27

Sam versuchte, sie zurückzuhalten, aber Beth entwand sich ihm und schob sich durch die Menge, die um Theo herumstand. Ihr Herz raste vor Angst, und ihre letzten wütenden Worte an ihn waren aus ihren Erinnerungen gelöscht.

»Theo!«, schrie sie, während sie neben ihm auf die Knie sank.

»Er wird’s nicht schaffen, Mam«, meinte ein Mann aus der Menge.

Es sah nicht gut aus. Theo war bewusstlos, und Beth konnte ein Loch sehen, wo die Kugel an seiner Schulter durch den Mantel eingedrungen war. Blut pumpte heraus. Hastig griff sie nach seinem Handgelenk und fühlte seinen Puls. Er war da, aber schwach. »Er wird es ganz sicher nicht schaffen, wenn wir ihn hier draußen in der Kälte liegen lassen«, sagte sie scharf. »Jemand muss mir helfen, ihn zum Doktor zu bringen.«

Theo bewegte sich und öffnete die Augen. »Beth!«

Weil seine Stimme so leise war, beugte Beth sich über sein Gesicht. »Ja, ich bin’s. Aber sprich nicht mehr, und beweg dich nicht, das schwächt dich nur.«

Während Sam sich nach vorne drängelte, um zu helfen, schlug ein anderer Mann vor, dass sie Theo auf etwas legen sollten, und fast sofort kam eine Frau mit einer schmalen Tischplatte unter dem Arm aus dem nächstgelegenen Saloon gelaufen. »Sie haben bei einer Prügelei die Beine abgebrochen«, sagte sie als Erklärung und floh vor der Kälte wieder nach drinnen.

Sie schoben die Tischplatte unter Theo, Sam packte sie an seinem Kopf und die anderen beiden an den Beinen.

Dr. Chases Hütte lag ganz in der Nähe, und jemand war vorausgelaufen, um ihm Bescheid zu sagen. Beth war dem Doktor noch nie begegnet, da sie noch nie medizinische Hilfe gebraucht hatte, aber sie wusste, dass er ein guter Mann war, weil er und Reverend Dickey Spenden für den Bau einer Hospital-Hütte gesammelt hatten, die bald eröffnet werden würde, und der Doktor war außerdem bekannt dafür, dass er sehr arme Leute ohne Honorar behandelte.

Dr. Chase, ein kleiner, schlanker Mann mit Brille und dünnem Haar, trug bereits eine Schürze und rollte sich die Ärmel auf, als sie an seiner Tür ankamen.

»Legen Sie ihn auf den Tisch«, sagte er und holte die Lampe dichter heran. »Ist jemand von Ihnen mit ihm verwandt?«

Sam erklärte, dass er und Beth Theos Freunde und Reisegefährten seien, und nannte ihm ihre Namen. Der Doktor bat sie zu bleiben, um ihm zu helfen, und die anderen, die mit hereingekommen waren, zu gehen.

»Ich hoffe, Sie sind nicht zimperlich«, sagte er zu Beth, während er Theos Kleidung von der Wunde entfernte. »Weil ich Sie als Krankenschwester brauche. Waschen Sie sich gründlich die Hände.«

Während Beth sich die Hände in dem Becken wusch, auf das der Doktor gedeutet hatte, blickte sie zurück zu Theo. Sein Gesicht war ganz bleich, seine Lippen waren blau angelaufen, und er war bewusstlos. Ihr war ganz schlecht vor Angst, denn als die Wunde frei lag, sah sie furchtbar aus, ein Krater aus dunkelrotem Fleisch und Blut.

Sie band sich eine Schürze um und rollte ihre Ärmel auf, und der Doktor bat Sam, sich hinter Theo zu stellen und ihn festzuhalten, wenn er sich wehrte.

»Es ist gut, dass er bewusstlos ist«, sagte er ziemlich fröhlich. »Aber es könnte sein, dass er wieder aufwacht, wenn ich anfange, nach der Kugel zu suchen, also seien Sie bereit.«

Beth wollte fragen, warum er ihm kein Chloroform gebe, aber sie traute sich nicht und blieb einfach stehen und wartete auf Anweisungen.

»Wenn man schon eine Kugel abkriegt, dann ist das eine ziemlich gute Stelle dafür«, erklärte Dr. Chase und bedeutete Beth, das Tablett mit seinen Instrumenten festzuhalten und ihm das zu reichen, was er brauchte. »Warum hat man überhaupt auf ihn geschossen?«

»Wir wissen es nicht, weil wir nicht bei ihm waren, als es passierte«, erklärte Sam. »Wir sind nur hingelaufen, als wir den Schuss hörten.«

»Wie heißt er?«

»Theodore Cadogan«, sagte Beth.

»Ah, der englische Earl«, erwiderte der Doktor. »Nach allem, was ich gehört habe, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf ihn schießt. Und Sie«, er blickte Beth über seine Brille hinweg an, »müssen dann die viel gepriesene Miss Bolton sein, die Gypsy Queen?«

Beth spürte, wie eine Welle der Scham in ihr aufstieg, denn in seinen Worten schwang Kritik mit, weil sie sich mit einem Mann wie Theo abgab. Aber der Doktor sagte nichts mehr und reinigte die Wunde mit Tupfern, dann fing er an, mit einer Pinzette darin zu bohren. Theo wachte einmal auf und wollte sich aufrichten, doch er wurde zum Glück wieder ohnmächtig.

»Da haben wir sie ja!«, verkündete Dr. Chase und hielt die Kugel in seiner Pinzette triumphierend hoch. »Er hatte Glück, sie war nicht tief eingedrungen. Aber er wird gute Pflege brauchen, um sich zu erholen. Kugeln sind leicht zu entfernen; Probleme gibt es erst, wenn es zu einer Infektion kommt. Werden Sie die Pflege übernehmen, Miss Bolton?«

»Ja, natürlich«, sagte Beth, ohne zu zögern.

»Ich werde ihn jetzt nähen, und er kann heute Nacht hierbleiben. Morgen lasse ich ihn dann auf einem Wagen zu Ihrer Hütte bringen. Ich sage Ihnen dann, was er essen soll. Er hat viel Blut verloren, und es wird eine Weile dauern, bis er wieder bei Kräften ist.«

»Warum hast du mir geholfen?«, fragte Theo am folgenden Abend.

Der Doktor hatte ihn am Morgen zur Hütte gebracht, und er war von den beiden Männern, die ihn begleiteten, ins Bett gelegt worden. Er hatte etwas gegen die Schmerzen bekommen, und das ließ ihn fast den ganzen Tag schlafen. Beth hatte ihm die Fleischbrühe gekocht, die der Doktor angeordnet hatte, und rührte am Herd darin herum, als Theo sie ansprach.

»Weil ich Dolly, die Hure, nirgends gesehen habe«, antwortete sie giftig. »Aber wenn du lieber dort wärst und in ihrem flohverseuchten Bett liegen würdest, musst du es nur sagen.«

»Ich würde viel lieber bei dir bleiben«, sagte er, und seine Stimme klang sehr schwach. »Du bist die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe.«

Beth spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, aber sie drängte sie zurück. »Ich werde mich wegen der alten Zeiten um dich kümmern, aber nur so lange, wie es dauert, Theo.«

Theo hatte an den ersten Tagen große Schmerzen. Dr. Chase kam täglich, um den Verband zu wechseln, und sagte, dass es zum Glück keine Anzeichen für eine Infektion gebe. Er zeigte jedoch kein Mitgefühl mit Theo.

»Sie haben Glück, dass Sie nicht tot sind«, sagte er barsch. »Ich habe Patienten, die ohne eigenes Verschulden krank geworden sind, und die behandle ich vorrangig.«

Offenbar hatte der Mann, der geschossen hatte, die Stadt inzwischen verlassen – vielleicht weil er glaubte, Theo getötet zu haben, und fürchtete, dass man ihn des Mordes anklagen würde. Theo sagte zu dem Thema nur, dass er verdiene, was ihm passiert sei. Beth nahm deshalb an, dass er den Mann betrogen hatte.

Sie verbrachte die Tage damit, ihm vorzulesen und den neuesten Klatsch zu berichten, und eigentlich war sie froh, drinnen im Warmen bei ihm sein zu können. Abends, wenn sie spielen musste, blieben Jack oder Sam bei ihm.

Erst zehn Tage nach der Schießerei sprach Jefferson sie darauf an. Er war während der ganzen Zeit nicht im Clancy’s gewesen, und sie hatte ihn auch nicht in der Stadt gesehen. Aber plötzlich stand er in der Menge, sah ihr beim Spielen zu und lächelte auf diese lässige, verführerische Weise, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

»Trinkst du was mit mir?«, fragte er, als sie von der kleinen Bühne kletterte.

»Ich muss zurück.« Sie hätte ihn gerne gefragt, wo er die ganze Zeit über gewesen war, doch sie wusste, dass das nicht klug gewesen wäre.

»Ans Krankenbett?«, fragte er und hob eine Augenbraue. »Was tut der Earl für dich, dass er eine so zärtliche Pflege verdient hat? Ich habe gehört, du hast ihn nach unserer gemeinsamen Nacht rausgeworfen?«

»Ich kenne ihn schon sehr lange«, erwiderte sie. »Ich wende mich nicht von Freunden ab, wenn sie meine Hilfe brauchen.«

Er drückte ihr ein Glas Rum in die Hand. »Und wenn er sich erholt hat?«

Beth zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Das hängt von ihm ab.«

»Dann nehme ich an, dass du dich seinen Plänen fügen wirst? Wenn er zurück zu Dolly geht, dann bist du frei; wenn nicht, dann bist du an ihn gebunden?«

»Ich weiß es nicht, Jefferson, okay?«, sagte sie verärgert. »Als ich mich bereit erklärte, ihn zu pflegen, tat ich es wegen unserer gemeinsamen Vergangenheit. Ich würde mich auch um Jack kümmern, wenn ihm etwas passiert. Weiter kann ich jetzt noch nicht denken, und ich verstehe nicht, warum du das überhaupt wissen willst. Du bist nicht mal vorbeigekommen, um dich zu erkundigen, wie es mir geht, als du erfahren hast, dass ich ihn rausgeworfen habe, also wieso interessiert dich das?«

»Weil ich dich mag und er dein Untergang sein wird.«

»Er ist nicht anders als du«, erklärte sie wütend.

»Deshalb weiß ich, wie es enden wird.«

Beth seufzte, trank ihren Rum aus und griff nach ihrem Geigenkasten. »Dann hoffe ich, dass du auch jemanden hast, der sich um dich kümmert, wenn auf dich geschossen wird«, sagte sie knapp. »Gute Nacht, Jefferson. Es war schön, solange es gedauert hat.«

Sie glaubte, er würde ihr folgen; schließlich hatte er in jener Nacht gesagt, er wolle, dass sie mit ihm zusammen ist. Aber vielleicht war das nur Teil seiner Masche gewesen, und er hatte nur eine neue Eroberung gesucht.

»Ich war so ein Idiot«, sagte Theo ein paar Tage später. Er war jetzt wieder auf den Beinen, konnte jedoch noch nichts Anstrengendes machen; selbst das Anziehen musste vorsichtig und langsam passieren.

»Was hat dich zu dieser überraschenden Einsicht gebracht?«, fragte Beth.

»Sei nicht so sarkastisch«, schimpfte er. »Ich versuche, dir zu zeigen, wie sehr ich dich schätze. Das habe ich immer getan, aber was mich am traurigsten macht, ist die Distanz, die es jetzt zwischen uns gibt, wo wir uns doch mal so nahegestanden haben. Ich weiß, dass ich daran schuld bin. Aber ich weiß nicht, wie ich dafür sorgen kann, dass alles wieder so wird wie früher.«

»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte sie traurig. »Manchmal glaube ich, dass es an dieser Stadt voller Menschen liegt, die alle nur an Gold denken. Das hat uns alle beeinflusst. Selbst Jack, der jede freie Minute damit verbringt, Leuten zu helfen, kann es gar nicht abwarten aufzubrechen. Es ist wie eine Krankheit.«

»Vielleicht werden wir dann alle nur geheilt, wenn wir tatsächlich hingehen«, sagte Theo.

»Dafür wird dir noch für einige Zeit die Kraft fehlen.«

»Ein Monat wird reichen. Aber die eigentliche Frage ist, ob du willst, dass ich euch begleite.«

»Natürlich will ich das, Theo! Vielleicht bete ich dich nicht mehr so vorbehaltlos an wie früher, aber ich liebe dich immer noch. Wenn du doch nur ehrlicher wärst!«

»Ehrlichkeit hast du bei Soapy auch nicht vermisst«, sagte er. »Er ist viel unehrlicher als ich, er ist ein Lügner, ein Dieb, ein Betrüger, und zweifellos hat er auch schon Leute umgebracht, obwohl ich bezweifle, dass er sich dabei selbst die Hände schmutzig gemacht hat.«

»Zumindest war er da, als ich jemanden brauchte«, fuhr Beth ihn an. »Ich habe nicht gesehen, dass Dog-faced Dolly dir zu Hilfe geeilt wäre.«

»Das war’s dann, Schwesterchen.« Sam holte den letzten Sack mit ihren Sachen aus der Hütte und lud ihn auf den gemieteten Wagen, der sie die zwölf Kilometer bis nach Dyea bringen würde, von wo aus sie dann über den Chilkoot Pass wandern würden. »Verabschiede dich von der Hütte. Ich bezweifle, dass wir auf dem Rückweg hier noch einmal vorbeikommen werden.«

Theo saß im Wagen. Seine Schulter war gut verheilt, aber die Wochen ohne Bewegung und mit gutem Essen hatten ihn zunehmen lassen, sodass er jetzt ein bisschen schwabbelig wirkte. Jack dagegen war sehr schlank, denn er hatte sechs Tage in der Woche Häuser, Geschäfte und Hütten gebaut, damit sie genug Geld zusammenbekamen, um die indianischen Träger zu bezahlen, die ihre Sachen den Pass hinauftragen sollten.

Neben der vorgeschriebenen Tonne Proviant, ohne die sie nicht nach Kanada einreisen durften, mussten sie auch noch die Werkzeuge mitnehmen, die sie brauchen würden, um sich am Lake Bennett ein Boot zu bauen, dazu eine Schaufel, Schlitten, das Kochgeschirr, das Zelt, das Bettzeug und andere notwendige Dinge. Da die meisten Männer nur fünfundzwanzig Kilo Gepäck auf dem Rücken über den Pass tragen konnten, hätte das bedeutet, dass sie ein Dutzend Mal rauf- und runterlaufen mussten, wenn sie die indianischen Träger nicht bezahlen konnten – und das hätte wahrscheinlich drei Monate gedauert.

Die Mehrheit der anderen Goldsucher hatte keine andere Wahl, denn die Preise, die die Träger pro Ladung nahmen, waren schwindelerregend hoch. Aber Theo war noch nicht stark genug, um mehr als ein paar Kilo zu tragen, und weder Sam noch Jack wollten, dass Beth zu viel schleppen musste. Zusammen hatten sie Geld genug, und sie nahmen an, dass sie das verlorene Geld durch die gewonnene Zeit wieder wettmachen würden. Außerdem konnten sie so einige wertvolle Dinge mitnehmen, die sich in Dawson City mit großem Gewinn verkaufen ließen.

»Ich muss diesen Brief nach Hause aufgeben, bevor wir aufbrechen«, sagte Beth und winkte mit einem Umschlag. Vor ein paar Tagen hatten sie endlich einen Brief aus England mit einem Bild von Molly an ihrem vierten Geburtstag kurz vor Weihnachten bekommen. Beth hatte schnell einen Brief zurückgeschrieben und ein Bild von sich und Sam hineingelegt, das hier in Skagway aufgenommen worden war, und Molly und den Langworthys berichtet, dass sie sich auf den Weg zu den Goldfeldern machen würden.

Während sie schrieb, hatte sie sich gefragt, ob die Leute in England irgendeine Vorstellung davon hatten, was mit dieser Reise verbunden war. Beth wusste ziemlich genau, dass es kein Zuckerschlecken werden würde, denn der vorausschauende Jack hatte bereits den Anfang des Weges erkundet und mit Leuten gesprochen, die auf der Hälfte aufgegeben hatten, und was er von ihnen erfuhr, ließ sie beinahe entmutigt aufgeben.

»Wir fahren schon mal, und du stößt dann wieder zu uns, wenn du bei der Post warst«, rief Theo. »Aber halt dich nicht zu lange auf!«

Es war jetzt Ende März, und die meisten Leute, die sie während des Winters kennengelernt hatten, waren schon vor über einem Monat zum White Pass oder Chilkoot Pass aufgebrochen. Aber wenn alles gut lief, wusste Beth, dass sie alle am Lake Bennett wiedersehen würden. Das Eis auf dem See würde erst Ende Mai schmelzen, deshalb würden sie erst dann weiterfahren können.

Skagway sah jetzt ganz anders aus als bei ihrer Ankunft. Es gab einen Kai, eine Kirche und ein Krankenhaus, und an der Hauptstraße standen richtige Gebäude – Geschäfte, Saloons, Restaurants, Hotels, Häuser und Hütten. Die Straßen waren noch immer ein Meer aus Schlamm, und das Tauwetter der letzten Tage hatte es noch schlimmer gemacht. Und die Zeltstadt um die Stadt herum war immer noch da. Es waren jetzt andere Zelte, denn die alten waren entweder von ihren Besitzern mitgenommen oder von Stürmen zerfetzt worden. Täglich brachten die Schiffe Hunderte weitere Goldsucher. Einige blieben nur kurz und zogen weiter über die Pässe; andere blieben in den schäbigeren Vierteln der Stadt hängen, verloren all ihr Geld und fuhren schließlich mit dem Schiff wieder zurück.

Beth war froh, dass sie gehen konnte. Sie hatte hier gute Zeiten erlebt, aber die schlechten überwogen. Sie würde die Rauflust, den Dreck, die Ausbeuter und die Ausgebeuteten nicht vermissen. Aber sie würde die zuckenden Füße und das Klatschen vermissen, wenn sie Geige spielte. Sie würde niemals dieses entzückte Lächeln auf den Gesichtern vergessen, wenn sie ihr Publikum aus seinen Sorgen und Nöten entführte.

Als sie an Clancy’s Saloon vorbeikam, lächelte sie, denn die Kreidetafel mit »Gypsy Queen spielt heute Abend« stand noch immer davor. Sie hob ein Stück Kreide auf, das davor auf dem Boden lag, und fügte hinzu: »Heute Abend nicht, ich gehe nach Klondike. Wir sehen uns dort.«

Sie wandte sich von der Tafel ab und kicherte immer noch vor sich hin, als sie Jefferson an einer Kiste lehnen sah. Er rauchte seine Pfeife und beobachtete sie.

»Dann gehst du?«

»Ich will nur noch schnell einen Brief aufgeben, dann laufe ich dem Wagen hinterher.«

»Bleib und trink noch was mit mir. Ich bringe dich dann auf dem Pferd zu den anderen.«

Sie öffnete den Mund, um höflich abzulehnen, aber als sie das Funkeln in seinen Augen sah, konnte sie nicht widerstehen. »Um der alten Zeiten willen«, sagte sie lächelnd. »Aber nur eine halbe Stunde, keinen Moment länger, und wenn du mich nicht hinbringst, gibt’s Ärger.«

»Du gibst deinen Brief auf, und ich habe die Drinks fertig, wenn du zurückkommst«, erwiderte er.

Als sie durch die Tür des Clancy’s ging, öffnete er mit einem Knallen eine Flasche Champagner. »Ich dachte, ich mache dir ein schönes Abschiedsgeschenk.« Er lächelte. »Es ist vielleicht das letzte Mal für Monate, dass du so etwas Exquisites bekommst.«

Er goss ihr ein Glas ein, lehnte sich gegen die Theke und sah sie an. »Man wird dich hier vermissen«, sagte er schließlich. »Es gibt jede Menge hübscher Frauen in der Stadt, aber nur wenige mit deinem Elan oder deinem Schneid. Vielleicht komme ich auch eines Tages nach Dawson und sehe nach, wie es dir geht. Wenn du bis dahin noch keinen reichen Goldminenbesitzer geheiratet hast, dann nehme ich dich mit nach San Francisco und mache eine ehrbare Frau aus dir.«

»Das würde dir schwerfallen, wo du doch so unehrenhaft bist«, gab sie zurück. »Außerdem will ich zurück nach England. Ich habe da eine kleine Schwester, die ich wiedersehen will.«

Sie holte das Bild von Molly heraus, das sie in der Innentasche ihres Mantels aufbewahrte, und zeigte es ihm. Ihr Haar war so lang und lockig wie das von Beth und zu zwei Zöpfen gebunden, und sie trug ein weißes Rüschenschürzchen über ihrem dunklen Kleid. Sie war kein Baby mehr, sondern ein kleines Mädchen, mit runden dunklen Augen und einem sehr ernsten Gesichtsausdruck.

»Sie sieht aus wie du«, meinte Jefferson. »Ich schätze, sie ist die Art von Kind, zu dem jeder gerne nach Hause fahren würde. Und bestimmt möchtest du auch zu deiner Familie. Sie müssen dich vermissen.«

»Meine Eltern sind tot«, erwiderte Beth und erklärte ihm, was passiert war. »Ich weiß nicht, warum ich dir das sage«, schloss sie schließlich verlegen. »Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«

Jefferson zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, weil du mir das Bild gezeigt hast. Dann fällt einem vieles wieder ein. Ich habe auch so ein Bild.«

»Von einem kleinen Mädchen?«

»Nein.« Er lachte. »Ein Bild von dir, als du abends hier gespielt hast. Ich habe es erst vor ein paar Tagen abgeholt. Wenn ich es anschaue, muss ich daran denken, was wohl gewesen wäre, wenn ich ...« Er brach ab und grinste sie an.

»Wenn du was?«

»Wenn ich ein anderer Mann wäre. Wenn ich nach jener Nacht zu dir gegangen wäre und dir gesagt hätte, was ich damals gefühlt habe.«

»Was hast du denn gefühlt?«, flüsterte sie.

»Es war, als wäre alles wieder brandneu. So als könnte es ein Leben ohne Lug und Betrug geben. Aber ich schätze, ich war nicht mutig genug, es auszuprobieren.«

Beth hob die Hand und kniff ihm sanft in die Wange. »Du warst mutig genug, es mir jetzt zu sagen. Ich werde es mir merken und irgendwann darüber nachdenken.«

Sie redeten noch eine Weile über alles, was sich seit ihrer Ankunft in Skagway verändert hatte und wie es in einigen Jahren hier aussehen würde. Er erkundigte sich nach Sam und Jack, erwähnte Theo jedoch nicht.

»Traut keinem beim Aufstieg über den Pass«, sagte er plötzlich. »Es gibt da oben Männer, die wie Goldsucher aussehen. Sie tragen einen Rucksack und sind genauso dreckig wie alle anderen. Sie sind freundlich, bieten euch was Heißes zu trinken an oder dass ihr euch an ihrem Feuer aufwärmen könnt. Aber das sind keine Goldsucher, sondern Betrüger, die euch ausnehmen wollen.«

Ein Gefühl sagte ihr, dass diese Männer, von denen er sprach, vielleicht in seinen Diensten standen, aber sie bedankte sich für seinen Rat und sagte, dass es Zeit werde zu gehen.

Er nahm ihre Hand, als sie den Saloon verließen, um sein Pferd aus dem Stall zu holen, und die Berührung seiner glatten Hand jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Ein Mann holte ihnen eine Fuchsstute, und während er sie festhielt, verschränkte Jefferson die Hände, damit Beth ihren Fuß hineinstellen konnte, und half ihr in den Sattel. Dann schwang er sich mit einer eleganten Bewegung hinter sie, legte den Arm um sie und griff nach den Zügeln.

Er schnalzte mit der Zunge, und sie galoppierten die Straße hinunter in Richtung Dyea.

In Skagway achtete man wegen des Lärms und des Durcheinanders oft gar nicht auf die schöne Landschaft, die es umgab. Aber nachdem sie den Tumult hinter sich gelassen hatten und Beth die Wintersonne auf dem türkisfarbenen Wasser des Lynn Canals glitzern sah und die schneebedeckten Gipfel betrachtete, wurde sie ihr plötzlich wieder bewusst.

Während sie ritten, deutete Jefferson auf zwei Möwen auf dem Wasser und einen Weißkopfseeadler, der auf einer Tanne saß. Beth wünschte, sie hätten früher Zeit für einen kleinen Ausflug wie diesen gehabt und sich wirklich unterhalten.

Viele Gruppen von Leuten waren auf dem Weg nach Dyea. Einige schoben Handwagen, auf denen sich ihr Gepäck stapelte, andere benutzten Maulesel oder Pferdewagen. Plötzlich entdeckte Beth die anderen drei und ihren Wagen vor sich. »Ich glaube, du solltest mich hier absetzen«, sagte sie. »Ich habe sie schnell eingeholt.«

Jefferson sprang so geschmeidig wie eine Katze vom Pferd, griff nach oben, umfasste ihre Taille und schwang sie herunter. Aber er ließ sie nicht los. »Leb wohl, meine Gypsy Queen«, sagte er. »Pass gut auf dich auf, und denk manchmal an mich.«

Er küsste sie, lange und hart, und hielt sie fest, als würde er sie nie wieder loslassen wollen. Dann löste er sich von ihr, sprang auf sein Pferd, riss es herum und galoppierte davon.

Beth stand einen Moment lang auf dem Weg und sah auf das rotbraune Hinterteil des Pferdes, auf Jeffersons geraden Rücken und seinen schwarzen Hut, und es versetzte ihr einen kleinen Stich, als sie daran dachte, was vielleicht hätte sein können.