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»Wie viel? Wie viel?« Noch eine Gruppe von Stick-Indianern rief ihnen von ihrem Lager am Flussufer aus zu. Beth wandte den Blick ab, denn sie waren dreckig, zerlumpt und sahen krank aus, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihnen nichts gab. Aber sie hatten bereits anderen Gruppen weiter oben am Fluss Lebensmittel gegeben und konnten jetzt nichts mehr entbehren. Außerdem hatte man ihr erzählt, dass die Indianer das, was sie bekamen, anderen Goldsuchern wiederverkauften, und da Tausende Boote pro Tag vorbeikamen, konnten sie vermutlich gut davon leben.

Die Frühlingsblumen waren inzwischen Hasenglöckchen und Lupinen gewichen, ein blaues Meer, das sich an den Ufern entlangzog. Hin und wieder sah Beth einen Elch, manchmal zusammen mit einem Kalb, am Fluss trinken oder einen Schwarzbären, der hinter den Bäumen hervorschaute, so als wäre er überrascht, dass so viele Menschen in sein Revier eingedrungen waren. Wildfrüchte – Cranberries, schwarze Johannisbeeren und Himbeeren – reiften zwischen den Felsen und Moosen, und der Duft von wilden Rosen lag in der Luft.

Es war eine spektakuläre Landschaft, und sie wünschte, sie hätte sich daran erfreuen können. Aber seit Sam in dem Canyon umgekommen war, fühlte es sich an, als wäre die Sonne für immer untergegangen und als würde sie niemals wieder Freude empfinden können.

Fünf Männer hatten an jenem Tag ihr Leben verloren, und es wären unzählige mehr gewesen, wenn Generalmajor Samuel Steele von den Mounties nicht mit seinen Männern gekommen wäre, um weitere Katastrophen zu verhindern. Abgesehen von den Toten waren Dutzende von Booten zerstört worden; die ganzen Säcke mit Proviant, die sie über den Pass getragen hatten, waren aufgerissen, und die Lebensmittel verdarben jetzt im Wasser, und viele Habseligkeiten waren verloren. Einige Leute waren so verzweifelt, dass sie sich die Haare ausrauften, schluchzten und schrien.

Steele entschied auf der Stelle, dass keine Boote mehr ohne einen kompetenten Führer durch die Stromschnellen fahren durften und dass alle Frauen den sieben Kilometer langen Weg an den Stromschnellen vorbei zu Fuß gehen mussten.

Jack hatte kaum ein Wort gesagt, nachdem sie Sam beerdigt hatten. Beth wusste, dass er sich Vorwürfe machte, weil er glaubte, dass er den Unfall hätte verhindern können. Aber Theo und sie wussten, dass das nicht stimmte. Er hatte seine Sache gut gemacht, denn dank ihm waren das Floß und all ihre Sachen heil geblieben. Sam musste leichtsinnig gewesen sein und die Seitenwand losgelassen haben.

Aber rational über den Vorfall nachzudenken half ihnen nicht in ihrer Trauer. Niemand würde jemals Sams Platz in ihrem Leben einnehmen können, und im Moment wusste Beth nicht, wie sie ohne ihn weiterleben sollte.

Wenn sie versuchte, nicht an ihren Bruder zu denken, fiel ihr das Baby wieder ein, das sie verloren hatte, und sie sehnte sich verzweifelt danach, Molly wiederzusehen. Sie nahm an, dass das nur natürlich war; Molly war jetzt schließlich ihre einzige lebende Verwandte. Sie konnte die vielen Male nicht mehr zählen, wo sie ihr Foto herausgeholt und ihr süßes Gesicht und ihr lockiges Haar betrachtet und daran gedacht hatte, wie sie die Kleine damals in der ersten Zeit gefüttert und gewickelt hatte.

Beth konnte nicht erwarten, dass Jack und Theo ihre Gefühle für Molly verstanden, aber es tröstete sie, dass sie Sam genauso sehr vermissten wie sie. Vielleicht hatte sie mehr Erinnerungen an ihn und war mit ihm blutsverwandt, doch die beiden hatten ihn ebenfalls geliebt. Es schmerzte noch zu sehr, als dass sie über ihre Gefühle oder ihre besten Erinnerungen an ihn hätten sprechen können. Aber vielleicht würde das mit der Zeit möglich sein.

Sie hatten Dawson City jetzt fast erreicht, und der Fluss Yukon war übersät mit einer Masse von Booten. Unter denen, die aus den Bergen kamen und jetzt zu ihnen und den anderen stießen, waren viele Sourdoughs, die »Sauerteiger«, wie sie genannt wurden. Beth hatte gehört, dass der Name von der Angewohnheit der erfahrenen Goldgräber kam, ein kleines Stück Brotteig in einer Tüte in ihrer Hemdtasche aufzubewahren, damit er warm blieb und beim Backen des nächsten Laibs als Hefe benutzt werden konnte. Diese Männer waren grauhaarige alte Goldschürfer, die den ganzen Winter über auf ihren Claims an kleinen Flussläufen festgesessen hatten. Einige von ihnen waren schon seit Jahren in der Gegend und suchten nach Gold.

Die Aufregung, dass sie sich ihrem Ziel näherten, war spürbar. Die Leute riefen sich Grüße zu; sie wollten von ihrer Reise und von ihren Hoffnungen auf die Zukunft erzählen. Aber Beth, Theo und Jack konnten sich nicht dazu bringen, sich an diesen Gesprächen zu beteiligen, denn sie fürchteten, bei der Erwähnung von Sam in Tränen auszubrechen.

Beth hoffte, dass alle ihr Schweigen und ihre ernsten Gesichter auf die schreckliche Hitze und die lästigen Moskitos zurückführten, denn das schien die Leute irrational handeln zu lassen. Die Männer und sie hatten viele heftige Kämpfe und gegenseitige Beschimpfungen beobachtet, meist unter Männern, die bereits so viel friedlich miteinander durchgestanden hatten. Was immer es auslöste, es war schrecklich mit anzusehen, denn sie schienen sich jetzt bis aufs Blut zu hassen und wollten allein weiterziehen. Sie sahen, wie zwei Männer am Ufer ihr Boot und ihren Proviant tatsächlich in zwei Teile zersägten, während sie sich gegenseitig anschrien. Ein anderes Paar stritt sich um eine Bratpfanne, bis jemand vorbeikam und das Problem löste, indem er sie in den Fluss warf, sodass keiner von beiden sie bekam.

Es war ein Wahnsinn, den Beth und die Männer nicht verstehen konnten. Sams Tod hatte ihnen vor Augen geführt, wie sehr sie einander schätzten und wie wenig Lebensmittel und Gegenstände bedeuteten.

Die Sonne ging jetzt gar nicht mehr unter, das Licht wirkte nur gegen Mitternacht etwas gedämpfter, aber um zwei Uhr morgens war es erneut taghell. Sie rasteten am Ufer immer nur lange genug, um Feuer zu machen und sich schnell etwas zu essen zu kochen, dann setzten sie auf dem Floß wieder die Segel, und Theo und Jack wechselten sich mit Schlafen ab. Es war nicht so, dass sie schneller als alle anderen in Dawson sein wollten, denn das war ihnen jetzt nicht mehr wichtig, sondern weil sie sich mit etwas beschäftigen mussten. Ihnen wurde jetzt, zu spät, klar, dass es Sams Enthusiasmus, seine Fröhlichkeit und sein unerschütterlicher Optimismus gewesen waren, die ihre Gespräche in der Vergangenheit in Gang gehalten hatten, und ohne sie gab es irgendwie nichts zu sagen.

Am Morgen des 12. Juni döste Beth im Heck des Floßes, als sie Jack rufen hörte: »Da ist Dawson City! Endlich sind wir da.«

Sie hatten nicht genau gewusst, wo es lag, und waren während der letzten zwei Tage am Ufer geblieben aus Angst, dass es plötzlich auftauchte und sie von der starken Strömung vielleicht einfach vorbeigetrieben wurden. Aber als sie um einen Felsvorsprung bogen, lag die Stadt vor ihnen. Die berühmte Goldstadt.

Beth wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber die Realität mit den vielen Zelten, Blockhütten, den Läden mit den falschen Fronten und den wacklig aufgetürmten Baumstämmen unterschied sich nur wenig von Skagway. Es gab sogar den gleichen zähen schwarzen Schlamm.

Doch dieser Schlamm reichte vom Ufer direkt bis in die kleine Stadt, und sie konnte keine Bretter sehen, auf denen man hätte gehen können, keine Bürgersteige und nicht einmal Steine, so wie es sie in Skagway gegeben hatte. Pferde und Wagen kämpften sich hindurch, und die Leute versuchten vergeblich, schwer beladene Schlitten darüberzuziehen.

Später erfuhren sie, dass die Stadt bei der Schneeschmelze vor zwei Wochen überflutet worden war und dass das Wasser die direkt am Ufer errichteten Hütten einfach weggeschwemmt hatte. Aber solche Dinge schienen die Leute in Dawson City nur als kleinen Rückschlag zu betrachten, denn sobald die Boote mit Proviant und vor allem den ersehnten Luxusgütern wie Eiern, Whiskey und Zeitungen eintrafen, waren die schlammigen Straßen nicht mehr als eine Unbequemlichkeit.

Es gelang Beth und den beiden Männern, eine Stelle am von Booten übersäten Ufer zu finden, wo sie das Floß festmachen konnten, und sie trugen ihre Sachen bis in den hinteren Teil der Stadt, dem einzigen Platz, wo sie noch ihr Zelt aufschlagen konnten. Sie hatten gehört, dass die Miete für ein Zimmer hundert Dollar im Monat betrug, und Waren des täglichen Lebens wechselten für horrende Summen den Besitzer.

»Gut, dass ich Nägel dabeihabe«, sagte Jack und deutete auf ein Schild, auf dem welche für acht Dollar das Pfund angeboten wurden. »Nicht, dass ich sie verkaufen will – wir brauchen sie, um uns eine Hütte zu bauen.«

»Vielleicht bekomme ich einen guten Preis für die Seiden- und Satinstoffe, die ich mitgebracht habe«, überlegte Beth. Die Männer hatten in Skagway mit ihr gestritten und gesagt, dass sie nur nützliche Sachen mitnehmen solle, aber sie hatte ihren Standpunkt verteidigt und darauf bestanden, dass es in Dawson bestimmt viele Frauen geben würde, die sich verzweifelt nach Kleiderstoffen sehnten. Den fleckigen und eintönigen Sachen nach zu urteilen, die die meisten Frauen hier trugen, hatte sie damit recht.

Nachdem sie ihr Zelt aufgebaut hatten, gingen sie zurück zur Front Street, um sich umzusehen. Diese Straße, von der aus man auf den Fluss blickte, war eindeutig der Ort, an dem sich alles abspielte und an dem sich die Leute versammelten. Saloons, Hotels, Restaurants und Tanzlokale reihten sich hier aneinander, obwohl sie alle offensichtlich hastig zusammengezimmert worden waren. Jede Minute, so schien es, legte ein weiteres Boot an, und die Besitzer schleppten ihre Habseligkeiten an Land, sodass das Chaos immer größer wurde. Tausende von Neuankömmlingen liefen ziellos umher, während die Veteranen, die schon den ganzen Winter lang unter der Knappheit von fast allem gelitten hatten, alles von Besenstielen bis hin zu Büchern von ihnen haben wollten.

Wie am Lake Bennett lagen überall aufgeschichtete Baumstämme, und über den Lärm des Sägens und Hämmerns war schwer zu verstehen, was die Leute sagten. Überall wurde gebaut – Läden, Saloons, Banken und sogar eine Kirche –, doch beunruhigenderweise schien es keinen wirklichen Plan zu geben.

Unten am Ufer hatten die Leute Buden aufgebaut, in denen sie alles von Stiefeln bis hin zu Schalen mit Tomaten zu horrenden Preisen verkauften. Die meisten dieser Lebensmittel waren mit dem Dampfer vor ein paar Tagen hergebracht worden, aber sie sahen auch eine ältere Frau, die sie vom Lake Bennett kannten, die es geschafft hatte, ihre Hühner über den Chilkoot Pass zu bringen, und die sie jetzt für fünfundzwanzig Dollar pro Stück verkaufte.

Es gab unendlich viele Schilder mit der Aufschrift: »Kauf und Verkauf von Goldstaub«. Draußen vor diesen Hütten standen verhärmte Männer mit struppigen Bärten und kleinen Lederbeuteln am Gürtel Schlange und rauchten ihre Pfeifen. Ein Mann in einem grellen karierten Anzug und mit einem schwarzen Stetson-Hut informierte Beth und die Männer, dass dies die Sourdoughs seien, die auf ihren Claims in Forty Mile und am Eldorado Creek Gold gefunden hätten. Er meinte, dass das Gold, das sie heute verkauften, ihnen ein Vermögen bringen würde, doch sie sahen aus wie Landstreicher, die keinen Penny besaßen.

Das alles mochte merkwürdig sein, doch es war bunt und voller Leben. Männer in schicken Anzügen mit Homburg-Hüten liefen zwischen anderen in zerrissenen, schlammbespritzten Sachen, die sie auf dem Weg hierher getragen hatten. Sie sahen eine hübsche Blondine in einem pinkfarbenen Satinkleid, die von einem Mann mit nacktem Oberkörper, der wie ein Preisboxer aussah, über den Schlamm getragen wurde. Überall liefen Hunde herum, die meisten davon Malamute und andere Schlittenhunde, aber es gab auch Frauen, die kleine Schoßhündchen auf dem Arm trugen, und Windhunde und Spaniel, die sich zögernd durch den Schlamm bewegten.

»Es fühlt sich falsch an, das alles ohne Sam zu sehen«, seufzte Jack.

Es war ein Schlüsselmoment, denn Beth hatte das Gleiche gedacht, und sie nahm an, Theo auch. Sie war Jack dankbar dafür, dass er den Mut gehabt hatte, es auszusprechen.

»Wenn er hier wäre, dann würden wir uns jetzt darüber streiten, was wir als Nächstes machen sollen.« Sie lächelte ein wenig, als sie sich vorstellte, wie aufgeregt er jetzt gewesen wäre.

»Dann müssen wir unsere Pläne in die Tat umsetzen, für ihn«, erklärte Theo unerwartet. »Er wollte mehr als wir alle hierher. Also können wir ihn nicht im Stich lassen.«

Tränen brannten in Beths Augen, und sie vergrub das Gesicht an Theos Brust, um sie zurückzuhalten. Er hatte recht – die beste Art, Sams Andenken zu ehren, war, hier Erfolg zu haben. Auf diese Weise konnten sie vielleicht mit dem Verlust fertig werden.

Beth hob den Kopf und wischte sich über die feuchten Augen. »Dann werde ich mir heute Abend einen Saloon suchen, in dem ich spielen kann«, sagte sie. »Und ihr beide müsst euch umsehen, was es sonst für Möglichkeiten gibt.«

Beth ging ins Monte Carlo an der Front Street, während Theo und Jack sich ein paar andere Läden ansahen.

Von außen wirkte das Monte Carlo wie der schickste und vollste aller Saloons, mit frisch gestrichener Fassade und einem großen Bild von Königin Victoria über der Tür, und es hingen Schilder draußen, die behaupteten, dass es Spielzimmer und ein Theater habe. Aber die Holzfassade, die ein feines Inneres versprach, war irreführend. Drinnen war es unscheinbar, nur einen Schritt von einer provisorischen Hütte entfernt, mit dunklen und trostlosen Spielzimmern und einem kleinen, spartanischen Theater mit harten Bänken.

Unbeirrt ging sie zu einem Mann mit einem geschwungenen Schnurrbart und einer schicken Weste hinter der Bar und fragte ihn, ob sie hier Geige spielen könne.

Er musterte sie von oben bis unten und zuckte mit den Schultern. »Wenn du das Risiko eingehen willst, dann ist das deine Sache«, erwiderte er. Es war offensichtlich, dass er nicht glaubte, die junge Frau, die in ihrem schäbigen Kleid und ihren Gummistiefeln vor ihm stand, könne seine Gäste unterhalten.

»Dann wäre es also in Ordnung, wenn ich einfach komme und spiele und am Ende einen Hut rumgehen lasse?«

»Sicher, Schätzchen«, sagte er und wandte sich ab, um ein Glas und eine Flasche zu holen. »Aber erwarte nicht zu viel oder dass ich auf dich aufpasse. Hier geht es abends ganz schön rau zu.«

Die Überzeugung des Mannes, dass sie sich lächerlich machen würde, weckte in Beth den Wunsch, ihm das Gegenteil zu beweisen. Sie ging zurück ins Zelt, wusch sich ihre Haare in einem Eimer, holte ihr rotes Kleid heraus und polierte ihre besten Stiefel. Erst zwei Stunden später erfuhr sie von den Leuten im Nachbarzelt, dass der Mann hinter der Bar Jack Smith war, einer der Männer, die am Bonanza Creek Gold gefunden hatten, und der Erbauer des Monte Carlo.

Offenbar konnte er Leute jedoch nicht besonders gut einschätzen, denn er hatte seinen Partner, Swiftwater Bill Gates, mit zehntausend Dollar in Gold nach Seattle geschickt, um Spiegel, Samtteppiche und Kerzenleuchter für den Saloon zu kaufen. Jetzt hatte sie die Nachricht erreicht, dass Gates tatsächlich nach San Francisco gefahren war und dort der König von Klondike genannt wurde, weil er das Gold mit vollen Händen ausgab, während er in den besten Hotels der Stadt ausgiebig feierte.

Beth amüsierte diese Geschichte, aber sie bestärkte sie auch in ihrem Entschluss. Um sieben Uhr abends stand sie wieder vor dem Monte Carlo, das beinahe wackelte von dem donnernden Lärm, der herausdrang. Aber mit ihrem Federkamm in ihrem glänzenden Haar, dem roten Kleid und Entschlossenheit im Herzen war sie für alles gewappnet. Sie zog ihre schlammigen Gummistiefel aus und ließ sie zusammen mit dem Geigenkasten an der Tür stehen, schlüpfte in ihre sauberen, glänzenden Stiefel, klemmte sich die Geige unter das Kinn, während Theo und Jack ihr nervös zusahen, stimmte dann einen Jig an und ging hinein.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Musik den gesamten Saloon erfüllte. Beth war nervös, ihre Finger feucht von der Hitze im Raum, und es schüchterte sie ein, so viele derb aussehende Männer auf so engem Raum zu sehen. Doch sie rief sich Sams Bild ins Gedächtnis, stellte sich vor, wie er vor ihr stand, so wie er es früher oft bei ihren Auftritten getan hatte. Und sie spielte nur für ihn.

Sie konnte sein Lächeln sehen, die Art, wie seine breiten Lippen sich an den Mundwinkeln hoben und wie auf seiner rechten Wange ein Grübchen erschien. Sie sah seine strahlend blauen Augen und wie er sich sein blondes Haar ungeduldig aus den Augen strich.

In Gedanken verließ sie den stickigen Saloon und kehrte zurück auf das Einwandererschiff, sah zu, wie er mit seinem Charme die Frauen umgarnte, und lachte mit ihm an Deck. Sie sah ihn in ihrem Zimmer in New York auf dem Bett liegen oder im Heaney’s hinter der Bar stehen, während ihm eine ganze Gruppe von Bowery-Huren schöne Augen machte.

Es dauerte eine Weile, bis ihr auffiel, dass es im Saloon nicht mehr laut war, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass einhundert oder noch mehr Männer sie anstarrten. Die meisten waren ungefähr in Sams Alter, aber sie hatten wettergegerbte Gesichter, die sie älter wirken ließen. Einige von ihnen trugen schicke Anzüge, glatte Hemden, Krawatten und Homburg-Hüte, andere waren hemdsärmelig und dreckig, ihre Hosen wurden von Trägern gehalten, und ihre breitkrempigen Hüte hätten einige Geschichten erzählen können. Es gab blasse Europäer, braungesichtige Südamerikaner, Schwarze und auch Indianer. Einige hatten zottelige Bärte oder Schnurrbärte, andere waren glatt rasiert. Und einige Frauen mischten sich ebenfalls in die Menge: eine hübsche, rundliche mit einem federgeschmückten Strohhut, eine andere, die Rosen auf ihrem trug; Frauen in Seide und Spitze, andere in den einfachen Baumwollsachen, in denen sie den mühevollen Weg hierhergekommen waren. Aber egal, wer sie waren, ob sie schon Gold gefunden hatten oder jemandem, der bereits auf welches gestoßen war, dabei halfen, es auszugeben – sie hörten ihr alle zu.

»Bravo!«, rief ein großer Mann in einem karierten Jackett, als sie die erste Nummer beendete. »Hör nicht auf, gib uns mehr!«

Es war nach eins, als Beth sich durch den Schlamm zurück zum Zelt kämpfte. Sie war erschöpft, aber zufrieden, sich in Dawson einen Namen gemacht zu haben, denn Jack Smith hatte behauptet, sie sei die beste Geigerin, die er jemals gehört habe.

Sie hatte keine Ahnung, wo Theo oder Jack waren. Während der ersten Stunde ihres Auftritts hatte sie die beiden noch im Monte Carlo gesehen, aber dann waren sie gegangen und nicht zurückgekehrt. Es hatte ihr nichts ausgemacht, denn in ihren Spielpausen gab es jede Menge Leute, die ihr etwas zu trinken ausgaben und ihr gerne Gesellschaft leisteten.

Der Himmel war so hell wie am Tag, und niemand schien auch nur an Schlaf zu denken, denn die schlammigen Wege zwischen den Zelten und Hütten waren voller Menschen. Über dem Lärm der Massen, die sich an der Front Street amüsierten, dem Lachen, den Unterhaltungen und dem Gläserklirren, konnte sie das Stampfen von Füßen auf einem Tanzboden, das Schnaufen einer mechanischen Orgel und ein Saxofon hören, das eine schwermütige Ballade spielte.

Man hatte ihr erzählt, dass in Dawson City bis acht Uhr morgens etwas los sei, und sie fand das verständlich an einem Ort, wo man von September bis Ende Mai durch Schnee und Eis von der Außenwelt abgeschnitten war.

Um ihre Taille hing ein Lederbeutel, den ihr jemand zugeworfen hatte und der eine Menge Goldstaub enthielt. Sie hatte das kleine Vermögen an Geldscheinen und Geldstücken mit hineingetan, die für sie gesammelt worden waren. Während sie ging, stieß er klimpernd gegen ihre Hüfte und ließ sie zufrieden lächeln. Geld und Erfolg konnten den Tod ihres Bruders nicht wettmachen oder sie dazu bringen, ihn weniger zu vermissen, aber heute Abend hatte sich die dunkle Wolke der Trauer so weit zurückgezogen, dass sie wieder leben wollte.

Eine Woche später wurde Beth um vier Uhr morgens von Wilbur, einem der Barkeeper aus dem Monte Carlo, die Front Street zurück zu ihrem Zelt begleitet.

»Sieht aus, als gäbe es heute ein Spiel mit hohen Einsätzen im Golden Horse Shoe.« Er deutete auf eine Menschentraube, die vor einem Saloon etwas weiter die Straße hinauf stand. »Ich wette, Mack Dundridge spielt dort heute Abend. Die Leute wollen ihm immer beim Kartenspielen zusehen; wenn er gewinnt, gibt er allen einen aus.«

Beth lächelte Wilbur an, denn der große, schlaksige junge Barkeeper aus Seattle brachte sie nicht nur regelmäßig nach Hause, sondern erzählte ihr auch immer Geschichten über die bekannten Persönlichkeiten von Dawson City.

Erst gestern hatte er ihr von Mack Dundridge berichtet, denn Mack war einer der gefeierten Eldorado-Könige. Er war jahrelang auf der Suche nach Gold durch Alaska und das Yukon-Gebiet gezogen, und er war in der Nähe, als George Carmack und Skookum Jim es am Rabbit Creek entdeckten. Mack ging sofort dorthin, als er die Nachricht hörte, und steckte einen Claim ab, der ihm bald ein Vermögen einbrachte. Und Rabbit Creek wurde als Eldorado bekannt.

Aber wie viele jener alten Hasen, die reich geworden waren, konnte Mack mit dem vielen Geld nicht umgehen. Er kam in die Stadt, legte seinen Beutel, einen Lederbeutel mit Goldnuggets, auf die Theke und lud alle ein. Es hieß, dass er einmal einer Tänzerin ein Goldnugget im Wert von über fünfhundert Dollar gegeben hatte, nur damit sie den ganzen Abend mit niemandem außer ihm tanzte.

»Können wir reingehen und zusehen?«, fragte Beth. Obwohl kaum eine Stunde verging, ohne dass sie an Sam dachte, hatten ihre Popularität im Monte Carlo und die aufgeregte und fröhliche Stimmung in der Stadt ihre Laune gebessert. Sie mochte Wilbur und fühlte sich sicher in seiner Nähe, und da Theo und Jack immer erst frühestens um sieben Uhr morgens zurück zum Zelt kamen, sah sie keinen Grund, warum sie sich nicht auch ein bisschen amüsieren sollte.

»Da die Einsätze heute Abend sehr hoch sein werden, wird jemand an der Tür stehen, damit nicht irgendwelches Gesindel hereinkommt. Aber du bist ja kein Gesindel, also schätze ich, dass ich meine Überredungskünste einsetzen kann.« Wilbur grinste.

Er ergriff fest ihren Arm und zog sie durch die Menge, die vor dem Saloon stand und durch die Tür und die Fenster blickte, um mitzubekommen, was drinnen vor sich ging.

»Ihr lasst doch die Klondike Gypsy rein, oder?«, sagte er zu einem stämmigen Mann, der sich ihnen in den Weg stellte. »Sie hat sich in den Kopf gesetzt, sich das Spiel anzusehen, und vielleicht tut sie euch dann auch einen Gefallen und spielt abends mal hier.«

An der Art, wie der große Mann zu ihr herunterlächelte, wurde Beth klar, dass ihr Name tatsächlich in der Stadt bekannt war, und das fühlte sich gut an.

»Sie sind im Golden Horse Shoe willkommen, Miss Gypsy«, erklärte er. »Aber lenken Sie die Spieler nicht ab mit Ihrem hübschen Gesicht oder mit Ihrer Geige.«

Trotz der hell erleuchteten Straße war es im Saloon düster, und man konnte nichts sehen, denn Männer standen Schulter an Schulter und beobachteten etwas hinten im Raum. Aber Wilbur nahm Beths Arm und führte sie an die Seite, wo die Menge nicht so dicht stand.

Er ließ sie dort stehen, um ihnen etwas zu trinken zu holen. Beth konnte die Spieler hinter der dichten Wand aus Männerschultern nicht sehen, aber sie spürte an der Spannung, die im Raum herrschte, dass etwas Ungewöhnliches passierte.

»Gewinnt Mack?«, flüsterte sie einem großen Mann zu, der neben ihr stand.

»Zuerst schon, aber die letzten beiden Spiele hat er verloren«, flüsterte er zurück. »Ich schätze, heute ist einer dieser Abende, an denen er seinen Claim aufs Spiel setzt.«

Wilbur hatte ihr erzählt, dass Mack sich seinen Ruf als Spieler, der hohe Einsätze nicht scheut, dadurch erworben hatte, dass er immer bis ans Limit ging und bereit war, alles zu riskieren, was er hatte. Es hieß, er habe an einem Abend eine halbe Million Dollar verloren, sei jedoch am folgenden Abend wiedergekommen und habe alles zurückgewonnen.

»Mit wem spielt er?«, flüsterte sie.

»Mit dem Schweden, Dangle und einem Kerl, den ich noch nie gesehen habe«, flüsterte der Mann zurück.

Die Leute in Dawson gaben allen Spitznamen; offenbar zeigten sie so, dass sie denjenigen akzeptierten. Aber da Beth weder dem Schweden noch Dangle begegnet war, hatte sie das Gefühl, sie sehen zu müssen, deshalb ging sie weiter zu dem Pfosten, der das Dach hielt, schob sich daran vorbei und drängte die Männer dort zur Seite.

Sie keuchte, als sie die Spieler schließlich sah, denn einer von ihnen war Theo.

Über dem Tisch hing eine verzierte Petroleumlampe, die einen goldenen Lichtkreis in den ansonsten dunklen Raum warf. Am Rande des Kreises und hinter Theo konnte sie Jack erkennen, der an der Wand lehnte und das Spiel beobachtete, und sie erkannte an seiner Haltung, dass er sehr nervös war.

Die drei Männer, mit denen Theo spielte, waren typische Sourdoughs, bärtig, mit zotteligem Haar, einfacher Kleidung und wettergegerbten Gesichtern. Der glatt rasierte Theo in seinen eleganten Sachen und den glänzenden Schuhen wirkte fehl am Platz, obwohl er nicht viel jünger war als die anderen. Er hatte schon ein paar Mal eine größere Summe gewonnen, seit sie in Dawson waren, aber Beth war ziemlich sicher, dass diese Gewinne nicht annähernd ausreichten, um bei so hohen Einsätzen mitzugehen.

»Welcher ist Mack Dundridge?«, fragte sie den Mann neben ihr leise.

»Der Typ mit den rotbraunen Haaren«, erwiderte er. »Niemand kann ihn beim Pokern schlagen, und er bleibt sitzen, bis er alle anderen ausgenommen hat.«

Beth zog sich zurück, damit Theo sie nicht sah, und beobachtete ihn noch einen Moment. Er sah locker und entspannt aus, schien sich auf seinem Stuhl zurückzulehnen, und das Licht über ihm betonte seine hohen Wangenknochen. Aber sie wusste genug über Poker, um zu wissen, dass es ein Bluff war, also war er vielleicht genauso nervös wie Jack.

Die Spannung im Raum wuchs mit jeder Sekunde, und Beth wusste, dass sie es nicht ertragen konnte, Theo erneut verlieren zu sehen.

»Ich habe es mir anders überlegt. Ich will nicht hierbleiben«, sagte sie, als sie Wilbur entgegenging, der durch den Saloon auf sie zukam. Sie nahm ihm das Glas, das er ihr mitgebracht hatte, aus der Hand und stürzte den Whiskey in einem Schluck herunter. »Würdest du mich bitte nach Hause bringen?«

Es war immer schwer, bei dem ständigen Sonnenlicht einzuschlafen, aber Beth war so nervös, dass es ihr nicht einmal gelang, die Augen zu schließen. Sie hatte sich während des letzten Jahres daran gewöhnt, dass Theo verlor, aber ihres Wissens hatte er noch nie um mehr gespielt, als er sich leisten konnte zu verlieren. Hier war das anders: Goldgräber, Saloonbesitzer, Ladeninhaber und Tänzerinnen – sie alle waren im Grunde Spieler. Da an jedem Abend beiläufig ein Vermögen den Besitzer wechselte, konnte selbst der vernünftigste Mensch ganz leicht den Bezug zur Realität verlieren.

Sie musste zwei Stunden wach gelegen haben, als sie hörte, wie Theo und Jack sich dem Zelt näherten. Sie stolperten, so als wären sie betrunken, und das ließ sie noch wütender werden.

Theo steckte den Kopf durch den Zelteingang. »Bist du wach, mein Schatz?«, fragte er und grinste dümmlich.

»Jetzt schon«, erwiderte sie sarkastisch.

Theo zog den Kopf zurück und sprach mit Jack. »Sie ist wütend auf mich«, sagte er. »Glaubs’ du, sie wird noch wütender, wenn ich ihr die Neuigkeiten erzähle?«

»Ihr werdet alle Nachbarn wütend machen, wenn ihr sie aufweckt«, sagte Beth kurz angebunden. »Also kommt rein, und seid ruhig.«

Sie stolperten herein, und Jack ließ sich neben sie fallen. »Tut mir leid, dass wir betrunken sind. Aber wir mussten feiern, dass Theo ein Grundstück an der Front Street gewonnen hat.«

Beth setzte sich abrupt auf. »Hat er?« Sie war erstaunt: Ein Grundstück an der Front Street kostete um die vierzigtausend Dollar.

»Sicher, mein Schatz«, sagte Theo und legte sich auf die andere Seite neben sie. »War ein spannendes Spiel mit Mack Dundridge. Die Leute meinten, man könne ihn nicht schlagen, aber da haben sie sich geirrt.«

Beth runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wenn Theo prahlte, und sie fragte sich kurz, ob er vielleicht betrogen hatte.

»Mach dir keine Sorgen, Beth.« Jack grinste sie an, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Er hat auf ganz ehrliche Art gewonnen. Und er war so vernünftig, aufzuhören, nachdem er den Kerl dazu gebracht hatte, um das Grundstück zu spielen. Wäre vielleicht anders ausgegangen, wenn er seine Goldmine gesetzt hätte.«

»Jetzt sind wir gemachte Leute«, gluckste Theo. »Wir können uns einen eigenen Spielsalon bauen und in den Zimmern im ersten Stock wohnen. Du kannst sogar das Badezimmer bekommen, das du immer haben wolltest.«

Sie waren zu betrunken, um ihr richtig schildern zu können, wie es dazu gekommen war, aber Beth verstand genug, um zu begreifen, dass Theo es darauf angelegt hatte, dass Mack das Grundstück an der Front Street einsetzte.

»Ich bin davon ausgegangen, dass er nicht allzu sehr daran hängt«, erklärte Theo mit einem selbstzufriedenen Grinsen. »Wenn es um seine Goldmine gegangen wäre, dann hätte er mich am Tisch festgehalten, bis er sie zurückhat.«

»Theo hat ein Bombenspiel gemacht«, sagte Jack, und sein Gesicht strahlte vor Bewunderung. »Ich dachte, er hätte am Ende ein schlechtes Blatt; er hat geschwitzt wie ein Schwein und sah richtig panisch aus. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als Mack es sehen wollte. Ich konnte nicht mal hinsehen. Aber er hatte vier Neunen, Mack vier Achten. Die Leute haben alle verrückt gespielt. Sogar Mack sagte, er habe seinen Meister gefunden.«

Beth legte sich wieder hin und versuchte einzuschlafen, nachdem die Männer rausgegangen waren, um ihre Pfeifen zu rauchen, aber der Klang ihrer betrunkenen, aufgeregten Stimmen, als sie über den geplanten Spielsalon sprachen, hinderte sie daran.

Sie war aufgeregt und hatte keinen Zweifel daran, dass die beiden ihn bauen würden. Jack würde dafür sorgen. Sie hatte sogar das Gefühl, dass es ihnen allen die Trauer um Sam leichter machen würde, denn sie würden seinen Traum verwirklichen.

Aber zu bekommen, was sie sich schon so lange wünschten, so einfach, nur durch ein bisschen Kartenglück, fühlte sich merkwürdig und unwirklich an.

In den folgenden Tagen dachte Beth, während die Männer mit dem Bau ihres Spielsalons begannen, oft darüber nach, dass alles in dieser Stadt merkwürdig war: die Sonne, die vierundzwanzig Stunden schien, der Schlamm, der nicht trocknete, die falschen Fronten der Saloons und die Dampfer, die fast täglich Champagner, Austern und jede andere Art von Luxus aus Seattle oder San Francisco brachten.

Es wirkte bizarr, dass sie alle gezwungen worden waren, eine Tonne Proviant über die Berge zu schleppen, nur um jetzt festzustellen, dass niemand Mehl, Zucker oder Reis brauchte oder wollte. Noch bizarrer war, dass alle diese vielen Tausend Menschen, die für diese Reise alles verpfändet hatten, was sie besaßen, die ihre Gesundheit und ihren Verstand aufs Spiel gesetzt hatten, um reich zu werden, jetzt gar nicht nach Gold suchten.

Die Männer und sie hatten niemals vorgehabt, Goldgräber zu werden. Aber fast alle anderen. Doch sobald sie ihre Boote vertäut hatten, und inzwischen lagen sie in Sechserreihen am Ufer, hingen diese Leute nur in der Stadt herum, anstatt zu den Flussläufen weiterzuziehen, an denen man Gold gefunden hatte. Es war, als genüge es ihnen, endlich hier zu sein.

Beth konnte die Müdigkeit verstehen, denn die Mehrheit der Leute hatte ein ganzes Jahr gebraucht, um herzukommen, und sie waren auf jede erdenkliche Weise an ihre Grenzen gestoßen. Die meisten hatten alle Brücken hinter sich abgebrochen, hatten ihre Jobs gekündigt, ihre Heimat und manchmal sogar Frau und Kinder zurückgelassen und ihr ganzes Geld ausgegeben. Sie hatten ihre Gesundheit, ihren Verstand und in einigen Fällen ihr Leben riskiert. Aber sicher hätten ein paar Tage Ruhe in ihnen wieder neue Lebensgeister wecken müssen? Warum versuchten sie jetzt, ihre Ausrüstung zu verkaufen, um den nächsten Dampfer nach Hause zu nehmen? Wie konnte diese Gier nach Gold plötzlich verschwinden? Oder war das Gold niemals der wirkliche Grund gewesen, und sie hatten nur einmal im Leben ein echtes Abenteuer erleben wollen?

Es hieß, dass es in Dawson jetzt geschätzte achtzehntausend Menschen gab und weitere fünftausend, die an den umliegenden Flussläufen nach Gold schürften, sodass die Stadt fast so viele Einwohner hatte wie Seattle. Weil es keinen Platz mehr für weitere Zelte oder Hütten gab, gingen die Leute jetzt auf die andere Seite des Flusses an einen Ort, der von allen Louse Town genannt wurde.

Unten am Ufer war ein großer Marktplatz entstanden, wo Hunde, Pferde, Schlitten und Säcke mit Mehl, geflickte Hemden, abgenutzte Äxte, lange warme Unterwäsche für den Winter, Mäntel und hohe Stiefel angeboten wurden. Die Leute sahen sich alles ganz genau an, und zur Enttäuschung der Verkäufer, die nach Hause fahren wollten, wurden die meisten Sachen abgelehnt.

Aber jeder Dampfer brachte noch einmal Hunderte von Leuten: Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Huren, Bankangestellte, Ärzte, sogar Geistliche. Es gab große Familien, elegante Damen mit Federhüten, deren Ehemänner Stehkragen und Frack trugen, und kleine Kinder. Sie waren meistens auch nur gekommen, um sich alles anzusehen, denn sie hatten nicht vor, nach Gold zu schürfen.

Es war ein verrückter, wilder Ort, eine Stadt der Flüchtlinge, von denen einige vor dem Gesetz weggelaufen waren, andere vor nörgelnden Ehefrauen oder brutalen Ehemännern, vor Schulden, langweiligen Jobs oder den Slums in den Städten. Die Moralvorstellungen und die gesellschaftliche Ordnung der Welt da draußen bedeuteten hier nichts. Männer bändelten mit Tänzerinnen an, eine Frau konnte ohne männliche Begleitung in einen Saloon gehen und trinken, und selbst die Huren wurden respektvoll behandelt. Man konnte hier alles sein, was man wollte; woher man kam, spielte keine Rolle. Diejenigen, die reich geworden waren, halfen denen, die nichts hatten. Es war fast, als würden die Leute in dem Moment, in dem sie das Schiff verließen, ihre alte Haut abstreifen und in eine neue, bequemere schlüpfen.

Doch im Moment passte Beth das gut. Wenn sie Geige spielte, konnte sie all das vergessen, was sie verloren hatte, und dass sie kein wirkliches Zuhause hatte.

Die tiefe Traurigkeit in ihrem Innern schien ihrer Musik eine neue Dimension zu geben, und sie hatte festgestellt, dass sie sie benutzte, um mit den Emotionen ihrer Zuhörer zu spielen. Wenn eine ihrer Melodien sie an ihre verflossenen Liebhaber, an ihre Mütter oder ihre Kinder erinnerte, dann warfen sie Geld in den Hut. Beth hatte nicht das Gefühl, dass sie irgendjemanden ausbeutete; schließlich gab sie all das Geld, das sie verdiente, weiter, an die Frau, die das Brot backte, an den Jungen, der Eier verkaufte, und das Paar aus Idaho, das ein Restaurant führte. Es würde sie auch eines Tages zurück zu Molly bringen.

Am späten Nachmittag des 3. Juli war Beth in der Front Street und sah zu, wie Jack und ein paar von ihm engagierte Männer die Fassade ihres Saloons bauten. Das Tempo, mit dem Jack sich an die Arbeit gemacht hatte, war erstaunlich. Innerhalb einer Woche stand der Rohbau des Saloons; am Ende der zweiten war das Dach gedeckt, und er verlegte die Böden im ersten Stock. Die langen Tage und die Anzahl der Männer, die Arbeit suchten, halfen ihm dabei. Jetzt war das Gebäude fast fertig, hatte oben drei Zimmer, unten einen großen Raum für den Saloon sowie eine Küche und Lagerräume im hinteren Teil des Hauses.

»Das sieht gut aus, Jack«, rief Beth ihm zu. »Aber morgen arbeitest du doch nicht, oder? Dann ist Unabhängigkeitstag.«

Obwohl Dawson City in Kanada lag, gab es eine große Feier mit Tanz, gebratenen Schweinen und Feuerwerk, weil die meisten Einwohner aus Amerika kamen. Beth hatte sich eine gute Schneiderin gesucht und sich aus der pinkfarbenen Seide, die sie über den Pass mitgebracht hatte, ein neues Kleid nähen lassen.

Jack hörte auf zu arbeiten und grinste sie an. »Ich schätze, ein freier Tag wird mich nicht umbringen! Hast du Theo heute schon gesehen? Ich könnte Hilfe gebrauchen.«

»Er ist zur Post gegangen«, rief Beth zurück. »Du weißt doch, wie es dort ist.«

Die Zustellung der Post war ein großes Problem in Dawson. Sie wurde auf vielen Booten hin und her transportiert, aber oft aus Versehen nach Juneau, Haines oder in eine der kleinen Städte an der Inner Passage gebracht. Bei den vielen tausend Leuten, die hier lebten, waren die Schlangen vor der Post oft so lang, dass es Tage dauern konnte, das Ende zu erreichen, und die meisten wurden enttäuscht, denn es gab keine Briefe für sie. Beth hatte sich noch nie in die Schlange gestellt, denn die einzigen Leute, die ihr schrieben, waren die Langworthys, und selbst wenn der Brief mit ihrer wahrscheinlichen Ankunft in Dawson, den sie vom Lake Lindemann aus geschickt hatte, schon angekommen war, konnte es Monate oder noch länger dauern, bis die Antwort sie erreichte.

Sie hatte noch einen Brief geschrieben, als sie hier angekommen waren, in dem sie von Sams Tod berichtete, aber der würde noch immer auf einem Dampfer auf dem Weg nach Seattle sein.

Theo jedoch hatte sich in die lange Schlange gestellt, um seiner Familie ein Telegramm zu schicken und sie wissen zu lassen, wo er war. Lachend hatte er erklärt, dass sich sein Vater und sein älterer Bruder nicht dafür interessieren würden, aber seine Mutter und seine jüngeren Schwestern schon. Beth glaubte allerdings eher, dass er es eigentlich tat, um damit angeben zu können, wie gut es ihm ging, denn er wusste, dass es sich bei seinen alten Freunden herumsprechen würde.

»Wenn du ihn siehst, dann sag ihm, ich brauche ihn«, sagte Jack. »Er ist ein fauler Hund und nur in der Nähe, wenn es ihm gerade passt.«

Beth kommentierte das nicht. Theo half nicht genug mit, aber das hatte er ja nie getan. Er schien zu glauben, dass sein Teil der Arbeit mit dem Gewinn des Grundstücks und dem Geld, das er Jack für Holz und andere Materialien gegeben hatte, abgegolten war. Jack musste sich um alles kümmern, vom Bau des Saloons bis hin zum Kauf von Holz und dessen Transport hierher. Abends kam Theo fast nie ins Monte Carlo, um Beth spielen zu hören, sie musste oft allein essen, und er kehrte fast nie vor sieben oder acht Uhr morgens ins Zelt zurück und schlief dann den ganzen Tag. Manchmal fragte sie sich, ob er sie überhaupt zu schätzen wusste.

Sie beschloss, runter zur Post zu laufen und nachzusehen, wie weit er in der Schlange schon vorgedrungen war. Aber als sie um die Ecke der Front Street bog, sah sie ihn durch die Menge auf sich zukommen. Sie winkte, und als er sie entdeckte, lächelte er strahlend.

Obwohl sie inzwischen etwas desillusioniert war, was seinen Charakter anging, verging kaum ein Tag, an dem Beth nicht dachte, wie gut er aussah. Selbst damals im Winter, in einen schweren Mantel gehüllt, mit Hut und Schal und einem dichten Bart, der die Hälfte seines Gesichts bedeckte, hatten seine dunklen, ausdrucksvollen Augen ihr Herz immer noch schneller schlagen lassen.

Sogar in dieser ungehobelten Stadt war es ihm irgendwie gelungen, wie der perfekte englische Gentleman zu wirken. Er hatte sich schon auf dem Fluss den Bart abrasiert und sich fast sofort nach ihrer Ankunft hier die Haare schneiden lassen. In seinem beigefarbenen Leinenjackett, mit der roten Krawatte und dem Panama-Hut hätte er auf dem Weg nach Ascot sein können. Nur der Schlamm an seinen braunen Reitstiefeln störte das Bild, etwas, worüber er fast täglich schimpfte, während er sie putzte.

»Du hast einen Brief bekommen«, rief er, als er näher kam. Er zog einen Umschlag aus seiner Tasche und winkte ihr damit zu. »Sie wollten ihn mir nicht geben, weil er an Miss und Mr Bolton adressiert ist, aber als ich ihnen sagte, dass es der Mädchenname der Gypsy aus dem Monte Carlo ist, durfte ich ihn mitnehmen.«

Beth lachte. »Er ist von den Langworthys«, sagte sie, weil sie die Handschrift schon von Weitem erkannte, und rannte die wenigen Schritte auf ihn zu, um ihn ihm zu entreißen. »Aber sie können meinen Brief vom Lake Lindemann doch sicher noch nicht bekommen haben, oder?«

»Dawson City ist überall auf der Welt in den Nachrichten«, erwiderte Theo. »Ich schätze, sie haben beschlossen, dir hierher zu schreiben, weil sie wussten, dass du irgendwann hier eintreffen würdest.«

»Er sieht aus, als wenn er nass geworden wäre«, beschwerte sich Beth, denn der Umschlag war fleckig und die Tinte verschmiert.

»Einige der Briefe waren so durchnässt, dass die Umschläge nicht mehr lesbar waren oder ganz fehlten«, erklärte Theo. »Heute gab es jede Menge enttäuschter Leute, aber du gehörst zu den Glücklichen.«

Beth riss den Umschlag auf, weil sie nicht länger warten konnte. Liebe Beth und lieber Sam, las sie. Es gibt keine Möglichkeit, Euch diese schreckliche Nachricht zu übermitteln, außer sie einfach aufzuschreiben.

Ein kalter Schauer lief Beth über den Rücken, aber sie musste weiterlesen.

Also vergebt mir bitte meine Direktheit, wenn ich Euch mitteile, dass unsere wunderbare kleine Molly vor zehn Tagen, am 7. März, an einer Lungenentzündung gestorben ist. Sie hatte im Februar einen schlimmen Husten bekommen, und trotz allem, was wir und der Doktor versuchten, trotz all der Medizin und der Pflege, wurde daraus eine Lungenentzündung. Sie starb im Schlaf, während ich bei ihr saß.

Edward und ich sind untröstlich. Wir haben sie so sehr geliebt, und alles ist so trostlos und kalt ohne sie. Aber ich denke auch an Euch beide, die Ihr so weit weg seid, denn wir wissen, dass es ein schlimmer Schock für Euch sein wird, genau wie für alle anderen, die sie liebten. Bitte glaubt uns, dass wir alles für sie getan haben, was wir konnten. Die Beerdigung hat eine Woche nach ihrem Tod, am 14. März, stattgefunden; es war ein wunderbarer und bewegender Gottesdienst in St. Brides ... Edward, Mrs Bruce, die Köchin und Kathleen senden Euch alle ihr Beileid, und wir hoffen sehr, dass dieser Brief Euch irgendwie erreicht. Wir lesen immer alles, was die Zeitungen über Klondike berichten, und fragen uns, ob Ihr wohl heil dort angekommen seid. Wir denken an Euch und schließen Euch in unsere Gebete ein; bitte besucht uns, wenn Ihr nach England zurückkehrt. Und Edward und ich möchten Euch noch einmal danken für die große Freude, die Ihr uns damit gemacht habt, dass wir uns um Molly kümmern durften. Sie war vielleicht nur vier kurze Jahre bei uns, aber für uns waren es die glücklichsten von allen.

Wir denken an Euch in dieser unendlich traurigen Zeit

Ruth Langworthy

»Was ist, Beth?«, fragte Theo, schockiert über ihr entsetztes Gesicht.

»Molly ist tot«, antwortete sie mit leiser, gequälter Stimme und sah ihn verzweifelt an. »Sie ist an einer Lungenentzündung gestorben.«