14
Als Beth am Sonntagmorgen aufwachte und feststellte, dass es noch genauso heftig regnete wie am Abend zuvor, galt ihr erster Gedanke Jack. Seit sie und Sam in der Houston Street wohnten, war er jeden Sonntag vorbeigekommen, um etwas mit ihr zu unternehmen.
Sie zog den Trennvorhang zurück und stellte fest, dass Sams Bett unberührt war. Auf einmal wurde ihr klar, wie abhängig sie von Jacks Gesellschaft geworden war und wie einsam es ohne ihn sein würde. Weil sie wusste, dass er zu verletzt war, um heute oder an einem anderen Tag vorbeizukommen – es sei denn, sie entschuldigte sich bei ihm und sagte ihm, dass sie ihn liebte –, zog sie die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte, wieder einzuschlafen.
Sam kam erst gegen zwei Uhr zurück und war sehr überrascht, dass sie noch im Bett lag.
»Bist du krank?«, fragte er und setzte sich auf die Bettkante.
Beth erzählte ihm von Jack. »Es gab einfach nichts, wofür sich das Aufstehen gelohnt hätte«, sagte sie abschließend.
»Wenn er dir wirklich etwas bedeutet, dann solltest du besser zu ihm gehen und dich wieder mit ihm vertragen«, meinte Sam und rieb sich über sein stoppeliges Kinn. »Aber ich war schon immer der Meinung, dass du ohne ihn viel besser dran bist.«
Beth setzte sich auf und blickte ihren Bruder finster an. »Dann verrat mir doch mal, wie ich einen passenden Mann kennenlernen soll. Heaney lässt mich nie mit jemandem reden. Du stellst mir keinen deiner Freunde vor. Und es wäre nicht richtig, zu Jack zu gehen und ihm falsche Hoffnungen zu machen, nur weil ich nicht allein sein will.«
Sam blickte sie nachdenklich an. »Praktisch jeder Mann, der ins Heaney’s kommt, möchte gerne etwas mit dir anfangen. Aber keiner von denen ist gut genug für dich.«
»Und woher willst du das wissen?«, fuhr sie ihn an. »Ich wette, dass die Frau, mit der du heute Nacht zusammen warst, auch nicht die Richtige für dich ist, aber das scheint dich nicht zu stören.«
»Bei Männern ist das etwas anderes.«
»Ich kann nicht erkennen, warum das so sein sollte«, erklärte sie wütend. »Wenn ich in einem der beliebtesten Saloons in New York auftreten kann, dann weiß ich nicht, wieso ich nicht zusammen sein kann, mit wem ich will.«
Sam blickte sie einen Moment lang an. »Steh auf, und zieh dich an, wir gehen aus«, sagte er schließlich. »Es gefällt mir nicht, dass du so traurig bist.«
Am Montagabend, als Beth ins Heaney’s kam, stellte sie fest, dass Jack schon früher dagewesen war und ihr eine Nachricht hinterlassen hatte.
Sie hatte seine Schrift noch nie zuvor gesehen, und die kindlichen Buchstaben und die furchtbare Rechtschreibung waren eine Bestätigung, wie tief der Bildungsgraben war, der sie voneinander trennte. Doch wie ungebildet Jack auch sein mochte, seine tiefen Gefühle für sie schwangen deutlich in seinen Worten mit. Er schrieb ihr, dass er immer noch ihr Freund sein wolle und dass er nichts anderes von ihr erwarten würde.
Beth tat es leid, dass sie ihn verletzt hatte, und ihre instinktive Reaktion war, ihm sofort zu antworten und ihm zu sagen, dass es in ihrem Leben immer einen Platz für ihn geben würde. Aber sie wusste, dass sie dann wieder zu ihrer alten Routine zurückkehren würden und dass über kurz oder lang der nächste Streit auf sie wartete. Vielleicht würde es das Beste sein, erst einmal eine Weile gar nichts zu tun.
Am Dienstag räumte sie mit Ira die Sommersachen aus. Kleider, die zu schäbig oder zu unmodern waren, wurden von einem Mann abgeholt, der einen Stand am Mulberry Bend unten in Five Points hatte. Die guten Sachen packten sie in Kisten und verstauten sie bis zum nächsten Frühling.
Es war gut, beschäftigt zu sein, und Beth stellte um fünf Uhr, als sie ihren Mantel und ihren Hut anzog, um zu gehen, fest, dass sie den ganzen Tag nicht an Jack gedacht hatte.
Sie war gerade aus dem Laden getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen, als sie den Mann vom Schiff lässig an einer Laterne lehnen und sie angrinsen sah. »Hallo, Miss Diskretion!«, sagte er.
Beth war sprachlos, ihm hier zu begegnen. Aber sie wusste instinktiv, dass dieses Treffen kein Zufall war.
»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken?«, fragte er. »Es sei denn, natürlich, Sie haben etwas Besseres vor.«
»Aber ich kenne doch noch nicht mal Ihren Namen«, erwiderte sie.
»Na ja, das lässt sich leicht ändern.« Er grinste. »Ich bin Theodore Cadogan. Meine Freunde nennen mich Theo.«
»Nun, Mr Cadogan«, sagte sie und unterdrückte den Drang zu lachen, weil er die Dreistigkeit besessen hatte, herumzufragen, wo er sie finden konnte. »Wieso glauben Sie, dass es zu meinen Gewohnheiten gehört, mit Männern auszugehen, die ich kaum kenne?«
»Aber wie wollen Sie denn sonst jemanden kennenlernen? Ich habe nur von Kaffee gesprochen, ich wollte Sie nicht auf dem weißen Sklavenmarkt verkaufen.«
»Wer hat Ihnen verraten, wo Sie mich finden?«
»Ihr Bruder. Und ich habe ihm bei meiner Ehre als Gentleman geschworen, dass meine Absichten absolut ehrenwert sind.«
Beth bezweifelte seine ehrenwerten Absichten, aber Sam mochte ihn offenbar und hatte nichts gegen dieses Treffen, sonst hätte er ihm nicht gesagt, wo er sie finden konnte. Außerdem sah er so gut aus und löste dieses übersprudelnde Gefühl in ihr aus. »Aber nur eine Tasse Kaffee«, stimmte sie zu.
Eine Stunde später saßen sie noch immer im Café. Beth nannte ihn Theo, und er nannte sie Beth. Sie hatte ihm von den Ereignissen erzählt, die sie nach Amerika gebracht hatten, und er hatte ihr berichtet, dass sein Vater ein reicher Grundbesitzer in Yorkshire war, aber dass er als jüngerer Sohn das Anwesen nicht erben würde.
»Vater wollte, dass ich Jurist werde, aber das langweilte mich«, sagte er mit einem theatralischen Gähnen. »Mutter hätte es gerne gesehen, wenn ich Geistlicher geworden wäre, aber das war ganz sicher nicht meine Berufung. Ich spielte auch mit dem Gedanken, zur Armee zu gehen.«
»Und weshalb bist du hergekommen?«, fragte Beth.
Er rollte auf eine Art mit den Augen, die klar ausdrückte, dass er den wahren Grund nicht gerne zugeben wollte.
»Wegen Clarissa, nicht wahr?« Sie lachte.
Er seufzte. »Nicht nur. Sagen wir einfach, dass sie mir vorgespielt hat, ihre Ehe sei unglücklich. Ich buchte eine Überfahrt auf demselben Schiff wie sie und ihr Mann und glaubte dummerweise, dass sich alles finden und dass er sie gehen lassen würde, wenn wir in New York wären. Aber sie hat nur mit mir gespielt, sie hatte nie vor, ihn zu verlassen.«
»Oje, Theo«, spottete Beth, »du musst am Boden zerstört gewesen sein.«
»Nur ein bisschen verbeult, meine Liebe«, erklärte er mit einem Grinsen. »Und als ich hier im Land der unbegrenzten Möglichkeiten war, wurde mir klar, dass ich den perfekten Ort gefunden hatte, um meine Talente auszuleben, deshalb bereue ich nicht, hergekommen zu sein.«
»Was hast du denn für Talente?«, neckte sie ihn. »Abgesehen davon, dass du ein Charmeur und ein Frauenheld bist?«
»Ich kann ganz gut Karten spielen«, erklärte er.
Beth lachte. »Kann man damit ein Vermögen machen?«
»Ich hoffe es.« Er lächelte schelmisch. »Es hat mir schon gute Dienste geleistet.«
»Wenn du mit Männern wie Heaney spielst, dann wirst du geschröpft«, sagte sie.
»Du unterschätzt mich, meine Liebe«, erwiderte er. »Ich habe vor, selbst einen Spielsalon zu besitzen, nicht, mein letztes Hemd dort zu verlieren.«
Er lachte über ihr überraschtes Gesicht. »Und du, meine hübsche kleine Zigeunerin, kannst in meinem ersten Laden Geige spielen, wenn du willst. Ich habe das Gefühl, dass unser erneutes Zusammentreffen Schicksal war und dass unsere Wege untrennbar miteinander verbunden sein werden.«
Beth spürte ein Flattern in ihrem Innern, als er ihre Hand ergriff. Sie dachte, dass er sie küssen würde, aber stattdessen drehte er sie um und betrachtete ihre Handfläche, fuhr mit dem Zeigefinger die Linien darin nach.
»In deiner Hand liegt viel Leidenschaft«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich sehe auch Stärke und Mut. Du wirst Geld haben, aber die Liebe, sowohl die zu Männern als auch die zur Musik, wird dir immer wichtiger sein.«
Beth kicherte. »Jetzt klingst du wie ein Zigeuner! Kannst du einen Mann und Kinder sehen?«
»Ist es das, was du willst?«
»Wollen das nicht alle Frauen?«
»Man erzählt euch von klein auf, dass es das ist, was ihr wollt«, sagte er nachdenklich. »Unsere Gesellschaft fördert diese Vorstellung noch und schafft keine Alternativen. Aber ich finde, dass es eine Verschwendung wäre, wenn du jung heiratest und dein Leben damit verbringst, eine Schar Kinder aufzuziehen, wo du so viel Talent hast.«
Er hielt noch immer ihre Hand, und langsam beugte er den Kopf und drückte seine Lippen darauf. Beth spürte ein heftiges Reißen in ihrem Innern, fühlte einen heißen Schauer im ganzen Körper, und ihre Haut prickelte. Sie widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und mit den Fingern durch sein Haar zu fahren. Sofort erkannte sie, dass dieses Gefühl der Anfang von Leidenschaft war.
Drei Tage später war Beth mit Ira im Hinterzimmer des Ladens, wo sie Sachen wuschen und ausbesserten, als Ira nach dem Namen des Mannes fragte, mit dem Beth sich traf.
»Ich weiß, dass du jemanden kennengelernt hast.« Sie blickte Beth scharf an. »Seit Mittwoch träumst du ständig vor dich hin.«
Beth hob das Bügeleisen vom Ofen und spuckte darauf, um zu sehen, ob es heiß genug war, um den weißen Baumwollpetticoat damit zu plätten. Sie wollte nicht auf Iras Frage antworten; sie hatte das Gefühl, dass es Unglück bringen würde, wenn sie jemandem von Theo und vor allem von ihren Gefühlen für ihn erzählte.
Er hatte sie zum Essen eingeladen, als sie schließlich das Café verließen, und viel später hatte er sie nach Hause in die Houston Street begleitet. Es war ein kalter Abend, und die Straße lag verlassen da, nur eine Hand voll junger Männer stand vor der Kneipe an der Ecke.
»Ich schätze, du wohnst in irgendeinem schönen Viertel?«, sagte sie, als sie vor ihrem Haus stehen blieben.
»Nicht wirklich.« Er strich ihr über die Wange. »Schäm dich nicht dafür, arm zu sein, Beth. Der Wille, Erfolg zu haben, ist immer stärker, wenn man wenig besitzt.«
Seine Hand an ihrer Wange ließ das merkwürdige Reißen in ihrem Bauch zurückkehren. Sie wollte so sehr von ihm geküsst werden, dass sie schon ganz weiche Knie hatte. Es war ihr sogar egal, wer sie sah.
»Werde ich dich wiedersehen?«, fragte sie schwach und wusste, dass sie damit zu forsch war, doch sie konnte sich nicht zurückhalten.
Er küsste sie, als wäre das seine Antwort auf ihre Frage. Seine Lippen berührten ihre, sanft zuerst, und erweckten alle Nervenenden in ihrem Körper zum Leben. Und dann, als sie gerade anfing, sich nach mehr zu sehnen, legte er die Arme eng um sie und drang mit seiner Zungenspitze in ihren Mund ein. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu explodieren.
Instinktiv presste sie sich an ihn; sein Kuss war so aufregend, dass ihr Körper von ganz allein darauf reagierte. Sie konnte spüren, wie ihre Brustwarzen sich verhärteten, und spürte ein Ziehen zwischen ihren Beinen, schob schamlos auch ihre Zunge in seinen Mund.
Er löste sich zuerst von ihr. »Du küsst genauso gut, wie du Geige spielst«, sagte er leise. »Bei dir kann ein Mann den Kopf verlieren.«
Dann sagte er, dass er gehen müsse, und sie blieb schwindelig vor Verlangen auf der Treppe stehen und sah ihm nach, während er die Straße hinunterging. Er bewegte sich mit der Anmut eines Panthers, mit geradem Rücken, das Kinn vorgestreckt. Als er die Laterne an der Ecke erreichte, drehte er sich noch einmal um und winkte, und ihr Herz floss über vor Glück.
Schlaf fand sie nicht in dieser Nacht, denn sie durchlebte den Kuss wieder und wieder, bis ihr Körper in Flammen stand. Sie musste an eine Nachbarskatze zu Hause in Liverpool denken, die sich im Hinterhof auf dem Rücken gewälzt und dabei merkwürdige, jammernde Geräusche ausgestoßen hatte. Ihre Mutter hatte gemeint, dass sie rollig sei, und einen Eimer Wasser über sie gegossen, um sie zu vertreiben, denn zwei Kater saßen auf der Mauer und sahen sich das Schauspiel an. Sie sagte, dass sie so etwas Hässliches in ihrem Hinterhof nicht haben wolle. Beth hatte damals nicht verstanden, was das Verhalten der Katze bedeutete, aber jetzt schon.
Seit sie alt genug war, sich für Liebe, Heirat und Kinderkriegen zu interessieren, hatte man sie glauben lassen, dass es die Männer waren, die dabei Lust empfanden, und dass die Frauen den Akt ihnen zuliebe tolerierten. Selbst die pragmatische Miss Clarkson hatte nichts anderes erwähnt. Erst durch das Geständnis ihrer Mutter auf dem Sterbebett hatte Beth zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommen, dass Frauen Sex vielleicht wollten oder brauchten, aber sie war zu entsetzt über die Konsequenzen dieser verbotenen Affäre gewesen, um Mitgefühl zu empfinden.
»Meine Frage nicht zu beantworten wird mich nicht davon abbringen«, sagte Ira. Sie trat näher und legte Beth eine Hand auf die Schulter. »Es ist ganz normal für ein Mädchen in deinem Alter, sich zu verlieben, aber ich weiß, dass es nicht Jack ist, den du anhimmelst. Also wer ist dieser neue Mann, und wo hast du ihn kennengelernt?«
»Er heißt Theodore Cadogan, und ich habe ihn auf der Überfahrt getroffen«, sagte Beth ein bisschen zögernd. »Ich habe nur einmal mit ihm gesprochen, weil er in der ersten Klasse war. Aber ich bin ihm letzte Woche im Heaney’s wiederbegegnet, und als ich am Dienstagabend aus dem Laden kam, wartete er auf mich.«
»Dann ist er ein Gentleman?«
Beth nickte bedrückt.
»Was hat er dann im Heaney’s gemacht?«
Beth seufzte; diese Frage hatte sie befürchtet. »Er war dort, um Karten zu spielen.«
Ira saugte die Wangen ein. »Ein Spieler also! Nun, die sind normalerweise sehr unterhaltsam, das muss ich zugeben. Aber du solltest einen klaren Kopf bewahren, Mädchen, ich möchte nicht, dass du auf Abwege gerätst.«
»Ich mag ihn sehr«, gestand Beth schwach.
Ira sah sie scharf an, bis Beth rot wurde. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Er hat Gefühle in dir geweckt, die du nicht verstehst. Ist es das?«
Beth starrte nur auf ihre Füße.
Ira lachte. »Man hat dir erzählt, dass brave Mädchen solche Gefühle nicht haben, nehme ich an? Nun, das ist totaler Unsinn, es würden nur sehr wenige Babys in diese Welt gesetzt, wenn das der Fall wäre! Ich sage dir, wie ich es sehe: Es gibt keine Frauen, denen es gefällt, und andere, denen es nicht gefällt, es gibt nur Frauen mit guten Liebhabern und solche ohne.«
»Er ist nicht mein Liebhaber«, rief Beth, erschrocken darüber, dass Ira so etwas überhaupt denken konnte. »Ich habe nur einen Abend mit ihm verbracht.«
Ira kicherte. »Wenn er an einem keuschen Abend solche Gefühle in dir wecken kann, dann solltest du, denke ich, nicht riskieren, mit ihm allein zu sein, es sei denn, natürlich, du möchtest herausfinden, was ein guter Liebhaber für eine Frau tun kann.«
Beth wand sich vor Scham, was Ira noch lauter lachen ließ. »Ich weiß, dass es viele gibt, die dir sagen werden, dass du erst einen Ring am Finger haben musst, bevor du die Ware testen kannst. Aber ich war immer froh, dass ich meinen Gunter schon vor der Ehe ausprobiert habe.«
»Ich sehe ihn vielleicht gar nicht wieder«, erklärte Beth in dem Versuch, das Gespräch zu beenden, das sie als extrem peinlich empfand.
»Ich bin sicher, das wirst du«, erwiderte Ira. »Nicht nur wegen deines Aussehens und deiner Kurven, sondern wegen deiner Fröhlichkeit, deines Verstands, deiner Manieren und deines Geigenspiels. Du bist ein Hauptgewinn, meine Liebe. Aber du musst dich schützen. Glaub nicht alles, was er dir sagt, leih ihm kein Geld, erwarte nicht, dass er dich heiratet, und such dir jemanden, der dir Ratschläge geben kann, wie du eine Schwangerschaft verhinderst. Das hat schon viele gute Frauen ruiniert.«
»Das würde ich nicht tun«, erklärte Beth entsetzt. »Riskieren, schwanger zu werden, meine ich.«
»Sei dir da nicht so sicher.« Ira tätschelte ihr liebevoll die Wange. »Meiner Erfahrung nach verliert eine Frau ihren gesunden Menschenverstand, wenn sie sich körperlich zu einem Mann hingezogen fühlt.«
Beth hatte an diesem Abend gespielt, und Heaney ließ sie mit der Droschke nach Hause fahren, weil Sam länger arbeiten musste. Als sie am Samstagmorgen aufwachte, hatte sie von Theo geträumt, und das ließ sie besorgt daran denken, was Ira zu dem Thema gesagt hatte.
Sie zog vorsichtig den Vorhang zwischen ihrem und Sams Bett ein Stück zurück. Zu ihrer Enttäuschung war es erneut leer, und der Tag lag einsam vor ihr, ohne Gesellschaft.
Als sie zwei Stunden später Amys Stimme auf der Treppe hörte, rief Beth nach unten und fragte sie, ob sie vielleicht auf einen Tee zu ihr raufkommen wolle.
Amy lebte in der zweiten Generation in Amerika, ihre Eltern stammten aus Holland, aber sie hatte die Farm der Familie in Connecticut verlassen, weil ihrem Vater der Mann, mit dem sie damals zusammen war, nicht gefiel. Reumütig hatte sie Beth erklärt, dass der Mann, um den es ging, nicht mit ihr durchbrennen wollte, und so war sie allein nach New York gekommen. Aber es schien ihr gut zu gehen: Sie und ihre Freundin Kate gingen immer aus, sie hatten schöne Sachen, und sie waren glücklich und freundlich. Beth war oft ein bisschen neidisch auf sie, denn sie schienen viel mehr Spaß zu haben als sie selbst.
»Tee! Genau das, was ich jetzt brauche. Da unten geht es zu wie in einem Tollhaus«, sagte Amy, als sie in Beths Zimmer kam. Sie sah aus wie ein Mädchen vom Land, groß, mit breiten Schultern, einem breiten, flachen Gesicht und flachsblondem Haar. »Die Familie ist noch größer geworden! Ich frage dich, wie können sich sechs Leute ein kleines Zimmer teilen? Und was das Betreten der Küche angeht ...!«
Amy meinte damit die irische Familie, die ein Zimmer in ihrer Wohnung bewohnte. Anfangs waren es zwei Erwachsene und zwei Kinder gewesen, aber nach dem Einzug von zwei weiteren Personen war es dort unglaublich beengt. Da Amy sich ihr kleines Zimmer schon mit Kate teilte und im dritten Zimmer der Wohnung fünf Leute wohnten, konnte Beth sich vorstellen, wie schwierig es war, sich in der Küche aufzuhalten, die sie sich alle teilten.
Amy ließ sich auf Sams Bett fallen, und während Beth ihnen den Tee eingoss, schimpfte sie noch eine Weile weiter über die Nachbarn. Sie vermutete, dass jemand aus der irischen Familie Schmutzwasser in die Spüle goss. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass sie sich an ihren Lebensmitteln bedienten, und immer weinte ein Kind. »Ich muss mir eine andere Unterkunft suchen«, sagte sie schließlich. »Es ist unerträglich.«
Beth hatte viel Verständnis für Amy und Kate und war sich bewusst, wie viel Glück sie hatte, dass Sam und sie sich die Wohnung nur mit den Rossinis teilen mussten, einem Paar mittleren Alters, das ruhig, sauber und freundlich war.
Aber Amy hielt sich nie länger als ein oder zwei Minuten mit Problemen auf. Als sie ihren Tee trank, brachte sie Beth schon mit einer Geschichte über den Lebensmittelhändler um die Ecke zum Lachen, der von seiner Frau mit einer anderen erwischt worden war.
»Wo ist Sam?«, fragte sie ein bisschen später. »Ich sehe ihn in letzter Zeit kaum noch. Hat er eine Freundin?«
»Ich schätze ja«, antwortete Beth. »Aber er hat mir nichts von ihr erzählt.«
»Sie hat Glück, wer immer sie ist«, sagte Amy mit einem Leuchten in den Augen. »Er sieht wirklich gut aus.«
»Wenn er nicht aufpasst, dann wird er vielleicht gezwungen sein zu heiraten«, erwiderte Beth.
»Ich bin sicher, er weiß, wie er das vermeiden kann.«
»Kann man das vermeiden?«, fragte Beth naiv.
»Natürlich, du dumme Gans.« Amy lachte.
»Wie?«
»Einige Männer, die rücksichtsvolleren, ziehen sich rechtzeitig zurück«, erklärte Amy offen. »Darauf würde ich mich allerdings lieber nicht verlassen. Sie können auch eine Art Gummihülle benutzen, aber die kann reißen, und Männer mögen sie nicht. Aber die meisten Frauen, die ich kenne, benutzen hinterher eine Spülung. Oder es gibt auch einen kleinen Schwamm, den man sich reinstecken kann, bevor man anfängt.«
Beth hatte Amy sofort gemocht, weil sie so offen und direkt war, aber sie wurde rot vor Verlegenheit über diese intimen Enthüllungen. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie.
Als Amys Gesichtsausdruck sich verdüsterte und sie nicht wie üblich eine ihrer lustigen Bemerkungen machte, hatte Beth das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. »Ich wollte nicht neugierig sein, ich werde dir keine Fragen mehr stellen.«
Amy sah sie an und seufzte. »Ich wünschte, ich hätte jemanden gehabt, den ich diese Sachen hätte fragen können, als ich so alt war wie du. Aber das hatte ich nicht, also wurde ich schwanger.«
»Und was hast du gemacht?«, flüsterte Beth erschrocken.
»Eine alte Frau, die ich kannte, hat es mir weggemacht«, gestand Amy. »Das war kurz nach meiner Ankunft in New York. Es war furchtbar. Ich dachte, ich würde sterben.«
»Danach hattest du bestimmt erst mal genug von Männern, oder?«
Das ältere Mädchen kicherte. »Sicher, für eine Weile, doch dann habe ich einen anderen Charmeur getroffen. Bevor ich den an mich ranließ, holte ich mir aber erst mal Rat von einem der Mädchen bei Rosie’s.«
Beth riss schockiert die Augen auf, weil sie gehört hatte, wie sich ein paar Männer im Heaney’s über das Rosie’s unterhalten hatten – ein Bordell.
»Sieh mich nicht so an«, schimpfte Amy. »Nicht viele von uns haben ein Talent, von dem wir leben können, so wie du von deinem Geigenspiel. Für einige von uns ist es der einzige Weg, wenn wir ein Dach über dem Kopf haben wollen. Ich war bald aufgeklärt und fing an, bei Rosie’s zu arbeiten.«
Beth konnte kaum glauben, was Amy ihr da gerade gestanden hatte. Sie hatte sich nie gefragt, womit ihre Freundin ihren Lebensunterhalt verdiente; sie war einfach davon ausgegangen, dass sie in einem Laden arbeitete, weil sie so schicke Kleider trug.
»Jetzt sag nicht, du hast es nicht gewusst?« Amy warf den Kopf zurück und lachte über Beths erschrockenen Gesichtsausdruck. »Ich dachte, jemand hätte es dir inzwischen erzählt!«
»Ich rede mit kaum jemandem außer euch beiden«, sagte Beth kleinlaut. »Ich hätte das nie gedacht. Ich meine, du bist so nett.«
»Huren können genauso nett sein wie jeder andere«, erwiderte Amy mit leicht säuerlichem Tonfall. »Wir stellen auch nicht zur Schau, was wir tun, indem wir halbnackt und mit angemaltem Gesicht herumlaufen.«
»So meinte ich das nicht«, erklärte Beth hastig. »Ich meinte, dass ich dachte, du arbeitest in einem Laden oder einem Restaurant.«
Amy rollte die Augen zum Himmel. »Schätzchen, ich dachte, im Heaney’s zu arbeiten hätte dir die Augen geöffnet! Nur wenige Frauen wollen Huren werden, aber wenn man Hunger hat und kein Dach über dem Kopf, dann ist es nicht so schlecht, ein paar Dollar dafür zu kriegen, einem Mann ein bisschen Zuneigung zu schenken. Warum sollte ich als Zimmermädchen oder in einem Laden für fünf oder sechs Dollar die Woche arbeiten, wenn ich so viel schon von einem Freier bekomme?«
Beth war sprachlos. Jetzt ergab es natürlich einen Sinn, warum Amy so viel über Männer wusste, und auch, warum sie tagsüber so oft zu Hause war. Sie suchte nach den richtigen Worten, die nicht herablassend oder kritisch klangen, als Sam nach Hause kam und Amy sofort aufsprang und erklärte, dass sie gehen müsse.
Weil sie nicht wollte, dass Amy glaubte, sie wäre zu fein, um mit einer solchen Enthüllung umzugehen, begleitete Beth sie zur Tür. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich war nur so überrascht.«
Amy legte ihre Hand auf Beths Schulter. »Ich schätze, du bist einfach noch zu unerfahren. Weißt du, ich dachte, du wüsstest es, und ich war so froh, dass du mich trotzdem mochtest, aber ich schätze, das ist jetzt das Ende unserer Freundschaft?«
»Auf keinen Fall«, sagte Beth und meinte es so. »Ich mag dich sogar noch mehr, weil du ehrlich zu mir warst. Ich komme mir nur ein bisschen dumm vor, weil ich es nicht gemerkt habe. Aber du hast mir eine Menge zum Nachdenken gegeben.«
»Hör auf nachzudenken, und hab ein bisschen Spaß«, sagte Amy mit einem breiten Grinsen. »Dein Bruder weiß, wie das geht.«
Sie war weg, bevor Beth sie fragen konnte, was genau sie damit gemeint hatte.
Ein bisschen später kochte Beth Tee und machte ein Sandwich für Sam, bevor er zur Arbeit musste, als sie ein komisches Rascheln aus ihrem Zimmer hörte. Sie hatte ihn nicht gefragt, wo er die ganze Nacht über gewesen war, weil er sich gewaschen und rasiert hatte, und außerdem war sie in Gedanken immer noch mit dem beschäftigt, was Amy ihr erzählt hatte.
Aber da ihre Zimmertür halb offen stand, steckte sie den Kopf hindurch, um zu sehen, was das für ein Geräusch war. Zu ihrer Überraschung saß er an dem kleinen Tisch am Fenster und spielte mit einem Stapel Karten. Während sie zusah, mischte er sie, tat dann etwas mit ihnen, das wie ein kunstvoller Trick aussah, und legte sie dann in einer Reihe auf den Tisch, wobei jede die andere halb überlappte.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich übe nur«, erwiderte er, ohne den Kopf zu wenden, und hob die Reihe an, sodass sich alle Karten gleichzeitig umdrehten.
»Ist das ein Trick?«
»Nein. Nur das, was die Kartengeber machen. Ich bin noch nicht schnell und geschickt genug. Aber ich kann es schon fast.«
»Warum willst du das lernen?«, fragte sie und trat ins Zimmer.
Er legte die Karten weg und sah sie an. »Weil ich Kartengeber werden will. Ich will alles über Kartenspiele, Poker, Roulette, Faro und den ganzen Rest lernen.«
Beth hatte das Gefühl, als würde ihre Welt plötzlich Kopf stehen. Zuerst fand sie heraus, dass ihre einzige Freundin eine Hure war, und jetzt erklärte Sam ihr, dass er ein Spieler werden wollte.
Sie konnte akzeptieren, dass Theo spielte – als Gentleman gehörte das zu seinem Lebensstil. Aber Sam war dazu erzogen worden, das Böse darin zu erkennen. Ihr Vater hatte nicht mal einen Schilling auf ein Pferd gewettet, denn er sagte immer, dass man dadurch schnell auf die schiefe Bahn geriet.
»Ich möchte in Spielsalons arbeiten, nicht mein Geld dort verlieren«, erklärte er und sah sie scharf an, als wollte er sie davor warnen, das zu missbilligen. »Da kann man gutes Geld verdienen; die Bank verliert nie.«
»Hat Heaney etwas damit zu tun?«, wollte sie wissen.
»Nicht mehr, als dass ich gesehen habe, was er mit den Glücksspielen in seinem Laden verdient«, gab Sam zurück. »Deshalb muss ich länger arbeiten – ich serviere den Spielern die Getränke. Ich habe sie genau beobachtet.«
Beth ließ sich auf sein Bett sinken. Sie spürte Panik in sich aufsteigen, denn plötzlich erschien ihr alles bedrohlich.
»Was ist los?«, fragte er. »Oh, zur Hölle noch mal, halt mir jetzt bitte keine Moralpredigt, Beth! Glücksspiele sind hier sehr beliebt, die Leute finden es nicht schlimm, also warum sollten wir das tun?«
»Hast du denn nie Angst, dass wir die Werte verlieren, nach denen wir früher gelebt haben?«, fragte Beth.
»Dass wir nicht vergessen dürfen, zu welcher Klasse wir gehören? Dass wir vor der Oberschicht katzbuckeln müssen? Dass wir arm, aber ehrlich sind? Sag mir, Beth, warum sollen wir nicht reich sein? Steht irgendwo geschrieben, dass wir nicht nach Höherem streben dürfen, weil unser Vater Schuster war?«
»Ich schätze, ich habe einfach Angst, dass uns das alles verdirbt«, sagte sie kleinlaut. »Du weißt genau, selbst wenn du es nicht zugeben willst, dass wir an Heaney gebunden sind, und er ist kein guter Mann.«
»Ich weiß, dass er uns ausnutzt, aber wir können ihn auch ausnutzen, Beth. Du sammelst Erfahrungen und übst, während du für ihn spielst, und ich lerne etwas über Kartenspiele. Wenn die Zeit reif ist, dann nehmen wir diese Erfahrungen und ziehen weiter, weg von New York nach Philadelphia, Chicago oder sogar nach San Francisco. Wir sind hergekommen, um Abenteuer zu erleben und reich zu werden, und genau das werden wir auch tun.«
»Du gehst doch nicht eines Tages einfach ohne mich weg, oder?«, fragte sie ängstlich.
Sam setzte sich neben sie aufs Bett und umarmte sie fest. »Beth, du bist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir wirklich etwas bedeutet. Du bist nicht nur meine Schwester, du bist meine beste Freundin. Ich werde ohne dich niemals irgendwo hingehen.«
Sam war niemand, der blumige Reden schwang, und weil sie wusste, dass er meinte, was er sagte, brach Beth in Tränen aus.
»Weine nicht, Schwesterchen«, flüsterte er und strich ihr übers Haar. »Wir sind bis jetzt gut zurechtgekommen, und wir können es noch viel weiter bringen.«