29
»Wir sind endlich da!«, gluckste Jack vergnügt, während er den Schlitten über das Ende der schmalen Verbindung zwischen dem Lake Lindemann und dem Lake Bennett schob.
Die meisten ihrer Mitreisenden über den Chilkoot Pass waren am Ufer des Lake Lindemann geblieben, um dort die Boote zu bauen, die sie nach Dawson City bringen sollten, aber da Jack gehört hatte, dass es nach der Schneeschmelze gefährliche Stromschnellen zwischen den beiden Seen gab, beschloss er, dass sie bis zum Lake Bennett weiterziehen und dort ihr Boot bauen würden.
Theo war verärgert über diese seiner Ansicht nach unnötige Weiterreise. Ihm hatte die Zeltstadt am Lake Lindemann gefallen, wo ein Spielsalon, Bars, Läden und sogar Restaurants entstanden waren, und er war sicher gewesen, dass er genug beim Pokern gewinnen konnte, um sich eines der vielen zerlegbaren Boote zu kaufen, die von einem Händler über den Chilkoot Pass gebracht wurden. Jack und er hatten sich deswegen fast gestritten, denn Jack behauptete, dass diese Boote sie keine zehn Meilen weit bringen würden, geschweige denn fünfhundert, und er beschuldigte Theo, nur zu faul zu sein, beim Bau eines sicheren Bootes zu helfen.
Beth war während der wenigen Tage am Lake Lindemann sehr angespannt gewesen, denn sie konnte spüren, wie sehr sich Jack inzwischen über Theo ärgerte. Jack hatte ihm beim Überqueren der Berge Gepäck abgenommen. Er hatte ihn vom Happy Camp bis zum Lake Lindemann auf dem Schlitten gezogen, weil seine Schulter wehtat, und Theo hatte nicht beim Holzhacken und anderen schweren Arbeiten helfen müssen. Aber es gefiel ihm nicht, dass Theo herumlief und ihn wie einen Diener behandelte. Beth hatte Angst, dass Jack allein nach Dawson City weiterziehen würde, aber sie hätte es ihm nicht verübeln können.
Tatsächlich verlor Theo fast das ganze Geld, das ihm noch geblieben war, bei einem Pokerspiel, also kam der Kauf eines Bootes nicht mehr infrage, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich Jacks Plänen zu fügen.
Er war jedoch nicht besonders glücklich darüber. Beth hatte das Gefühl, dass Theo trotz seines überlegenen Gehabes heimlich eifersüchtig auf Jack war, weil ihn so viele Leute bewunderten, während er als Parasit galt. Er sagte kaum ein Wort, während sie über den zugefrorenen See gingen, nicht einmal zu ihr.
Aber insgeheim war Beth ebenfalls wütend auf ihn. Obwohl sie nicht mehr daran denken wollte, wie sehr er sie in Skagway verletzt hatte, und sie gerne wieder so für ihn empfunden hätte wie in Vancouver, fiel ihr das schwer.
Doch als sie weiter über den Lake Bennett zogen, waren die Spannungen zwischen ihnen vergessen, denn der Anblick, der sich ihnen bot, war wirklich erstaunlich.
Abgesehen von der atemberaubenden Schönheit des langen, schmalen zugefrorenen Sees zwischen den schneebedeckten Bergen, zogen sich Zelte an seinem Ufer entlang, so weit das Auge reichte.
Die Tausende von Zelten hatten alle möglichen Formen und Größen: brandneue und alte, zerschlissene, winzige improvisierte, die nur einem Mann Unterschlupf boten, riesige Großzelte, in denen ein Zirkus hätte auftreten können, und jede Art dazwischen.
Sie hatten gewusst, dass der White Pass, die alternative längere Route von Skagway über die Berge, ebenfalls hier endete, deshalb waren sie davon ausgegangen, dass andere Leute hier sein würden. Aber mit so vielen hatten sie nicht gerechnet und auch nicht mit so vielen Tieren.
Der White Pass wurde auch »der Pass der toten Pferde« genannt, weil viele Hundert Pferde auf dem Weg an Hunger und Misshandlung starben. Einer der Mounties an der Grenze hatte sich über die Grausamkeit und die Dummheit der Leute beklagt, die nicht genug Futter für ihre Tiere mitnahmen. Doch hier gab es viele Pferde und auch Hunde, Ochsen, Esel, Ziegen und sogar Käfige mit Hühnern.
Außerdem erklang eine Kakofonie von Geräuschen: das Auftreffen von Äxten auf Holz, das Sirren von Sägen, ständiges Hämmern, bellende Hunde und Leute, die sich etwas zuriefen. Vor ein paar Jahren musste das hier noch eine stille Wildnis gewesen sein, durch die nur hin und wieder Indianer oder Trapper kamen. Jetzt entstand hier eine Stadt.
Theos Laune besserte sich sichtlich, als er ein großes Zelt sah, in dem offenbar allabendlich Poker und Faro gespielt wurde, und obwohl es Beth nicht glücklich machte, dass er dort vielleicht auch noch sein letztes Geld verlieren würde, freute sie sich, ihn wieder lächeln zu sehen. Sie ging auch davon aus, dass sie hier mit ihrer Geige etwas Geld verdienen konnte, so wie am Lake Lindemann.
»Wie weit noch?«, knurrte Theo, als Jack eine Stunde später immer noch weiter den See hinunterlief.
»Da unten gibt es mehr Bäume. Es wird anstrengend genug werden, sie für das Boot zu schlagen, ich möchte sie nicht auch noch ein ganzes Stück schleppen müssen«, erwiderte Jack angespannt.
Beth und Sam sahen sich an. Sie wusste, dass ihr Bruder das Gefühl hatte, zwischen den Stühlen zu stehen, denn er mochte beide Männer und verstand beide Seiten. Auch er trank und spielte gerne, und er war noch immer überzeugt davon, dass Theo derjenige war, der sie am Ende alle reich machen würde. Doch gleichzeitig wusste er, dass sie alle drei von Jack abhingen, denn nur er besaß die Fähigkeiten, die nötig waren, um sie alle heil nach Dawson zu bringen.
Sam zog eine Grimasse. Er musste nichts sagen – Beth wusste, dass er fand, dass Jack ein bisschen zu forsch und herrisch war und dass ihnen allen zwei Tage Pause guttun würden, bevor sie mit dem Bau des Bootes anfingen.
Sie beschloss, sich einzumischen, deshalb hob sie ihre Röcke und rannte Jack hinterher. »Können wir uns nicht zwei Tage ausruhen, bevor wir mit dem Bau des Bootes anfangen?«, fragte sie ihn. »Ich meine, es ist doch erst März, und das Eis schmilzt erst Ende Mai, also bleibt uns doch noch jede Menge Zeit.«
Jack blieb abrupt stehen, ließ das Seil los, mit dem er den Schlitten zog, und sah sie amüsiert an. »Siehst du, wie viele Leute schon hier sind?«
»Ja. Und?« Sie zuckte mit den Schultern.
»Und es werden jetzt jeden Tag mehr werden«, erklärte er ihr geduldig. »Sie kommen zu Tausenden über die beiden Pässe, und bald werden alle Bäume, die du jetzt noch siehst, abgeholzt sein. Wir müssen uns sofort, nachdem wir unser Lager aufgeschlagen haben, Stämme für das Boot sichern, sonst riskieren wir, dass wir nichts mehr bekommen.«
Beth blickte ihn bewundernd an. Er sah genauso dreckig und fertig aus wie die anderen Männer, mit seinem buschigen Bart, dem verfilzten langen Haar und der vom bitterkalten Wetter aufgesprungenen Haut. Aber in seinen Augen lag nicht dieses intensive Goldfieber, das sie in denen der anderen sah. Sie bezweifelte, dass er überhaupt so wie Theo und Sam von großen Reichtümern träumte.
»Na gut.« Sie nickte. »Das macht Sinn, aber sag mir, Jack Child, was treibt dich eigentlich an? Ich glaube nicht, dass es das Gold ist.«
Er lachte leise und blickte zurück zu Sam und Theo, die sich auf ihren Schlitten ausruhten. »Jemand muss euch doch sicher dorthin bringen.«
»Das beantwortet nicht meine Frage«, gab sie zurück.
Lächelnd streichelte er kurz ihre Wange. »Ich dachte, das tut es.«
Mitte Mai hatten sie das Boot fertig, ein breites Floß mit einem Mast, einem Ruder und Brettern an den Seiten, um sie und ihr Gepäck zu sichern, falls sie in Stromschnellen gerieten. Die Männer hatten es »Gypsy« getauft und den Namen und die Bootsnummer, 682, auf das Brett vorne am Bug geschrieben. Generalmajor Samuel Steele, der Leiter der North-West Mounted Police, hatte angeordnet, dass alle Boote registriert werden mussten, und er war herumgegangen und hatte allen Goldsuchern jeweils eine Nummer gegeben und die Passagiere auf jedem Boot und die Namen ihrer Angehörigen notiert, für den Fall, dass ihnen auf dem langen Weg nach Dawson City etwas zustieß.
Das Floß lag auf dem Eis am Ufer, zusammen mit Tausenden von anderen Booten, und wartete auf den Tag, an dem das Eis schmelzen würde. Viele Boote sahen ganz anders aus als alle, die Beth und die Männer jemals gesehen hatten; es gab dreieckige, runde und ovale Formen, riesige Flöße, auf denen man sogar Pferde transportieren konnte, Schuten, Ruderboote, Katamarane, Kanus und schließlich welche, die kaum mehr als zusammengehämmerte Kisten waren.
An vielen wurde noch gebaut, und trotz des Sonnenscheins und des klaren blauen Himmels hörte man Zank, Hämmern, Sägen und oft Flüche, denn diejenigen, die mit ihren Booten noch nicht fertig waren, hatten Stress und Panik, und alle anderen waren voller Erwartung.
Es hieß, dass sich jetzt ungefähr zwanzigtausend Menschen am Lake Bennett befanden, und ihre Zelte und ihre Ausrüstung nahmen das gesamte Ufer ein. Es gab inzwischen jede nur erdenkliche Einrichtung, inklusive Badezelten, Barbierzelten, einer Kirche, eines Spielsalons und einer Post, und natürlich Geschäfte, in denen man alles vom Brot bis hin zu Gummistiefeln kaufen konnte. Und weil die Mounties über alles wachten, gab es keine Verbrechen oder Betrügereien wie in Skagway. Man erzählte sich, dass einige von Soapys Schergen über den Pass gekommen waren, doch sie wurden mit der dringenden Warnung zurückgeschickt, ja nicht wiederzukommen.
Streit gab es nur zwischen den Männern in ihren Sägegruben, wenn sie aus den Stämmen Bretter für die Boote machten. Sie mussten zu zweit jeweils an einem Ende einer zwei Meter langen Säge arbeiten, einer oben auf dem Gerüst, auf dem der Baum auflag, einer darunter. Der Mann oben lenkte die Säge an der Kreidelinie auf dem Stamm entlang, während der Mann unten ziehen musste, aber während die großen Sägezähne sich durch das Holz gruben, fielen alle Sägespäne auf den Mann, der unten stand. Er war oft davon überzeugt, dass sein Kumpel die Säge nicht korrekt führte, genauso wie der Mann oben behauptete, der unten würde den Griff der Säge zu fest halten. Erbitterter Streit endete oft in blutigen Kämpfen, und lebenslange Freundschaften, die auf dem Weg hierher alle Prüfungen überstanden hatten, waren für immer zerstört.
Jack, Sam und Theo vermieden das, indem sie beschlossen, ein Floß aus ganzen, dünneren Stämmen zu bauen, anstatt ein Boot aus Brettern, aber dennoch gab es viel Fluchen und Zank zwischen ihnen. Theo hatte das Gefühl, für körperliche Arbeit nicht gemacht zu sein, und verschwand oft. Sam war zwar willens, aber auch er machte es sich leicht, wenn Jack nicht ständig alles überwachte. Beth hatte Jack oft mit beiden schimpfen und ihn drohen hören, dass er ohne sie weiterziehen würde, wenn sie nicht mithalfen.
Aber jetzt war die Arbeit getan. Sie mussten nur noch das Segel setzen und ihre Sachen an Bord bringen, und während die Frühlingssonne jeden Tag wärmer schien und die Tage länger wurden, konnte sie in der Ferne das Rumpeln von Lawinen auf den Bergen hören und das Gurgeln des schmelzenden Schnees.
Die meisten, die mit dem Bootsbau schon fertig waren, verbrachten ihre Tage damit, am Ufer zu sitzen und auf das dunkelgrüne Wasser des Sees zu schauen, das jetzt durch das Eis sichtbar war, während sie ein weiteres Paddel oder Ruder schnitzten. Jemand hatte ein paar Tage zuvor gescherzt, dass der Zug zu den Goldfeldern eine »Stampede« sei. Diese Bezeichnung war für sie alle ein Witz, denn die Goldsucher hatten keineswegs alles in Panik überrannt, sondern es war ein sehr langsamer, schmerzhafter, mühseliger Weg gewesen, auf dem drei Monate lang ihr Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt worden war. Keiner der Männer hatte noch einen Bauch, ihre Körper waren schlank und muskulös, und ihre ausgemergelten Gesichter, die dichten Bärte und das lange Haar bewiesen, dass sie nicht länger Greenhorns waren. Sie grinsten stolz, während sie von denen erzählten, die aufgegeben hatten und zurück nach Hause gegangen waren. Sie fühlten sich miteinander verbunden, weil sie zusammen alle Qualen und Hindernisse überwunden hatten.
Die Frauen hatten jedoch noch immer keine Zeit, am Ufer zu sitzen. Für sie gab es Kleidung zu waschen und zu flicken, Essen zu kochen, Briefe zu schreiben und Dutzende von anderen kleinen Aufgaben, die erledigt werden mussten, um ihren Männern das Leben angenehmer zu machen. Aber Beth nahm sich die Zeit, den Flug der Gänse zu beobachten und den Blumenteppich zu bewundern, der erschien, als der Schnee schmolz – Bergvergissmeinnicht und weiße und rote Herzblumen.
Nachdem sie so lange in einer weißen, schneebedeckten Welt gelebt hatte, wirkten die Farben, die erschienen, als der Schnee sich zurückzog, fantastisch bunt. Rote Berge, dunkelgrüne Tannen und das grelle Grün von Flechten und Moosen wetteiferten mit dem Pink, Blau und Gelb der Bergblumen, die etwas weiter vom Lager entfernt den Boden bedeckten. Die Spatzen und Rotkehlchen kamen zurück, und oft übertönte der Vogelgesang fast das Sägen und Hämmern.
Manchmal ging Beth mit ihrer Geige in den Wald, weg vom ständigen Lärm des Camps, und spielte für sich selbst, froh darüber, allein zu sein. Eines Tages sah sie zwei kleine Bären in der Sonne unter einem großen Felsen spielen und versteckte sich, um sie aus sicherer Entfernung zu beobachten. Sie fühlte sich privilegiert, ihnen zusehen zu dürfen. Ihre Mutter kam bald danach zurück und stieß sie spielerisch mit ihren großen Tatzen an. Der Anblick weckte Erinnerungen an Molly zu Hause in England, und Beth stiegen Tränen in die Augen.
Wenn sie allein war, merkte sie oft, dass sie keine Pläne oder gar Träume für die Zukunft mehr hatte. Alle anderen schienen vom Gold zu träumen; abends am Lagerfeuer sprachen sie darüber, wofür sie es ausgeben und wohin sie als Nächstes gehen würden. Aber Beth konnte nicht über den nächsten Tag hinausdenken. Es gab viele Dinge, die sie wollte – ein richtiges, wasserdichtes Haus, ein heißes Bad, ein weiches Bett, frisches Obst, ein hübsches Kleid anziehen und wissen, dass es nicht nach fünf Minuten voller Schlamm war. Sie hätte gerne mit Theo geschlafen, denn das war unmöglich, seit sie Dyea verlassen hatten, weil sie so froren und so dreckig waren und weil Sam und Jack ständig in der Nähe waren. Sie sehnte sich auch danach, Molly und England wiederzusehen, aber selbst das war so weit weg, dass sie es nicht einen Plan nennen konnte.
Sie fragte sich, was mit den Träumen passiert war, die sie früher gehabt hatte. Von einem Haus mit einem hübschen Garten. Von ihrem Hochzeitstag oder einem Urlaub am Meer. Sie dachte jetzt nur noch manchmal daran. Lag es nur daran, dass sie bereits so viel mehr gesehen hatte, als sie sich jemals hätte erträumen können? Oder war sie einfach nur desillusioniert?
Theo träumte oft davon, dass sie in einer eleganten Wohnung in New York leben würden oder in einem großen Herrenhaus in England. Sie hätte gerne geglaubt, dass das eines Tages Wirklichkeit werden würde, aber das konnte sie nicht. Theo hatte das Geld zurückgewonnen, das er am Lake Lindemann verloren hatte, aber dann hatte er es erneut verloren. Die Realität war, dass ihr Leben mit ihm immer so sein würde, niemals sicher, niemals irgendwo zu Hause, immer auf der Suche nach der großen Chance.
Beth kannte seine Fehler und wusste auch, dass es große waren, die er niemals ablegen würde. Manchmal wünschte sie, sie hätte auf das gehört, was Ira ihr über Spieler gesagt hatte, und ihm niemals ihr Herz geschenkt. Aber wenn es gut zwischen ihnen lief, war es wunderschön, denn er war lustig, clever und so liebevoll, und sie neigte dazu, die schlechten Dinge zu übersehen – dass er so oft verschwand, seine Lügen und Halbwahrheiten, seine Faulheit und seine Betrügereien.
Ihre wahre Sicherheit kam aus ihrem Innern. Sie wusste, dass sie mit ihrer Geige überall ihren Lebensunterhalt verdienen konnte, und sie liebte das genauso sehr, wie sie Theo liebte. Vielleicht brauchte sie keinen Traum, weil sie ihn bereits lebte?
Sie hörten das erste Knacken in den frühen Morgenstunden des 29. Mai. Beth hielt es für einen Schuss und setzte sich erschrocken auf. Aber dann kam noch einer, und ihr wurde klar, dass das Eis aufbrach.
Jetzt wurde es nachts nicht mehr richtig dunkel. Der Himmel färbte sich um Mitternacht herum rosa und violett, als würde die Sonne endlich sinken, aber völlig dunkel wurde es nicht. Also sprang sie auf, zog ihre Stiefel an und weckte die anderen, dann rannte sie die wenigen Meter zum Ufer.
Als die Männer zu ihr traten, hatten sich bereits Hunderte von Leuten versammelt und beobachteten das Schauspiel. Das Eis knirschte und knackte, dunkelgrünes Wasser sprudelte durch die Risse und schwemmte die Holzabfälle, Sägespäne, Nägel und Teerflecken vom Kalfatern der Boote weg. Jemand fing an zu jubeln, und alle stimmten mit ein, fassten sich an den Händen und drehten sich im Kreis wie spielende Kinder.
Der letzte Tag am Lake Bennett war für alle ein fröhlicher, denn am folgenden Morgen konnten sie endlich weiterfahren. Beth holte ihr rotes Satinkleid heraus, um es abends zu tragen. Es hatte sich etwas schwarzer Schimmel darauf gebildet, weil es so lange weggepackt gewesen war, aber sie wischte ihn ab und hängte es zum Trocknen auf, aufgeregt über die Aussicht, wieder wie eine richtige Frau auszusehen, selbst wenn es nur für einen Abend war. Sie wusch sich auch das Haar und ließ es im warmen Sonnenschein trocknen.
Alle anderen waren mit ähnlichen Dingen beschäftigt. Die Schlange vor dem Badezelt war die längste, die sie jemals gesehen hatte, und jemand erzählte ihr, dass sie inzwischen für zwölf Mann dasselbe Wasser benutzten und ihnen anboten, sich anschließend mit kaltem Wasser abzuwaschen.
Einige der Männer, darunter Jack, halfen den Leuten, die mit ihren Booten noch nicht fertig waren. Selbst die Hunde wurden von der Aufregung angesteckt und rannten wild bellend im Camp herum.
Um acht Uhr abends spielte Beth im Golden Goose, einem großen Spielsalon-Zelt, vor voll besetztem Haus. Leute kamen, die man dort sonst nie gesehen hatte, und alle tanzten.
Viel später, als Beth mit Theo zurück zu ihrem Zelt ging, hallte der donnernde Applaus noch immer in ihr nach, und sie freute sich über die fünfundzwanzig Dollar in Theos Hut. Doch dann hörte sie einen jungen Mann »Sweet Molly« singen. Bis zu diesem Moment hatte sie vergessen, dass ihre Mutter Sam und ihr dieses Lied immer vorgesungen hatte, als sie noch klein gewesen waren, und es jetzt wieder zu hören, so weit von zu Hause weg, am Vorabend des letzten Teils ihrer Reise, schien ein böses Omen zu sein.
Sam und Jack blieben noch im Saloon, und zum ersten Mal seit Monaten schlief Theo mit ihr. Später, als Beth sich erschöpft an seine Schulter schmiegte und dem fröhlichen Treiben im Camp lauschte, glaubte sie, die glücklichste Frau hier zu sein.
Die kurze Nacht hielt niemanden davon ab, am nächsten Morgen zeitig aufzustehen und nachzusehen, in welchem Zustand das Eis war.
Es schwammen noch immer einige größere Schollen vorbei, aber sie konnten die Segel setzen und losfahren. Plötzlich bauten alle die Zelte ab, packten ihre Töpfe, rollten das Bettzeug zusammen und schafften den Proviant und die Ausrüstung hinunter zu den Booten.
Beth lächelte in sich hinein, während sie das rote Satinkleid faltete und ihre besten Stiefel zurechtstellte, damit Theo sie sicher in einem der größten wasserdichten Säcke verstauen konnte, den sie erst in Dawson City wieder öffnen würden. Sie trug wieder ihr altes dunkelblaues Baumwollkleid, ihren dicken Mantel, den Hut mit der breiten Krempe und Gummistiefel. Ein paar Sachen zum Wechseln und ihre Geige waren für die Reise in einer kleinen wasserdichten Tasche verpackt.
Sie sah zu, wie Sam seine Sachen verstaute. Es war das erste Mal, dass sie ihn seit dem letzten Sommer ohne Hemd sah, und es überraschte sie, dass sein jungenhaft schmaler Brustkorb, an den sie sich noch aus ihren Tagen in Liverpool erinnerte, jetzt mit harten Muskeln bepackt war. Andererseits waren auch ihre Beine und Arme muskulöser geworden. All das Tragen, Schlittenziehen und Schleppen der Wassereimer hatte sie fast so stark gemacht wie die Männer.
»Bist du aufgeregt, Sam?«, fragte sie.
»Darauf kannst du wetten!«, antwortete er, und auf seinem hübschen Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Ich weiß, wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber es wird einfach, und das Wetter ist jetzt gut.«
»Ich frage mich, ob wir zusammenbleiben, wenn wir dort sind«, sagte sie nachdenklich. »Glaubst du immer noch, dass du mit Theo einen Spielsalon aufmachen kannst?«
»Natürlich können wir das, Schwesterchen.« Er lachte. »Wenn du die Leute mit deiner Geige reinlockst, dann kann nichts schiefgehen.«
»Denkst du noch manchmal an England?«, wollte sie wissen. Es war ihr vorher nie in den Sinn gekommen, ihm diese Frage zu stellen.
Er lächelte. »Um ehrlich zu sein, nicht oft. Es zieht mich nichts dorthin zurück. Wir würden dort niemals so viel erleben wie hier.«
»Aber Molly ist dort«, widersprach sie.
Er kratzte sich an seinem blonden Kopf und sah ein bisschen verlegen aus. »Wir bedeuten ihr jetzt nichts mehr. Sie wird sich nicht mal an uns erinnern. Außerdem weiß ich, dass ich mich nicht mehr mit einem so eingeengten Leben zufriedengeben könnte. Nicht nach dem hier.«
Ein Kloß stieg Beth in den Hals, und Tränen brannten in ihren Augen. »Dann schätze ich, dass ich alleine zurückfahren muss.«
Sam umfasste ihre Arme und drückte sie. »Was ist los mit dir, Schwesterchen? Du solltest an einem Tag wie heute nicht an so etwas denken. Auf uns wartet ein neues Abenteuer.«
»Wie oft, glaubst du, hast du das jetzt schon zu mir gesagt, seit wir Liverpool verlassen haben?«, fragte sie. »Es geht immer nur darum, was als Nächstes passiert, und es bleibt nie Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken.«
»War die Vergangenheit denn so gut, dass wir uns ständig daran erinnern müssen?«, entgegnete er mit wütendem Unterton in der Stimme. »Soweit ich mich erinnern kann, musste ich mir damals ständig sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe – und niemand hat mich je gefragt, was ich will. Nun, ich wollte schon als Kind reich sein, und das will ich jetzt noch mehr. Unser Vermögen liegt in Dawson City, Beth, liegt dort herum und wartet auf uns, ob wir es nun ausgraben oder es durch das Spielen verdienen. Wenn ich reich bin, kann ich endlich vergessen, dass Papa sich wegen Mamas Untreue umgebracht hat.«
Beth war schockiert, ihn so etwas sagen zu hören. Sie hatte gedacht, das habe er schon vor langer Zeit hinter sich gelassen.
»Ich kann es nicht vergessen«, sagte er, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Deswegen kann ich Frauen auch nicht vertrauen – abgesehen von dir natürlich.«
»Na, da bin ich aber froh«, erwiderte sie sarkastisch. »Aber was passiert, wenn du in Dawson nicht reich wirst?«
»Das werde ich«, erklärte er unbekümmert. »Ich weiß es.«
Über siebentausend Boote brachen an diesem Nachmittag im warmen Sonnenschein auf, eine riesige Armada der merkwürdigsten Konstruktionen, die es jemals zu sehen gab. Einige hatten nur einen alten Mantel oder ein Hemd als Segel; auf den meisten wehte jedoch eine Art selbst gemachte Fahne, auf die der Name des Bootes aufgemalt oder -genäht war. Einige hatten bereits gefährlich Schlagseite; andere sahen schwungvoll und sportlich aus. Alte Leute, junge Leute, Banker, Verkäufer, Farmer, Soldaten, Matrosen und Tänzerinnen – Menschen aus allen sozialen Schichten waren hier vertreten. Einige hatten ihre Frauen und Familien verlassen, einige waren auf der Flucht vor der Justiz; es gab welche aus der Oberschicht und solche aus den Slums der Städte. Doch die meisten hatten in ihrem Leben noch nie etwas Aufregendes erlebt und ihre gesamten Ersparnisse in dieses verrückte Abenteuer gesteckt.
Beth fühlte all diese Hoffnung, während sie am Heck der Gypsy saß, Jack und Sam voller Elan paddelten und Theo am Ruder stand. Der Ruf »Wir sehen uns in Dawson« klang über den See und hallte von den Bergen wider. Sie blickte zum Ufer und sah etwas, das aussah wie eine riesige Müllhalde: verlassene Sägewerke, zerrissene Überreste von Zelten, Kleider und Kisten. Leere Flaschen und Dosen glänzten in der Sonne, es gab Tausende von Baumstümpfen, denn ein ganzer Wald war abgeholzt worden, um die Boote zu bauen.
Zuerst paddelten und ruderten alle wie wild, weil sie zu den Ersten gehören wollten, aber als sie tieferes Wasser erreichten, kam Wind auf und füllte die Segel, und die Paddel und Ruder wurden eingezogen.
Später ließ der Wind nach, und schließlich wurde es ganz windstill, aber als hätte jemand eine leise Botschaft von Boot zu Boot gesandt, griff niemand nach den Rudern. Stattdessen setzten sich alle, zündeten ihre Pfeifen an und ließen sich von der Strömung weitertreiben. Überall fingen die Leute an zu singen, fröhliche Melodien von Menschen, die glaubten, dass das Schlimmste hinter ihnen lag und dass morgen noch früh genug war, um dem Gold weiter hinterherzujagen.
Am nächsten Morgen begann das Rennen erneut, und Jack war glücklich darüber, dass ihr großes Segel seine volle Leistungskraft erreichte und sie schnell vorankamen. Vor ihnen befanden sich etwa vierzig oder fünfzig Boote, während sich der Rest in großen Gruppen hinter ihnen zusammendrängte.
Weil die Sonne warm schien und das Wasser funkeln ließ und weil ihr Floß sehr viel stabiler und besser zu manövrieren schien als alle anderen, die sie gesehen hatten, besserte sich ihre Laune noch weiter. Jack hatte ihnen allen niedrige Stühle gebaut, auf denen sie sitzen konnten, sodass Wasser, das durch die Ritzen heraufschwappte, ihre Kleider nicht durchnässte. Darauf saßen sie jetzt und lobten sich gegenseitig für ihr handwerkliches Geschick und ihre Voraussicht.
Am Nachmittag bemerkte Beth dann, dass einige Leute auf den Booten vor ihnen auf etwas deuteten, das wie eine rote Flagge aussah, die in einem Baum hing, und ein Stück Holz, auf das ein Wort geschrieben war: »Canyon«.
»Scheint eine Warnung zu sein«, sagte Jack, und die Worte hatten seine Lippen kaum verlassen, als sie in der Ferne Wasser rauschen hörten.
Der Yukon, auf dem sie sich jetzt befanden, machte eine leichte Linksbiegung, und plötzlich sahen sie eine schmale Schlucht vor sich, an beiden Seiten von hohen schwarzen Steinen umgeben.
Beth keuchte, Theo wurde blass, und Sam winkte aufgeregt mit seinem Hut. »Haltet euch fest«, schrie Jack. »Das muss der Miles Canyon sein.«
Einer der Mounties hatte ihnen von dem Canyon erzählt. Demnach war er ein furchtbar gefährlicher Ort, an dem es an zwei verschiedenen Stellen Stromschnellen gab, aber keiner von ihnen hatte erwartet, dass sie ihn so schnell erreichen würden. Es war zu spät, um an Land zu paddeln und es sich zuerst anzusehen, denn das Floß trieb direkt auf die Schlucht zu.
»Nehmt die Paddel, und stemmt sie gegen die Felsen, damit wir nicht gegen die Seiten gedrückt werden«, schrie Jack und drückte Sam und Theo jeweils ein Paddel in die Hand. »Ich werde versuchen, uns da durchzulenken. Beth, du hältst dich so fest, wie du kannst.«
Mit blankem Entsetzen blickten sie nach vorn, während das Floß in den Canyon raste. Er war ein Drittel schmaler als der Fluss, auf dem sie gerade noch unterwegs gewesen waren, und weil das Wasser durch eine viel engere Stelle gepresst wurde, entstand eine Scheitelwelle, die in der Mitte über einen Meter hoch war. Sie glitten praktisch über diese Welle, schossen in atemberaubendem Tempo weiter, und das Wasser rauschte so laut, dass sie einander nicht hören konnten.
Im Wasser schwammen jede Menge Baumstämme, die die Strömung von den Bergseen mitgebracht hatte, und es gab riesige Felsen und spitze Steine. Beth hielt sich am Rand des Floßes fest und sah voller Angst, wie Jack versuchte, sie um die Hindernisse herumzulenken, und jedes Mal, wenn sie ein Scharren unter dem Floß hörte, fürchtete sie, jeden Moment zu kentern.
Vor ihnen sah sie eine große Schute kieloben treiben und fünf oder sechs Männer, die sich verzweifelt an ihr festhielten, während sie sich drehte und gegen die Felsen und Steine geschleudert wurde.
Beth blickte zurück und sah ein umgedrehtes Kanu, dessen Besitzer nirgends zu sehen war. Aber sie hatte zu viel Angst, um auch nur an andere zu denken, denn ihr eigenes Floß wurde im Kreis herumgewirbelt, in einem Moment hob sich der Bug und im nächsten das Heck wie bei einem bockenden Pferd. Große, eisige Wellen überspülten das Floß, und sie mussten sich an den Seitenwänden festhalten, um nicht über Bord zu gehen.
Beth schloss unwillkürlich die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie noch zwei weitere Boote gegen die Felsen prallen. Eines zerbrach sofort, als wäre es aus Streichhölzern gebaut.
Nur Jack stand. Er hatte sich mit einem Seil an der Seitenwand des Floßes festgebunden, und jeder Muskel seines Körpers war gespannt, während er sein Paddel in der Hand hielt und es benutzte, um sie an den Felsen vorbeizuschieben und zu verhindern, dass sie gegen die Wände des Canyons prallten.
Eben hatte Sam noch mit seinem Paddel am Bug gekniet und versucht, sie von den Felsen fernzuhalten, aber als Beth wieder hinsah, war er verschwunden.
»Sam!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Sam ist über Bord gegangen!«
Sie klammerte sich an die Seitenwand, während sie sich hektisch nach ihm umsah, aber sie konnte in dem dunklen, brodelnden Wasser nur Holz treiben sehen.
Theo und Jack suchten ebenfalls, aber genau wie sie entdeckten sie ihn nicht.
»Er muss irgendwo vor uns sein!«, schrie Jack. »Bestimmt hält er sich an einem Stück Holz fest, damit er über Wasser bleibt.«
Sie konnte nur hoffen, dass Jack recht hatte, denn es war klar, dass sie Sam auch dann nicht hätten retten können, wenn sie ihn im Canyon entdeckt hätten.
Plötzlich geriet das Floß in einen Strudel und fing an, sich zu drehen, und sie konnten sich nur noch festhalten und beten, dass der Albtraum bald vorbei sein würde.
Als sie den Strudel hinter sich hatten, schossen sie in einen noch schmaleren Canyon und wurden am Ende mit Wucht in weitere Stromschnellen geschleudert. Sie spürten, wie das Holz des Floßes über die spitzen Steine kratzte, und hörten Schreie von den anderen Booten, aber sie wurden so schnell weitergespült, dass sie kaum erkennen konnten, an wem oder was sie vorbeikamen.
Dann war es plötzlich vorbei, genauso schnell, wie es angefangen hatte. Sie trieben wieder in ruhigem Wasser.
Jack paddelte zum Ufer, sprang an Land und machte das Floß fest. Überall am Rand des Flusses lagen Boote, einige völlig zersplittert, andere mit Löchern im Rumpf. Bei den meisten waren Ladung oder Leute über Bord gegangen.
Das ohrenbetäubende Rauschen der Stromschnellen lag hinter ihnen, aber jetzt umgab sie das laute Weinen von Menschen in höchster Not. Riesige Säcke mit Proviant schwammen vorbei, aus denen Mehl, Zucker oder Reis ausliefen. Ein Käfig mit wild gackernden Hühnern trieb ans Ufer, Hunde schwammen an Land und schüttelten sich. Viele Menschen waren noch im Wasser, von denen die meisten sich an einem dicken Stück Holz oder einer Kiste festhielten. Theo und Jack sprangen hinein und schwammen zu ihnen, um ihnen zu helfen, während Beth am Ufer entlangrannte und nach Sam suchte.
Sie sah zwei Leute, die leblos aus dem Wasser gezogen wurden. Ihre Freunde und Verwandten versuchten verzweifelt, sie wiederzubeleben, und schließlich entdeckte sie Sam. Selbst aus der Entfernung von mehreren hundert Metern wusste sie, dass er es war, denn sie erkannte ihn an seinem butterfarbenen Haar und dem roten Tuch um seinen Hals. Sie wusste auch, dass er tot war, denn er trieb im Wasser und bewegte sich nicht.
»Er ist hier!«, schrie sie zu Theo und Jack und deutete auf die Stelle. »Holt ihn raus, schnell.«
Die schnelle Strömung trieb Sam auf sie zu, und zusammen zogen sie ihn ans Ufer. Beth lief in das flache Wasser, um ihnen zu helfen, und als sie den Kopf ihres Bruders mit den Händen umfasste, sah sie, dass er sich den Schädel an einem Stein aufgeschlagen hatte.
Alle drei schwiegen, während sie Sam an Land trugen, weil sie alle wussten, dass die hektischen Wiederbelebungsversuche, mit denen die anderen versuchten, ihre Liebsten ins Leben zurückzuholen, bei ihrem Freund und Bruder nichts nützen würden.
Beth sank neben Sam auf die Knie und schluchzte, während sie ihm sein hübsches Gesicht mit ihrem Rock abtrocknete. Er war viel mehr gewesen als ein Bruder; er war der Gefährte ihrer Kindheit gewesen, ihr Verbündeter, ihr Freund und Vertrauter, und sie hatten ihr Leben lang alles miteinander geteilt. Sie konnte nicht glauben, dass das Schicksal so grausam war, ihn ihr einfach zu nehmen.
Sie konnte ein schreckliches Heulen hören, und als Jack und Theo sie an den Armen griffen und versuchten, sie von Sams Leiche wegzuziehen, wurde ihr klar, dass dieses Heulen von ihr kam.
»Ich kann ohne ihn nicht weiterleben«, rief sie wütend. »Er war der Letzte, der von meiner Familie noch übrig war.«
»Du hast doch noch uns«, sagte Theo und zog sie in seine Arme. »Wir wissen, wie du dich fühlst. Jack und ich haben ihn auch geliebt.«
Erst da sah sie, dass die beiden ebenfalls weinten. Sie versuchten nicht, ihre Trauer zu verbergen, wie es so viele Männer taten; Tränen liefen ihnen ohne Unterlass über die Gesichter, und in ihren Augen stand der gleiche Schmerz, den sie empfand.
Wie lange sie dort neben Sams Leiche standen und weinten, wusste Beth nicht. Sie waren alle nass und zitterten vor Kälte, aber es war, als hätten der Schock und die Trauer sie gelähmt. Noch mehr Boote mussten in den Stromschnellen gekentert sein, denn wie durch einen Nebel hörte sie andere schreien und kreischen. Aber erst als ein Mann sie mit Namen ansprach und ihnen anbot, ihnen dabei zu helfen, ein Grab auszuheben, erwachten sie so weit aus ihrer Erstarrung, dass sie in ihm und seinen Begleitern Männer erkannten, die ihnen am Lake Bennett begegnet waren, und ihnen wurde klar, dass sie Sam beerdigen mussten.
»Er war ein guter Mann«, sagte der Anführer, in dessen Augen echtes Mitgefühl und Verständnis zu erkennen waren. »Es tut uns so leid, dass Sie ihn verloren haben. Wir möchten Ihnen helfen.«
»Es ist nicht richtig«, schluchzte Beth, während sie zusah, wie die Männer im weicheren Boden in der Nähe des Ufers ein Loch aushoben. »Wir sind so weit gekommen und haben so viel durchgemacht. Warum müssen wir ihn jetzt verlieren?«
»Ich habe nicht gesehen, wie es passiert ist«, sagte Jack verzweifelt, als wenn er glauben würde, dass er es sonst vielleicht hätte verhindern können.
Theo kniete neben Sam und strich ihm das blutverschmierte Haar aus der Stirn. »Oh Sam, Sam, was sollen wir nur ohne dich tun?«, rief er, doch die Stimme versagte ihm vor Trauer.
Es kam Beth unwirklich vor, als sie zusah, wie Jack und Theo Sam in das hastig geschaufelte Grab legten. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide an kalten, grauen Tagen beerdigt worden; sie hatte sich von Molly bei ähnlichem Wetter verabschiedet; selbst der Tag, an dem sie ihr Baby verloren hatte, war kalt und trostlos gewesen. Beerdigungen mussten an solchen Tagen stattfinden, an nüchternen Orten, nicht hier im hellen Sonnenschein neben einem glitzernden Fluss zwischen blühenden Frühlingsblumen, die am Ufer wuchsen. Sam war jung und stark – er hatte sein ganzes Leben noch vor sich und so viele Pläne und Träume; es konnte nicht richtig sein, dass er nichts davon mehr verwirklichen konnte. Beth glaubte fast, dass sie jeden Moment aus einem schrecklichen Albtraum erwachen und mit Sam darüber lachen würde.
Aber es war kein Traum, denn Theo las eine Stelle aus der Bibel vor, und seine Stimme zitterte, während er versuchte, nicht zusammenzubrechen. Das Holzkreuz, das Jack zusammengenagelt und in das er in groben Buchstaben Sams Namen eingeritzt hatte, lag auf dem Erdhügel und wartete darauf, in das Grab gesteckt zu werden.
Ihre Stimmen waren dünn und tränenerstickt, als sie »Rock of Ages« sangen, und Beth dachte verbittert, dass Gott sie erneut verlassen hatte.
Überall entlang den Fluss kämpften auch andere mit den Folgen der Canyon-Durchquerung, einige hoben Gräber aus, andere kümmerten sich um die Verletzten. Sie konnte Weinen und gequälte Schreie von denen hören, die ihre Boote und ihre Sachen verloren hatten. Und sie konnte hören, wie ihr eigenes Herz brach.