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JUNI 1897
»Hör jetzt endlich auf damit, Schwesterchen, ich bin es so leid, dein trauriges Gesicht zu sehen!«
Beth wurde rot vor Scham, denn Sams Stimme schien durch den gesamten Bahnhof zu hallen.
»Warum schreist du nicht noch ein bisschen lauter?«, gab sie sarkastisch zurück. »Ich bin sicher, die Leute ganz hinten hätten es auch gerne gehört.«
»Tut mir leid«, sagte er verlegen. »Mir war nicht klar, dass ich schreie. Aber es scheint schon Jahre her zu sein, seit ich dich lachen gehört oder aufgeregt über etwas gesehen habe. Wir sind jetzt durch ganz Kanada gereist und haben so viel gesehen; heute Abend kommen wir in Vancouver an, also kannst du nicht ein bisschen fröhlicher sein?«
»Böden zu schrubben, abzuwaschen und zu kellnern waren keine besonders aufregenden Tätigkeiten«, gab sie spitz zurück. »Wenn du mir garantieren kannst, dass es in Vancouver besser wird, dann fange ich vielleicht wieder an zu lachen.«
»Vielleicht bekommst du dort die Chance, wieder Geige zu spielen.«
Beth zwang sich zu lächeln. »Vielleicht, aber entschuldige, wenn ich mich nicht darauf verlasse.«
Die Fehlgeburt lag jetzt vier Monate zurück, und körperlich hatte sie sich innerhalb einer Woche davon erholt. Aber zu hören, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte, war ein schwerer Schlag für sie gewesen. Manchmal blieb sie den ganzen Tag im Bett, es war ihr egal, ob das Zimmer dreckig oder unordentlich war, und wenn sie ausging, dann redete sie mit kaum jemandem.
Theo hätte während der ersten drei oder vier Wochen nicht netter sein können. Er brachte ihr Delikatessen, Stärkungsmittel, frische Früchte und Schokolade mit, er fuhr mit ihr in einem Pferdeschlitten zum Mount Royal hinauf, und er kaufte ihr ein neues Kleid in einem der besten Läden an der Sherbrooke Street. Viele Abende blieb er bei ihr, und nur deshalb verfiel sie nicht in Melancholie.
Sie war froh, als die Männer vorschlugen, weiterzuziehen. Vielleicht würde sie wieder sie selbst sein, wenn sie neue Landschaften sah und neue Leute kennenlernte.
Ende März verließen sie Montreal mit dem Zug, als es noch sehr kalt und der Fluss noch immer zugefroren war, aber der Frühling bereits Einzug hielt. Theos Theorie war, dass die neue Eisenbahnlinie, die durch ganz Kanada bis nach Vancouver führte, einige aufblühende Städte entlang des Weges geschaffen haben musste. Er hatte insofern recht, dass überall, wo der Zug hielt, Kleinstädte entstanden waren, aber dort eröffneten sich ihnen nicht die Möglichkeiten, auf die Theo gehofft hatte.
Ein Saloon, der in der Regel auch ein Hotel war, Lebensmittel-, Bekleidungs- und Werkzeugläden, ein Holzhof, Ställe und eine Schmiede waren so ziemlich alles, was diese Städte zu bieten hatten. Die Einwanderer, die an diesen abgelegenen Orten Farmland gekauft hatten, waren nüchtern, fleißig und bieder, keine Menschen, die ihr hart verdientes Geld verspielten. Beth fand, dass man in diesen Städten nur ein Vermögen machen konnte, wenn man Ballen mit Stoff, Hüte oder andere Luxusgüter herschaffte, denn die meisten Frauen hungerten hier nach irgendetwas Hübschem zum Anziehen.
Doch Montreal zu verlassen, hatte ihr gutgetan. Sie hatte aufgehört, darüber nachzudenken, dass sie niemals ein Kind haben würde, und die Energie aufgebracht, wieder zu arbeiten, wenn die Gelegenheit sich bot. Sie gab sich wieder Mühe mit ihrem Aussehen und übte wieder Geige.
An den meisten Orten, an denen sie länger blieben, gelang es den Männern meist leicht, irgendeinen Job zu finden, auf Farmen, in Holzfällercamps oder in Sägewerken. In einer Stadt hatte Sam einem Schuster ausgeholfen und fast vierzig Dollar verdient. Aber für Beth gab es nur Putzen, Waschen und gelegentliche Farmarbeit wie Säen oder Unkrautjäten. Manchmal musste sie allein in einem gemieteten Zimmer bleiben, während die Männer in den Baracken an ihrem Arbeitsplatz schliefen, deshalb war sie auch einsam.
Sie hatte ein paar Mal in den Saloons Geige gespielt, aber obwohl sie viel Applaus bekam, warf das Publikum als Anerkennung nur wenige Cent in den Hut. Es war schwer, nicht an New York oder Philadelphia zu denken und daran, wie gut es sich angefühlt hatte, von dem leben zu können, was sie am meisten liebte. Sie hatte Angst, dass sie niemals wieder die Chance dazu bekommen würde.
Doch trotz aller Enttäuschungen, Entbehrungen und Sorgen war es, wie Sam gesagt hatte, eine unglaubliche Reise mitten durch dieses riesige Land gewesen, und die atemberaubend schöne Landschaft hatte sie nach jeder Kurve erneut sprachlos gemacht: schneebedeckte Berge, riesige Seen und Kiefernwälder, wilde Wasserfälle und Prärien, die sich fast endlos ausdehnten. Sie konnte kaum glauben, dass ihre Welt früher auf die Church Street in Liverpool beschränkt und dass ein Park ihre Vorstellung von einem offenen Platz gewesen war.
Der Grund, warum sie heute so ein langes Gesicht machte, war einfach nur Müdigkeit. Sie war ihr Nomadenleben leid, war es leid, sich einer neuen Stadt zu nähern und die aufgeregte Vorfreude der Männer zu sehen, nur um ein paar Tage später enttäuscht weiterzuziehen. Sie konnte keinen Enthusiasmus für Vancouver mehr aufbringen, denn sie war sicher, dass es dort nicht anders sein würde als an den übrigen Orten.
Theo war überzeugt davon, dass hier alle seine Träume wahr werden würden. Er stand mit Jack auf der Aussichtsplattform am Ende des Waggons, und Beth bezweifelte nicht, dass sie mal wieder über ihren Traum-Spielsalon sprachen.
Sie wusste, dass Jack und Theo sich nach ihrer Fehlgeburt geprügelt hatten, denn sie hatte den Bluterguss auf Theos Wange gesehen. Doch welche Animositäten auch dazu geführt hatten, inzwischen waren sie die besten Freunde, und Jack hatte sich auf dieser Reise als sehr wertvoll erwiesen. Wenn es um harte körperliche Arbeit ging, dann konnte ihm niemand das Wasser reichen, denn er war sehr stark und geschickt. Er sprang für Theo und Sam ein, wenn sie nicht mehr konnten, und seine beeindruckende Erscheinung hielt potenzielle Unruhestifter davon ab, sich mit ihnen anzulegen.
Alle drei waren jetzt muskulöser und fitter und auch attraktiv mit ihren sonnengebräunten Gesichtern. Selbst wenn Beth ihre jungenhafte Vorfreude auf Vancouver nicht teilte, war sie doch froh, bei ihnen zu sein.
»Das genügt doch, oder?« Jack sah nervös aus, als er Beth in die Zimmer führte, die er für sie in Gas Town gefunden hatte.
Sie waren früh am Morgen in Vancouver angekommen, deshalb hatten sie im Warteraum des Bahnhofs gedöst, bis es hell wurde. Jack war alleine losgegangen, während sie frühstückten, und eine Stunde später mit der Nachricht zurückgekehrt, dass er diese Unterkunft gemietet hatte, nur ein paar Straßen vom Bahnhof entfernt.
»Ja, es genügt, Jack«, erwiderte Beth, zu müde, um noch daran interessiert zu sein, wie es hier aussah. Es gab zwei Zimmer, fleckige Matratzen auf den Betten, einen Stuhl mit nur drei Beinen, einen Gasherd und ein Waschbecken in der Ecke des hinteren Zimmers, von dem aus man auf die Docks blickte. Aber sie hatten schon an viel schlimmeren Orten gehaust.
»Es war die beste Unterkunft von denen, die ich mir angesehen habe«, erklärte Jack angespannt. »Vielleicht finden wir woanders etwas Besseres, aber man hat mir gesagt, dass in Gas Town die ganzen Saloons und Spielsalons liegen, und es scheint genau unser Viertel zu sein. Ich wette, hier haben sie nichts gegen hübsche Geigenspielerinnen.«
Beth war gerührt, dass er an sie gedacht hatte, und lächelte müde. »Das hast du gut gemacht, Jack. Aber du machst es ja immer gut, egal, was du tust.«
In diesem Moment kamen Theo und Sam die Treppe hinauf. Theo rümpfte die Nase, und Sam grinste angespannt. »Warum kriegen wir eigentlich immer nur so trostlose Zimmer? Man würde doch denken, dass wir irgendwann mal über eine anständige Wohnung stolpern«, sagte er.
Beth fühlte sich verpflichtet, die Männer aufzumuntern. »Zumindest ist es ein ziemlich neues Haus. Ich habe gesehen, dass sie sogar innen liegende Toiletten und ein Badezimmer haben, als wir die Treppe raufkamen. Ich kann die Zimmer für uns herrichten, es wird uns hier gut gehen.«
»Wenn du glücklich bist, dann werden wir es alle sein«, sagte Theo. Er ging hinüber zum Fenster und sah hinaus. »Wir haben hier einen guten Blick auf die Schiffe, und wenn wir feststellen, dass Gas Town nicht nach unserem Geschmack ist, dann können wir mit einem davon irgendwohin fahren.«
»Solange es nicht nach Norden geht«, entgegnete Beth, während sie ihre Reisetasche öffnete, um auszupacken. »Ich habe genug von Kälte und Schnee.«
Als Beth später aufwachte, hörte sie von irgendwoher in der Nähe Banjomusik. Sie war schnell und leidenschaftlich und erinnerte sie an einen schwarzen Banjospieler, der in Philadelphia auf den Straßen gespielt hatte. Das schien ein sehr gutes Omen zu sein.
Sie hatten sich alle vier vollständig angezogen auf die nackten Matratzen gelegt und geschlafen, aber das musste schon Stunden her sein, denn sie konnte an der tief stehenden Sonne erkennen, dass jetzt schon früher Abend war.
Theo lag an ihren Rücken geschmiegt und schlief fest, und sie löste sich von ihm, plötzlich voller Energie und entschlossen, den Raum in ein Zuhause für sie zu verwandeln.
Sie rollte ihr Bündel mit Bettzeug aus, hängte ihre Kleider in den Schrank und zog gerade den Tisch zum Fenster hinüber, als Theo aufwachte.
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte er und beobachtete, wie sie ein kariertes Tischtuch auf dem Tisch ausbreitete. »Bedeutet das, du fühlst dich zu Hause?«
»Ich fühle mich überall da zu Hause, wo du bist«, neckte sie ihn. »Und jetzt schaff deinen faulen Kadaver aus dem Bett, damit ich es machen kann.«
Er tat, worum sie ihn bat, aber dann kam er durch das Zimmer und legte die Arme um sie. »Ich habe dir schon so viel zugemutet«, sagte er bedauernd.
Das war eine ziemliche Untertreibung, und wenn sie in der Stimmung gewesen wäre, ihn anzugreifen, dann hätte sie ihm eine lange Liste mit seinen Unzulänglichkeiten aufzählen können, angefangen mit dem unvermeidlichen Alles-oder-Nichts-Lebensstil. Und dann waren da noch sein unerklärtes Fortbleiben, das Flirten mit anderen Frauen und auch seine Unzuverlässigkeit und sein Egoismus. Aber ihr stand nicht der Sinn nach Schuldzuweisungen.
»Nicht alles davon war schlimm.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss begierig, seine Zunge drang in ihren Mund, während er sie an sich presste, und zu ihrer Überraschung stieg echtes Verlangen nach ihm in ihr auf.
Seit der Fehlgeburt hatte sie ihn nicht mehr so begehrt wie vorher. Sie hatte zwar weiterhin mit ihm geschlafen und so getan, als würde es ihr gefallen, um ihn nicht zu verletzen, aber jedes Mal, wenn sie einen Höhepunkt vortäuschte, war sie unendlich traurig gewesen und hatte sich betrogen gefühlt, denn ihr Liebesspiel hatte einen so großen Teil dessen ausgemacht, was gut zwischen ihnen war.
Er setzte sich auf einen Stuhl und zog sie auf seine Knie, sodass sie auf ihm saß, dann öffnete er das Mieder ihres Kleides und entblößte ihre Brüste, um sie zu streicheln und zu küssen. Es fühlte sich gut an, so wie früher, und als eine seiner Hände sich unter ihren Rock und ihren Unterrock schob, um ihre empfindlichste Stelle zu reizen, wusste sie, dass es diesmal kein Vortäuschen geben würde.
Zu wissen, dass Sam und Jack direkt hinter der Tür im angrenzenden Zimmer lagen, während Theo sie immer heftiger erregte, war so erotisch, dass sie schon kam, bevor er seine Hose öffnete und in sie glitt. Der Banjospieler draußen auf der Straße schien sich ihrem Rhythmus anzupassen. Sie warf den Kopf zurück, streckte Theo enthemmt ihre Brüste entgegen und liebte das sinnliche Gefühl, ihn in sich zu spüren.
Er kam mit einem lauten Stöhnen und vergrub seine Finger in ihrem Po. »Das war, als hätte ich tausend Dollar mit einer Karte gewonnen«, flüsterte er an ihrer Schulter. »Ich liebe dich so sehr, Beth.«
Es war schon nach zehn, als die vier das Haus verließen, um etwas zu essen. Sie waren gezwungen gewesen, kalt zu baden, denn das Wasser wurde nur heiß, wenn der Ofen im Keller an war. Aber es hatte sie alle belebt, und Beth fühlte sich nach ihrem Liebesspiel so gut, dass sie über alles lachte, was die Männer sagten.
Sie hatte ihr rotes Satinkleid angezogen, obwohl es von der langen Zeit in der Reisetasche verknittert war. »Ich nehme meine Geige mit«, verkündete sie, als sie die Zimmer verließen. »Ich glaube, heute Abend habe ich Glück.«
Nachdem sie in einem Restaurant in der Nähe gebratenes Hühnchen und Kartoffeln gegessen hatten, gingen sie über die Hauptstraße von Gas Town.
Wenn sie das richtig mitbekommen hatten, dann war Vancouver ursprünglich hier entstanden. 1867 war es nichts weiter als eine Ansammlung von Holzhütten und Lagerhallen neben den Anlegeplätzen gewesen, bis John Deighton, bekannt als Gassy Jack, hier seinen ersten Saloon eröffnet hatte. Die Würdenträger der Stadt wollten die Gegend Granville nennen, aber für die Einwohner blieb es Gas Town.
Nach den beschaulichen ruhigen kleinen Städtchen, die sie während der vergangenen Monate besucht hatten, waren sie hocherfreut darüber, wie aktiv und laut es in Gas Town zuging und dass man hier auch weniger fromme Freuden genoss.
Die Leute strömten mit ihren Drinks aus den Saloons auf die Straßen, und dort gab es Buden mit allen möglichen Arten von Essen, von gebackenen Kartoffeln und Hotdogs bis hin zu Schalen mit Nudeln. Musik erklang aus einem Dutzend verschiedener Richtungen, und betrunkene Matrosen schwankten singend zwischen den Leuten hindurch.
Es gab Werber, die versuchten, die Unachtsamen zu Kartenspielen in dunkle Gassen zu locken, und Huren, die aufreizend an Türen standen. Bettler, Straßenmusikanten, Straßenkünstler und Hausierer trugen zu dem Trubel bei.
Jack blieb vor einem sehr vollen Saloon an einer Kreuzung an der Water Street stehen. »Machen wir uns hier drin bemerkbar«, sagte er grinsend. »Hier gibt es keine Musik, also können wir sie vielleicht überreden, dass sie welche brauchen!«
Während Beth mit Theo an der Tür stand und Jack und Sam an die Bar gingen, um ihnen etwas zu trinken zu holen, dachte sie darüber nach, wie sehr sich die Dynamik in ihrer kleinen Gruppe seit ihrer Abreise aus Philadelphia geändert hatte. Theo war damals ihr unangefochtener Anführer gewesen, wegen seiner starken Persönlichkeit und seiner Herkunft und weil er das meiste Geld besaß. Sam war seine rechte Hand, und Jacks Rolle war fast die eines Dieners gewesen.
Als Theo dann in Montreal so oft verschwand, hatten Jack und Sam begonnen, eigene Entscheidungen zu treffen. Doch selbst da musste Theo nur mit den Fingern schnippen, und sie waren mit seinen Plänen einverstanden gewesen.
Nach ihrer Abreise aus Montreal änderte sich das alles; Theo und Sam waren beide zu feine Stadtmenschen, um sich unter den rauen, starken Farmern, Holzfällern und Bauarbeitern wohlzufühlen, die ihnen begegneten. Aber diese Männer mochten Jack, erkannten in ihm einen der ihren.
Plötzlich war es Jack, der die Entscheidungen traf, und er zog Sam und Theo mit. Bei einigen der Jobs, die sie annahmen, hätten sie keinen Tag ohne Jack durchgehalten, der ihnen half und ihre fehlenden Fähigkeiten überspielte. Sam fing bald an, härter zu werden, und war stolz darauf, neue Dinge zu lernen und mit Jack und den anderen Männern mithalten zu können. Aber Theo war wie ein Fisch auf dem Trockenen; er konnte sich nicht anpassen. Er kam nur durch seinen Charme über die Runden, und Beth hörte, dass die Männer ihn oft abfällig den »englischen Gent« nannten.
Sie fragte sich, ob Theo jetzt, wo sie sich wieder in einer Umgebung befanden, in der er sich wohlfühlte, versuchen würde, wieder der Anführer ihrer Gruppe zu werden.
Jack und Sam kehrten mit den Drinks zurück und grinsten beide breit.
»Wir haben den Wirt gefragt, ob du spielen kannst«, sagte Sam. »Er antwortete: ›Wenn sie sich traut.‹ Und, traust du dich, Schwesterchen?«
Beth nahm ihr Glas Rum, blickte sich in dem vollen Saloon um und trank dann alles in einem Schluck aus. »Versuch, mich davon abzuhalten«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln. Theo reichte ihr den Geigenkasten, und sie öffnete ihn und holte ihr Instrument heraus.
»Wie viel Geld müssen wir dem Wirt geben?«, fragte sie.
»Das hat er nicht gesagt«, entgegnete Jack. »Ich schätze, er glaubt nicht wirklich, dass es überhaupt welches geben wird. Ich gehe mit dem Hut rum, und wir bieten ihm am Ende am besten etwas davon an, und dann lässt er dich vielleicht regelmäßig hier auftreten.«
Theo beobachtete Beth, während sie sich einen Weg durch die Menge in den hinteren Teil des Saloons bahnte, die Geige unter den Arm geklemmt, den Bogen in der Hand. Sie sah aus wie eine schlanke Flamme in ihrem roten Kleid, und er konnte an ihrem geraden Rücken und der Art, wie sie ihre Schultern hielt, sehen, dass sie heute Abend erfolgreich sein wollte.
Sie verschwand aus seinem Blickfeld, und Theo spürte eine Welle der Sorge in sich aufsteigen, aber plötzlich sah er sie über den bulligen Männern auftauchen, die ihm die Sicht versperrten, und ihm wurde klar, dass sie jetzt auf einem Tisch stand.
Sie klemmte sich die Geige unter das Kinn, zog den Bogen über die Saiten und begann mit »Kitty O’Neill«.
Ein paar Augenblicke lang kam keine Reaktion von den Gästen; fast alle drehten ihr den Rücken zu. Theo hielt den Atem an, aber langsam begannen die Männer, sich zu ihr umzudrehen, und auf ihren Gesichtern breitete sich ein anerkennendes Lächeln aus.
Theo sah, wie sehr Beth mit ihrem Publikum im Einklang war. Sie lächelte und warf ihr Haar zurück, spielte schneller, als alle aufmerksam wurden, und wusste genau, was sie tun musste, um die Aufmerksamkeit zu behalten.
»Sie ist besser als je zuvor«, keuchte Jack. »Sieh dir ihr Gesicht an!«
Theo konnte nichts anderes sehen. Nicht die Männer, die vor ihr herumhüpften, nicht die beiden Huren, die ihn von der Ecke aus musterten oder das Glas Whiskey in seiner Hand. Er hatte diesen seligen Ausdruck auf Beths Gesicht erst ein paar Stunden zuvor gesehen, als sie sich geliebt hatten. Vielleicht hätte er eifersüchtig darauf sein sollen, dass die Musik ihr so viel bedeutete, aber das war er nicht. Er fühlte sich nur größer und mächtiger als die anderen Männer im Saloon, weil sie ihm gehörte.
Während der zwanzig Minuten, die sie inzwischen spielte, drängten immer mehr Leute, die draußen vorbeikamen, durch die Tür, bis der Saloon bis auf den letzten Platz gefüllt war.
»Sie werden es niemals schaffen, die alle zu bedienen«, sagte Jack und stieß Sam an. »Wir sollten hingehen und sie fragen, ob sie Hilfe brauchen.«
Und wieder einmal staunte Theo über Beths großartiges Timing, denn als die beiden die Bar erreichten und ihre Dienste anboten, beendete sie ihre Nummer.
»Ich muss jetzt eine Pause machen«, rief sie. »Holt euch was zu trinken, ich komme bald zurück.«
An jenem ersten Abend lagen über dreißig Dollar im Hut, und Oris Beeking, der Wirt des Globe, war hocherfreut und wollte, dass Beth vier Abende in der Woche bei ihm auftrat. Außerdem stellte er auch Sam und Jack als Barkeeper ein.
Vancouver war in jeder Hinsicht ideal für sie. Die Leute waren nicht so bieder wie überall sonst in Kanada, denn es war auf vielerlei Arten noch immer eine Grenzstadt. Es tat gut, im warmen Sonnenschein an der Küste entlangzulaufen, mit den Fischern und Matrosen zu reden und das Gefühl zu haben, hierher zu gehören. Sam und Jack fanden zwei freche Saloon-Mädchen, die ihnen gefielen. Theo konnte bei einigen Pokerspielen mitmachen, und an Sonntagabenden, wenn sie alle zusammen zu Hause waren, planten sie ihren Saloon, einen Ort, an dem es Pokerrunden, Musik und tanzende Mädchen geben sollte.
Nach der Unsicherheit und den Unbequemlichkeiten, die sie auf der Reise erfahren hatten, waren alle vier glücklich, sich wieder niederzulassen. Sie redeten nicht mehr davon weiterzuziehen, nur davon, sich eine größere Wohnung zu suchen.
Am 16. Juli ging Beth zur Post, um einen Brief an Molly und die Langworthys aufzugeben. Sie hatte Briefe aus fast jeder Stadt geschickt, durch die sie gekommen waren, und jetzt wollte sie ihnen unbedingt die neue Adresse mitteilen, an die sie zurückschreiben konnten.
Vor der Post stand eine große Gruppe von Männern, und Beths erster Gedanke war, dass sie gleich anfangen würden, sich zu prügeln, denn sie liefen auf und ab und riefen und winkten mit den Armen. Aber als sie näher kam, sah sie, dass es nicht Wut war, die sie antrieb, sondern Aufregung. Zwei Männer waren Hafenarbeiter, die sie aus dem Globe kannte, und sie nahm an, dass die anderen gerade mit dem Schiff angekommen waren.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie, als einer der Männer, die sie kannte, ihr lächelnd zuwinkte.
»Gold«, rief er mit strahlenden Augen. »Sie haben in Alaska Gold gefunden. Tonnen davon. Wir wollen mit dem nächsten Schiff hinfahren.«
Beth lachte. Sie war überzeugt davon, dass das nicht stimmen konnte. Soweit sie wusste, lag Alaska das ganze Jahr über unter einer dicken Schneeschicht, und die einzigen Leute, die dorthin gingen, waren Pelzjäger.
Sie gab den Brief auf, kaufte Brot, Fleisch und Gemüse, dann ging sie zurück nach Hause. Aber als sie an einem Zeitungsstand vorbeikam, sah sie die Schlagzeile »Tonnen von Gold« auf der Titelseite der Zeitung und ein Bild von einem Schiff, das in San Francisco vor Anker lag und auf dem sich diese Tonnen von Gold angeblich befanden.
Sie kaufte die Zeitung und las, dass im August des vergangenen Jahres ein Mann namens George Carmack mit seinen beiden Schwägern Tagish Charlie und Skookum Jim am Rabbit Creek, einem der sechs Zuflüsse des Klondike River im Yukon Valley, Gold gefunden hatte. Carmack fand Gold zwischen den Gesteinsschichten »wie Käse in einem Sandwich«.
Seitdem, so hieß es, waren Goldgräber in der Gegend ausgeschwärmt, hatten Claims abgesteckt und über Nacht ein Vermögen gemacht, aber erst jetzt war die Nachricht davon nach draußen gedrungen, denn wenn der Winter in Yukon Einzug hielt, konnte niemand mehr dieses Gebiet verlassen.
Beths Interesse hielt sich in Grenzen, aber während sie im Gehen weiterlas, hörte sie plötzlich die Worte »Klondike« und »Gold« von allen Seiten.
Die Männer waren gerade erst aufgestanden, als sie zurückkam, aber als sie ihnen berichtete, was sie auf der Straße gehört und gesehen hatte, und ihnen die Zeitung zu lesen gab, strahlten ihre Augen.
»Wo genau liegt der Klondike?«, fragte Jack. »Ist das in Alaska?«
»In der Zeitung nennen sie es Yukon, und ich glaube, das ist ein Teil von Kanada«, erwiderte Theo und fing an, in seiner Reisetasche zu kramen und nach einer Karte von Nordamerika zu suchen. Er schob die Tassen und Teller auf dem Tisch beiseite und breitete sie aus. »Es liegt hier«, sagte er und deutete auf ein Gebiet nördlich von Vancouver, direkt hinter Alaska. »Wir sollten dorthin fahren.«
»Oh nein«, erklärte Beth kategorisch. »Ich habe dir bei unserer Ankunft hier gesagt, dass ich nur nach Süden gehe, wo es warm ist, falls wir wieder umziehen müssen. Ich werde nicht an einer sinnlosen Suche an einem Ort teilnehmen, der das ganze Jahr über zugefroren ist.«
»Aber wir könnten Millionäre werden«, sagte Sam mit vor Aufregung zitternder Stimme.
»Es ist wahrscheinlicher, dass wir da oben erfrieren und verhungern«, widersprach sie. »Erinnerst du dich denn nicht an das, was wir in der Schule über den Goldrausch von 1849 gelernt haben? Nur ein paar Leute fanden welches. Und weißt du noch, was Pearl mir erzählt hat? Sie war dort, aber sie hat ihr Geld als Köchin für die Goldgräber verdient.«
»Genau deshalb sollten wir hingehen«, entgegnete Theo mit glänzenden Augen. »Es ist der perfekte Ort, um einen Spielsalon zu eröffnen!«
»Bring sie zur Vernunft«, flehte Beth Jack an. »Das ist Wahnsinn, es gefällt uns hier, es geht uns gut. Es wäre dumm, das alles wegzuwerfen wie die anderen Idioten, die Hals über Kopf dorthinrennen.«
»Ich glaube, wir sollten erst mal eine Menge mehr über diese ganze Sache herausfinden«, erwiderte Jack und unterstützte weder sie noch Theo und Sam. »Ruhig, besonnen und mit Köpfchen.«
Es war unmöglich, den ganzen Tag ruhig und besonnen zu sein, denn die Nachricht von dem Gold war wie eine schlimme Krankheit, die in der Stadt wütete und jeden ansteckte. Am Nachmittag standen die Leute Schlange für Fahrscheine, um mit dem nächsten Dampfer nach Skagway in Alaska zu fahren, der Stadt, von der es hieß, sie läge den Goldfeldern am nächsten.
Ladenbesitzer wurden sofort aktiv und stellten Schilder vor ihre Läden: »Kaufen Sie hier Ihre Ausrüstung«. Die Schlitten, die für den Sommer eingelagert worden waren, standen plötzlich wieder in den Auslagen. Zelte, pelzbesetzte Mäntel und Stiefel, wasserabweisende Kleidung und Galoschen stapelten sich einladend. Vor den Lebensmittelläden standen Tafeln, auf denen die Besitzer die Dinge aufgelistet hatten, die vorrätig waren und in Mengen gekauft werden konnten.
Theo und Sam waren völlig aus dem Häuschen vor Aufregung, und sogar Beths Herz schlug ein bisschen schneller, aber Jack war merkwürdig ruhig. Er traf sich mit Foggy, einem alten Mann, der die meisten Abende in den Saloon kam und von dem er wusste, dass er als junger Mann Trapper in Alaska gewesen war. Als er zwei Stunden später zurückkam, um sich vor der Arbeit zu waschen und zu rasieren, fragten Theo und Sam ihn, was er herausgefunden habe, und er antwortete, er würde es ihnen am Morgen sagen.
Gold war das einzige Thema, über das an diesem Abend im Saloon gesprochen wurde. Die alten Hasen, die schon 1849 in Kalifornien Gold gesucht hatten, standen plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Männer, die sich mit Schlittenhunden auskannten, bekamen Drinks spendiert, und jeder Mann, der jemals an der Küste entlang hinauf nach Alaska gefahren war, konnte Hof halten.
»Ich habe mir die Karte angesehen und mit dem alten Foggy gesprochen«, erzählte Jack am nächsten Morgen. »Und habe eine grobe Liste mit den Dingen zusammengestellt, von denen ich glaube, dass wir sie brauchen werden.«
Theo nahm die Liste und lachte laut. »Das brauchen wir doch nicht alles! Ein Zelt, Decken, warme Sachen und ein paar Lebensmittel reichen aus. Eispickel, Sägen, Nägel! Was sollen wir denn damit anfangen?«
»Der Klondike liegt rund tausend Kilometer von Skagway entfernt«, erklärte Jack ruhig. »Zuerst müssen wir über die Berge, dann müssen wir uns ein Boot bauen, mit dem wir den Rest der Strecke fahren. Da draußen sind wir in der Wildnis, da können wir nirgendwo etwas kaufen.«
»Ich kann jagen«, erwiderte Theo, aber er klang nicht mehr so überzeugt.
»Es wird hart werden.« Jack sah Sam, dann Beth und dann wieder Theo an. »Wirklich hart. Anders als alles, was wir bis jetzt erlebt haben. Wir sind Städter, und wenn wir uns nicht vorbereiten, könnten wir auf dem Weg erfrieren oder verhungern.«
»Die Leute, die wir unterwegs treffen, werden uns doch helfen, oder nicht?«, fragte Sam mit einem Zittern in der Stimme.
»Wir können auf nichts und niemanden zählen«, erklärte Jack fest. »Ihr habt den Wahnsinn gestern Abend gesehen. In einer Woche, wenn die Nachricht sich weiter herumgesprochen hat, wird es noch verrückter werden, die Leute werden von überall her dorthinfahren. Wir müssen uns schnell einen Platz auf einem Dampfer nach Skagway sichern – ich meine, wenn ihr wirklich fahren wollt.«
»Möchtest du hinfahren, Jack?«, fragte Beth. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, aber ob es Angst oder Aufregung war, konnte sie nicht sagen.
»Ja, das möchte ich, mehr als alles andere«, sagte er und grinste sie an. »Es ist eine einmalige Gelegenheit, und ich möchte meine nicht verstreichen lassen.«