe keinen Vergleich, weil es das erste Mal war.«
»Du bist noch nie geküsst worden?«, fragte Bridie ungläubig.
Miss Giles kam herein, um nachzusehen, ob alle im Bett lagen, deshalb blieb Beth eine Antwort darauf erspart.
Sie tat so, als wäre sie eingeschlafen, nachdem Miss Giles gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit geschlossenen Augen durchlebte sie noch einmal Jacks Küsse und erinnerte sich wieder und wieder an das herrliche Gefühl.
»Was passiert jetzt?«, wollte Beth von Sam wissen. Es war zehn Uhr morgens, und der Tag war klar und sonnig. Sie waren bei Tagesanbruch aufgewacht, als die Schiffsmotoren wieder ansprangen, und jemand schrie, dass es Zeit sei, an Land zu gehen.
Plötzlich herrschte völliges Chaos im Zwischendeck, weil alle hastig ihre Sachen zusammenpackten. Selbst die Rufe der Mannschaft, dass es noch mehrere Stunden dauern würde, bis sie das Schiff verlassen konnten, dämmten die Massenpanik nicht ein.
Beth wurde ebenfalls davon ergriffen und rannte an Deck, um sich selbst zu überzeugen.
Vor ihr lag New York, und es sah genauso aus wie auf einem Bild, das sie in einer Zeitschrift gesehen hatte. Sie konnte die Turmspitze der Trinity Church erkennen, von der sie wusste, dass sie den Schiffen als Orientierungspunkt diente, weil sie das höchste Gebäude war.
Sie war fasziniert. Der Kirchturm mochte das höchste Gebäude sein, aber alle anderen wirkten ebenfalls bemerkenswert hoch. Allein die Anzahl der Schiffe erstaunte sie. Zahllose Landungsstege ragten in den Fluss, den ein Matrose den East River genannt hatte. Offenbar lag der Hudson, auf dem sie am Abend zuvor gefahren waren, auf der anderen Seite der Insel, und an jeder einzelnen Mole lag ein Schiff. Obwohl es noch so früh war, bevölkerten alle möglichen Arten von Karren, Wagen und Kutschen den Kai, und Hunderte von Männern luden Waren aus oder ein.
Als sie näher kamen, schwoll der Lärm von Fässern, die über das Kopfsteinpflaster gerollt wurden, von Pferdehufen, Wagenrädern, Schiffsmotoren und Stimmen immer mehr an, und als Beth den Blick vom Kai abwandte, sah sie Tausende von Booten aller Art, von Schleppern bis hin zu alten Segelschiffen, draußen auf dem Fluss. Als sie wieder in die Richtung sah, aus der sie gekommen waren, erkannte sie die Freiheitsstatue, die sie von Bildern kannte. Aber nichts hatte sie darauf vorbereitet, wie riesig sie über dem Hafen thronte und welche Gefühle sie in ihr weckte.
Sie erinnerte sich an ein Gedicht, das ihr Lehrer einmal rezitiert hatte. Beth wusste nicht mehr, ob es darin um die Statue oder um Amerika generell gegangen war, aber der Teil, der ihr im Gedächtnis geblieben war, passte auf beides: »Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten.«
Beth sah sich selbst, Sam oder irgendjemand anderen auf dem Schiff nicht als »elenden Unrat«, aber sie nahm an, dass die Frau, von der das stammte, viele Tausend Menschen aus ganz Europa durch die Einwanderungshallen hatte hinken sehen. Mit ihren zerschlissenen Koffern, ihren verhärmten Gesichtern und ihren schäbigen Kleidern sahen sie vermutlich wie solcher Unrat aus, obwohl sie fand, dass eine Dichterin ein freundlicheres Wort hätte finden können.
Die Brooklyn Bridge war ebenfalls viel größer und länger, als sie erwartet hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie jemand auf den Gedanken gekommen war, etwas so Riesiges über einen Fluss zu bauen.
Kurz bevor sie wieder unter Deck ging, um auf die Nachricht zu warten, dass sie das Schiff verlassen konnten, fragte sie sich, was die Stadt wohl noch für unglaubliche Anblicke bereithielt, wenn der Hafen schon so beeindruckend war.
»Offenbar sind die erste und zweite Klasse zu fein für die Einwanderungsbehörde«, sagte Sam später missbilligend, als er und Beth zusahen, wie die Gangways heruntergelassen wurden und die Leute aus den besseren Klassen fröhlich darüberliefen, die meisten gefolgt von Gepäckträgern, die mit ihren Koffern beladen waren. »Wir werden mit einer Fähre nach Ellis Island gebracht und überprüft. Wenn wir ihnen nicht gefallen, dann schicken sie uns zurück nach England.«
»Sie werden uns nicht zurückschicken«, versicherte Beth ihm. »Wir sind stark und gesund.«
»Ich habe keine Angst, dass sie uns zurückschicken. Es wird nur unendlich lange dauern, bis wir durch sind. Sieh dir an, wie viele Schiffe hier sind, alle voll mit Einwanderern. Es wird schwer sein, heute Abend noch eine Unterkunft zu finden, wenn es erst dunkel ist.«
Um vier Uhr nachmittags wurde Beth sehr nervös, denn die Schlange von Leuten, die von der Einwanderungsbehörde befragt werden sollte, schien sich überhaupt nicht zu bewegen. Es war fast zwölf gewesen, als die Fähre sie zu der Insel und dem riesigen Gebäude aus Kiefernholz gebracht hatte, in dem sie »bearbeitet« werden sollten. Sie hatte von einem Matrosen auf der Fähre gehört, dass dieses Gebäude erst 1892 eröffnet worden war, aber es war überfüllt mit Tausenden von Leuten mit ungewaschenen Körpern, und wegen der schlechten Belüftung, ihres vor Hunger knurrenden Magens und ihrer vom langen Stehen schmerzenden Beinen fühlte Beth sich darin wie in einer Folterkammer aus alter Zeit.
Es war auch so laut – Tausende von Stimmen redeten gleichzeitig, und viele davon in fremden Sprachen. Und man konnte die unterschwellige Angst spüren, die hier herrschte, weshalb vielleicht so viele kleine Kinder weinten. Durch die Reihen verbreitete sich die Nachricht, dass man sie nicht nur befragen, sondern auch medizinisch untersuchen würde, und obwohl das Beth und Sam keine Sorgen bereitete, war es offensichtlich, dass viele dies fürchteten.
»Belastung für die öffentliche Hand« war ein Ausdruck, den Beth immer wieder von den Leuten hörte. Sie nahm an, dass die Beamten jedem den Zugang verwehrten, der vielleicht eine werden könnte. Sie sah ein runzliges altes Paar, das aussah, als könne es sich kaum noch auf den Beinen halten, und hoffte, die beiden konnten beweisen, dass sie eine Familie hatten, die sich um sie kümmern würde. Es gab ganze Familien, die so schrecklich arm wirkten, dass man ihnen mit Misstrauen begegnen würde, und was sollte aus denen werden, die dünn und blass aussahen und viel husteten? Litten sie vielleicht an Tuberkulose?
Als Beth endlich dem Arzt vorgeführt wurde, war sie ganz schwach vor Hunger und Durst, aber der Arzt musterte sie nur von oben bis unten und winkte sie weiter. Die Fragen waren sehr einfach: Wie viel Geld sie dabeihabe, was für eine Arbeit sie sich suchen wolle und noch ein paar andere, die offensichtlich darauf abzielten, herauszufinden, ob sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war.
Nachdem sie so lange auf das Interview gewartet hatte, kam es ihr absurd kurz vor, fast enttäuschend. Sie wurde weitergewunken, gefolgt von Sam, und plötzlich realisierte sie, dass alles vorbei war. Sie waren anerkannt worden und konnten jetzt mit der Fähre in die Stadt fahren.
Die Stunden auf Ellis Island waren schrecklich, frustrierend und ermüdend gewesen, und sie hatten erwartet, dass alles gut werden würde, wenn sie das erst hinter sich hatten. Aber als sie die Gangway von der Fähre hinunter auf den Anleger in New York gingen, bekam Beth furchtbare Angst.
Es war jetzt nach acht Uhr abends, es war dunkel und kalt, und es fühlte sich an, als wären sie kopfüber in einen Strudel geraten: Tausende von verwirrten, mit Gepäck beladenen Menschen und um sie herum die Schakale, die entschlossen waren, sie um einen Teil ihres Geldes zu bringen.
Einschüchternde vierschrötige Männer mit karierten Anzügen und Homburg-Hüten bahnten sich ihren Weg durch die Menge und boten den Leuten an, ihr Geld in Dollar umzutauschen und ihnen ein Hotelzimmer oder ein Bus- oder Bahnticket zu besorgen. Es gab zerlumpte, barfüßige Straßenkinder, die an ihren Kleidern zogen und um Geld bettelten oder anboten, ihre Taschen zu tragen, und eine riesige schwarze Frau mit einem Turban auf dem Kopf, die versuchte, sie in ein Restaurant zu lotsen, um dort etwas zu essen. Ein korpulenter Mann mit Gehrock und Zylinder stellte sich ihnen in den Weg und erklärte, dass er ihnen für ein kleines Entgelt eine »elegante Wohnung« besorgen könne.
Beth wäre vielleicht versucht gewesen, einem von ihnen zu vertrauen, denn sie war hungrig, und sie fror, wollte sich mehr als alles andere auf der Welt hinsetzen und eine Tasse Tee trinken, aber Sam, der ihr Gepäck trug, zog sie weiter. Er drängte all die Hausierer beiseite und warnte sie, gut auf ihre Geige aufzupassen.
»Annabels Vater hat mir von einem Hotel erzählt, zu dem wir gehen sollen«, sagte er. »Wir verschwinden hier und suchen uns etwas zu essen, dann nehmen wir uns eine Droschke zum Hotel.«
»Was ist mit Jack?«, fragte sie, denn sie hatte sich umgewandt und gesehen, dass er versuchte, zu ihnen aufzuschließen.
»Jack kommt allein zurecht«, erklärte Sam scharf.