16
»Wo ist deine Schwester?«, wollte Pat Heaney von Sam wissen. Er holte seine Uhr aus seiner Westentasche und sah darauf. »Was denkt sie sich? Es ist fast halb acht!«
Der Saloon war brechend voll, und Sam war in der letzten Stunde so beschäftigt gewesen, dass er nicht auf die Zeit geachtet hatte. Aber bei Heaneys Worten blickte er auf die Uhr an der Wand hinter der Bar. »Ich weiß nicht, wo sie ist«, sagte er, und augenblicklich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, denn Beth kam nie zu spät. »Sie hat heute wie immer bei Ira gearbeitet. Pebbles war dort, um was zu kaufen; er sagt, er hat sie gesehen.«
Pebbles war der Laufbursche und wurde wegen seiner dicken Brille so genannt.
»Wenn sie mich heute Abend im Stich lässt, dann ist sie ihren Job los«, knurrte Heaney.
»Sie würde Sie nicht im Stich lassen«, verteidigte sie Sam. »Selbst wenn sie krank wäre, hätte sie Ihnen eine Nachricht geschickt.«
»Vielleicht ist irgendwas mit dieser alten Krähe Roebling«, sagte Heaney. »Ich schicke jemanden, der sich erkundigt.«
Er ging von der Bar weg, und Sam sah, wie er Pebbles anwies, zu Iras Laden zu laufen und nachzufragen.
Männer riefen Bestellungen, und während Sam das Bier ausschenkte und das Geld entgegennahm, erinnerte er sich an Jacks Warnung.
Er war überzeugt gewesen, dass Jack sich diese Sache mit Fingers Malone und Heaney nur ausgedacht hatte, um sich wieder bei ihm und Beth einzuschmeicheln. Sam hatte Beth nur deshalb abends nach Hause gebracht, um dem Mann keine Gelegenheit zu geben, sich wieder in ihr Leben zu drängen.
Doch jetzt schien Jacks Warnung nicht mehr so weit hergeholt, und Sam servierte die Getränke, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Als Pebbles zehn Minuten später zurückkehrte und zu Heaney ging, konnte Sam nicht länger warten.
Er kam hinter der Theke hervor und bahnte sich einen Weg durch die Gäste bis zu Heaney. »Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte er.
»Sie hat den Laden um fünf verlassen«, knurrte Heaney. »Sie wollte auf dem Weg nach Hause noch zum Markt. Du läufst jetzt besser zu eurer Wohnung und siehst nach, ob sie dort ist.«
Sam rannte den ganzen Weg, und seine Beine arbeiteten wie Kolben. Er stürmte die Treppe hinauf und in die Wohnung. Mrs Rossini war in der Küche und sah ihn überrascht an.
»War Beth zu Hause?«, fragte Sam.
Sie schüttelte den Kopf und sagte etwas auf Italienisch. Sam hatte das Gefühl, dass sie wissen wollte, warum er so besorgt aussah. Aber er hatte keine Zeit, die richtigen Worte zu finden, die sie verstehen würde, und ging in ihr Zimmer. Beths Geigenkasten stand auf dem Boden vor dem Fenster, genau dort, wo er gewesen war, als er am Mittag zur Arbeit gegangen war. Er blickte auf die Kleider, die sie beim Spielen trug und die alle drei noch immer an der Wand hingen.
Er wusste, es war möglich, dass Theo zurückgekommen war, sie vom Laden abgeholt und ausgeführt hatte. Unter normalen Umständen würde Beth nirgendwo hingehen, wenn sie im Saloon erwartet wurde, aber Sam wusste, dass das Herz über den Verstand siegte, wenn Liebe in der Luft lag, und sie trauerte Theo seit Wochen hinterher.
Doch selbst wenn sie mit ihm mitgegangen wäre, wusste Sam, dass sie vorher noch mal hergekommen wäre und ihm eine Nachricht hinterlassen hätte, zumindest, um ihn zu bitten, Heaney zu sagen, dass sie krank war.
Amy und Kate waren nicht da, und die irische Familie, mit der sie sich die Wohnung teilten, hatte Beth auch nicht gesehen.
Sam rannte zurück ins Heaney’s. Er hatte jetzt wirklich Angst. Beths Sicherheit war das Wichtigste für ihn, aber er freute sich nicht darauf, Heaney sagen zu müssen, dass er Gerüchte über Fingers gehört und ihm nichts davon erzählt hatte.
Im Hinterzimmer des Saloons erzählte Sam Heaney, dass er befürchte, Fingers könnte Beth entführt haben, und den Grund dafür, und wie erwartet wurde sein Boss furchtbar wütend.
»Du hast gehört, dass Fingers mir den Krieg erklären will, und hast es mir nicht gesagt?«, schrie er.
Sam entschuldigte sich und erklärte, dass er es nicht geglaubt hatte. »Man hat mir gesagt, ich solle gut auf Beth aufpassen. Ich habe Angst, dass sie es wirklich getan haben.«
Er erwartete eigentlich, dass Heaney ihn verspotten würde. Aber das tat er nicht; stattdessen kratzte er sich am Kopf und sah besorgt aus.
»Könnte es sein, dass sie entführt wurde?«, fragte Sam.
»Woher soll ich das wissen?«, knurrte Heaney. »Aber eins steht fest, wir werden bald wissen, ob der Dreckskerl sie hat, weil er Forderungen stellen wird.«
Er hatte kein Mitleid mit Sam. Seine Wut zeigte deutlich, dass er sich nicht um Beths Sicherheit sorgte, sondern um seinen eigenen Gesichtsverlust.
»Geh wieder hinter die Bar, und behalt das für dich«, befahl er ihm.
Sam hätte den Mann gerne geschlagen, weil er so gefühllos war. Er wollte, dass er sich auf die Bühne stellte und verkündete, dass Beth vermisst wurde, und alle fragte, ob sie irgendetwas gehört oder gesehen hätten. Aber die Vernunft siegte, denn obwohl er wusste, dass die meisten Männer im Saloon gerne bereit gewesen wären, nach ihr zu suchen, war New York eine große Stadt. Sie konnte überall festgehalten werden, und Massen von Männern, die wütend herumliefen, würden nur für noch mehr Ärger sorgen.
Es war die längste Nacht, die Sam jemals erlebt hatte. Er musste sich Heaneys Ankündigung anhören, dass Beth heute Abend nicht spielen konnte, sah die Enttäuschung auf den Gesichtern der Männer und musste unzählige Male die Frage beantworten, ob sie krank sei.
Um Mitternacht schickte Heaney ihn nach Hause. »Sie werden erst morgen etwas unternehmen«, sagte er und klopfte Sam auf die Schulter, was bei ihm einer kleinen Geste des Mitgefühls am nächsten kam. »Ich habe so was schon mal mitgemacht, Junge. Sie lassen uns schwitzen, bevor sie ihre Karten aufdecken.«
Die Sache ließ Sam tatsächlich schwitzen. Während er dalag und auf Beths leeres Bett starrte, verfluchte er sich dafür, dass er Jacks Warnung nicht ernst genommen hatte. Es war pure Arroganz von ihm gewesen; er wollte einfach nicht anerkennen, dass ein Mann, dem er sich überlegen fühlte, tatsächlich mehr wusste als er. Ihm hatte Jacks Freundschaft mit Beth nie gefallen, doch er hatte so getan als ob, weil Jack sich dadurch um sie gekümmert hatte und er selbst mehr Zeit mit seinen Frauen verbringen konnte.
Bis heute Abend war Sam stolz auf seine vielen Eroberungen gewesen. Es gab ihm ein Gefühl von Stärke, dass er fast jede Frau ins Bett bekam, wenn er es wollte. Doch jetzt, während er an Polly, Maggie, Nora und seine letzte Eroberung Annie dachte, schämte er sich. Sie waren alle entweder Schauspielerinnen oder Tänzerinnen, Mädchen, die bereits von jemandem ruiniert worden waren, leichte Opfer, da sie verletzlich waren und sich verzweifelt nach Liebe sehnten. In Wahrheit wusste er, dass jede von ihnen wahrscheinlich bald zur Hure werden würde. Er konnte sich nicht erklären, wie er so scheinheilig hatte sein können, was Jack anging, denn selbst wenn er etwas ungehobelt war, hatte er Beth immer Respekt und echte Zuneigung entgegengebracht.
Theo dagegen war viel gefährlicher. Er war nicht nur attraktiv und gebildet, sondern auch aalglatt und berechnend. Sam hatte ihn mehrere Male Poker spielen sehen und war beeindruckt gewesen von seiner Kaltschnäuzigkeit und seiner Raffinesse. Bei seinem letzten Spiel im Heaney’s hatte er über fünfhundert Dollar gewonnen, doch er hatte so getan, als wäre das gar nichts. Jeder Bruder, der etwas taugte, hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um seine Schwester davon abzuhalten, sich mit so einem Mann einzulassen, aber Sam hatte ihn nicht nur offen bewundert, sondern der Beziehung auch noch seinen Segen gegeben.
Bei dem Gedanken, dass Beth den gleichen Weg gehen könnte wie ihre Mutter, wurde ihm übel. Er erinnerte sich daran, dass er seiner Mutter gegenüber kein Mitleid gezeigt hatte, und er schämte sich jetzt dafür, dass er damals ihr neugeborenes Baby im Stich lassen wollte. Es war Beth gewesen, die alles zusammengehalten hatte. Ohne ihren Einfallsreichtum und ihre Persönlichkeit wären sie niemals eingeladen worden, am Falkner Square zu wohnen, und es war zweifelhaft, ob sie es jemals bis nach Amerika geschafft hätten.
Er wünschte sich jetzt, dass sie niemals hierhergekommen wären, während er sich vorzustellen versuchte, wo Beth sein konnte und unter welchen Umständen sie festgehalten wurde. Er wusste, dass es kein gemütlicher und warmer Ort sein würde; Männer wie Fingers lebten wie Tiere. Aber noch beängstigender war die Möglichkeit, dass er Beth vielleicht nicht wiedersehen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Heaney ein Lösegeld für sie bezahlen würde. Er würde das als Schwäche sehen. Und Fingers würde sie ohne Bezahlung niemals gehen lassen; er würde sie lieber töten, als sein Gesicht zu verlieren.
Um vier Uhr morgens, als es noch immer stockdunkel war, verließ Sam das Haus, um Jack zu suchen. Er wusste nicht, wo er wohnte, aber er wusste, dass er im Schlachthaus am East River arbeitete und ganz früh morgens anfing.
Es war bitterkalt, und auf dem Schnee der vergangenen Tage lag eine dicke Frostschicht. Er ging schnell, um sich aufzuwärmen, aber er war ganz schwach vor Sorge und Schlafmangel.
Beth hatte auch nicht schlafen können. Ihr war so kalt, dass sie befürchtete zu erfrieren. In den ersten drei oder vier Stunden, nachdem man sie ohne Umschweife in diesen dunklen Keller geworfen hatte, war sie auf und ab gelaufen und hatte gerufen, aber irgendwann hatte die Erschöpfung sie gezwungen, sich auf das zu setzen, was sich wie eine alte Kiste anfühlte.
Der Boden war voller Wasser, und es war in ihre Schuhe gedrungen, und die Luft roch faulig. Ob es ein Leck in der Leitung gab, ob hier unten irgendetwas Totes verrottete oder ob das Gebäude einfach uralt war, wusste sie nicht, aber sie würde nicht im Dunkeln herumtasten, um es herauszufinden.
Sie wusste nur, dass sie in einer der Gassen am Mulberry Bend war, in derselben Gegend, in die Sam und sie sich an ihrem ersten Abend in Amerika aus Versehen verirrt hatten. Sie hatte sich gemerkt, wohin der Mann, der sie mit dem Messer bedroht hatte, mit ihr gegangen war, weil sie hoffte, dass er irgendwann abgelenkt sein würde und sie fliehen konnte. Doch sie hatte keine Gelegenheit dazu gehabt, denn seine Hand blieb auf ihrer Schulter liegen, und er hielt ihr das Messer die ganze Zeit über in die Seite.
Beth hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Er war groß und kräftig mit einem groben, entstellten Gesicht, das darauf hindeutete, dass er vielleicht ein Preisboxer gewesen war. Seine Hände waren riesig, wie Schinken, und die wenigen Zähne, die er noch besaß, waren schwarz und abgebrochen. Für den Mulberry Bend war er gut gekleidet: Er trug einen dicken, dunklen Wollmantel mit einem Samtkragen und einen Homburg-Hut, aber sein Geruch – nach Schimmel, Tabak und Holzrauch – kennzeichnete ihn als Slumbewohner.
Sie wusste, dass ihn irgendjemand beauftragt hatte, sie zu entführen, denn wenn er sie hätte ausrauben wollen, dann hätte er sich genommen, was sie besaß, und wäre gegangen. Und er handelte ganz sicher auf Fingers’ Befehl, weil sie um Gnade gefleht und ihm gesagt hatte, dass sie gerne in seinem Saloon spielen würde, da sie Heaney nicht verpflichtet sei. Der Mann bestätigte ihren Verdacht, weil er bei der Erwähnung von Fingers’ Namen überrascht aussah und ihr dann sagte, sie solle den Mund halten. Sie hielt den Mund nicht, sondern flehte weiter, aber dann schlug er sie ins Gesicht.
Mit den Fingern tastete sie vorsichtig über ihre geschwollene Wange. Seine Ohrfeige war wie ein Hammerschlag gewesen. Sie hatte sie so hart getroffen, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Dann hatte der Mann sie grob am Arm gepackt und sie den Rest des Weges fast hinter sich hergeschleift.
Ihnen waren Dutzende von Leuten begegnet. In der schmalen, stinkenden Gasse, durch die sie schließlich gegangen waren, standen Männer, die sie alle neugierig angestarrt hatten. Traurigerweise wusste Beth, dass das nicht bedeutete, dass Rettung nahte, denn Fingers hätte nicht befohlen, sie so offen hierherzubringen, wenn er sich der Loyalität der Bewohner nicht sicher gewesen wäre.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es jetzt war, aber sie hatte das Gefühl, dass es immer noch Nacht war, denn von nirgendwoher drang Licht herein. Der Gedanke an Ratten machte ihr eine Gänsehaut, und sie legte die Arme dichter um sich und versuchte, nicht daran zu denken. Stattdessen überlegte sie, wie lange es dauern würde, bis Sam merkte, was passiert war.
Er würde natürlich wissen, dass etwas nicht stimmte, wenn sie nicht zu ihrem Auftritt erschien. Aber wie sollte er sie finden? Es würde eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein.