25
Jack hatte recht. Innerhalb einer Woche herrschte das totale Chaos in Gas Town. Der Klondike-Goldrausch hatte begonnen.
Zeitungen auf der ganzen Welt hatten die Nachricht von dem Gold verbreitet, und jeder Zug, der in Vancouver ankam, brachte Hunderte weitere Leute, die unbedingt nach Yukon wollten. Sie strömten nach Gas Town und verursachten Chaos, weil sie hektisch Ausrüstung, Proviant und Fahrscheine für jedes verfügbare Schiff kauften, das sie nach Skagway bringen würde. Doch in Vancouver ging es angeblich sehr viel weniger hektisch zu als in Seattle, und es fuhren auch vollbesetzte Schiffe von Victoria, Portland und San Francisco ab.
Beth und die anderen waren erstaunt darüber, wie schnell die Ladenbesitzer in Vancouver Ausrüstungsgegenstände und Lebensmittel für die Goldsucher heranschafften. Riesige Banner über den Läden in der Cordova Street verkündeten, dass sie die »Klondike-Ausrüster« waren. Schlittenhunde wurden zu maßlos überteuerten Preisen angeboten, Broschüren, in denen aufgelistet war, was man für die Fahrt brauchte, wurden gedruckt und verkauft, bevor die Tinte trocken war. Goldfieber war offenbar hochansteckend: Bankangestellte kündigten ihre sicheren Jobs; Straßenbahnfahrer ließen ihre Wagen stehen; Polizisten, Verkäufer und Reporter verließen ihre Arbeitsplätze; einige Farmer brachen sogar auf, bevor die Ernte eingebracht war.
Es gab kein anderes Gesprächsthema. Auf einmal schien niemand mehr krank zu sein, Babys zu bekommen, zu heiraten oder zu sterben. Ob alt oder jung, reich oder arm, egal, welche Nationalität, jeder wollte an der Goldsuche teilnehmen.
Die Reichen konnten Yukon recht bequem auf einem Dampfer nach St. Michael an der Beringsee erreichen und dann über den Yukon River zu den Goldfeldern fahren, aber diese Strecke war weiter als die über Land von Skagway aus. Edmonton wurde als rein kanadische Route für die Patrioten beworben, aber Jack, der die Landkarten genau studiert hatte, hielt diese Strecke für unmöglich, weil man dafür zwei Bergketten überwinden musste.
Es war Jack, der ihnen die Dampferfahrscheine besorgte, und fast sofort hätten sie diese für das Vier- oder Fünffache des ursprünglichen Preises weiterverkaufen können. Es sprach sich herum, dass die North-West Mounted Police niemanden ohne eine Tonne Proviant über die Grenze zwischen Alaska und Kanada ließ, weil sie eine Hungersnot befürchtete.
Jack und Sam liefen herum und trugen alles zusammen, was sie brauchen würden: Pökelfleisch, Reis, Zucker, Kaffee und eingelegte Eier. Ein Zelt, dicke Mäntel, Hüte mit breiten Krempen, hohe Stiefel, Handschuhe, Brillen zum Schutz vor Schneeblindheit – die Liste war endlos, und sie gaben all das Geld aus, das sie sich in den vergangenen Monaten zusammengespart hatten. Aber der redegewandte Theo fand einen Weg, weiter Geld zu verdienen, indem er sich unter die Neuankömmlinge in der Stadt mischte und sie mit seinem Drei-Karten-Glücksspiel um ihre Ersparnisse erleichterte.
Während die Tage mit fieberhaften Einkäufen und dem Packen ihrer Vorräte in wasserdichte Wachstuchsäcke vergingen, spielte Beth jeden Abend zu donnerndem Applaus Geige, sodass der Hut sich bis zum Rand mit Geld füllte. Sam und Jack schenkten genügend Drinks aus, um mehrere Dutzend Dampfer schwimmen zu lassen, und Theo pokerte und gewann.
Endlich, am 15. August, bestiegen sie die Albany, einen altersschwachen Dampfer, der in jeder Hinsicht kaum seetauglich wirkte. Jack hatte ihnen eine Kabine gebucht, aber als sie an Bord kamen, erklärte man ihnen, dass die meisten Kabinen abgerissen worden waren, um Platz für noch mehr Ladung und Passagiere zu schaffen.
Sie mussten das akzeptieren, denn es war klar, dass man sie von Bord werfen würde, wenn sie sich beschwerten, also suchten sie sich einen Platz an Deck und kauerten sich dort zwischen ihre Sachen.
Als der Dampfer Vancouver zusammen mit einer riesigen Flotte von anderen Schiffen verließ, herrschte freudige Aufregung unter den Passagieren. Selbst wenn die Leute genug Platz gehabt hätten, um sich auszustrecken, war es zweifelhaft, ob irgendjemand geschlafen hätte.
Erst als das Schiff die Inside Passage von Alaska mit seiner atemberaubend schönen Landschaft mit unberührten Wäldern, schneebedeckten Bergen und nebligen Fjorden auf beiden Seiten des schmalen Kanals erreichte, wurde ihnen wirklich klar, was sie erwartete.
Das, was sie hinter der Reling sahen, mochte unberührte Schönheit sein, aber sie wurde getrübt durch den Gestank nach Kohle, Pferdeäpfeln, Erbrochenem und Schweiß um sie herum. Ständig jaulten Hunde, Pferde traten aus und wieherten, und das Schiff war so überfüllt, dass sie nicht wagten, den Platz an Deck aufzugeben, aus Angst, ihn zu verlieren. Sie kauerten sich unter eine Plane, die sie gegen den kalten Wind und den heftigen Regen aufgespannt hatten, und ihnen wurde klar, dass dieser ungemütliche Zustand sich noch verschlimmern würde, bevor sie die Goldfelder erreichten.
Die meisten anderen Passagiere hatten sich nicht wie Jack die Mühe gemacht, herauszufinden, wo der Klondike genau lag, und glaubten, dass die Goldfelder nur einen Tagesmarsch von Skagway entfernt waren. Wenige von ihnen wussten, dass sie Berge überqueren mussten und für die letzten achthundert Kilometer ein Boot brauchten.
Einige Leute hatten sich dazu überreden lassen, lächerliche Dinge zu kaufen wie Fahrräder auf Skiern oder mechanische Goldwaschapparaturen, die niemals funktionieren würden. Andere hatten genug Holz für eine eigene Blockhütte, ein Klavier oder einen gusseisernen Ofen mitgenommen, aber keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie das über die Berge transportieren sollten.
Doch trotz der schlimmen Zustände auf dem Schiff – man musste sieben Stunden auf ein Essen warten, das so furchtbar schmeckte, dass es kaum genießbar war, Waschgelegenheiten fehlten völlig, und die Toiletten lösten in Beth einen Würgereiz aus – waren sie alle vier guter Stimmung, denn die Leute um sie herum waren in Feierlaune und benahmen sich alle wie aufgeregte Kinder auf dem Weg zum Jahrmarkt.
Es war amüsant, diese vielen verschiedenen Menschen zu beobachten. Elegant gekleidete Gentlemen waren gezwungen, sich den Platz mit grobschlächtigen Matrosen und Holzfällern zu teilen; es gab grellbunt gekleidete Frauen mit angemalten Gesichtern, alte Hasen, die einen solchen Goldrausch schon mal erlebt hatten, und Geistliche, die offenbar missionieren wollten. Die meisten waren Amerikaner oder Kanadier, aber es gab auch Deutsche, Schweden, Ungarn, Mexikaner und sogar Japaner. Was sie alle einte, war der Traum, reich nach Hause zurückzukehren. Wenn sie von dem Gold sprachen, glänzten ihre Augen, und sie ließen sich von den Unbequemlichkeiten die Vorfreude darauf nicht verderben.
»Wir sollten Skagway morgen erreichen«, sagte Jack, als er sich nach einer zweistündigen Abwesenheit wieder unter die Plane schob. Sie waren jetzt neun Tage unterwegs und befanden sich inzwischen im wunderschönen Lynn Canal, der an den Stränden von Skagway und Dyea endete. Nackte, schneeüberzogene Berghänge erhoben sich über dem klaren, türkisfarbenen Wasser und ließen den bunt zusammengewürfelten Konvoi von Schiffen, der sich durch die schmale Passage bewegte, winzig wirken. »Ich habe mit jemandem von der Mannschaft gesprochen, der schon mal hier war. Er sagte, dass es dort nur einen winzigen Anleger gibt und wir deshalb mit unseren Sachen an Land waten müssen. Gut, dass wir schon unsere ältesten Sachen anhaben!«
»Die müssen sowieso dringend mal gewaschen werden«, kicherte Beth, denn sie trugen noch immer dieselben Sachen wie an dem Tag, an dem sie an Bord gegangen waren. »Aber verderben die Lebensmittel nicht, wenn sie mit Meerwasser in Berührung kommen?«
»Ich mache mir mehr Sorgen darüber, dass uns die Sachen gestohlen werden.« Jack runzelte die Stirn. »Du kannst darauf wetten, dass jede Menge Diebe nur auf die richtige Gelegenheit warten. Ich bringe dich an Land, Beth. Theo und Sam bleiben hier und bewachen unser Gepäck, dann bringen wir es Stück für Stück zu dir an Land.«
»Können wir denn nicht einen Matrosen bezahlen, damit er uns mit den Sachen an Land rudert?«, mischte sich Theo ein.
Beth und Jack grinsten sich amüsiert an. Theo wollte immer jemanden dafür bezahlen, damit er die Dinge für ihn erledigte, die ihm unangenehm waren.
»Die meisten werden ebenfalls von Bord gehen«, sagte Jack. »Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass von jetzt an jeder auf sich allein gestellt ist.«
Erneut erwiesen sich Jacks Informationen als korrekt, denn als sie das Klirren der Ankerkette und das Platschen hörten, als der Anker auf das Wasser traf, war der Strand noch immer mehr als einen Kilometer entfernt.
»Es wird doch wohl nicht erwartet, dass wir an Land schwimmen!«, rief eine übergewichtige ältere Dame entsetzt.
Von ein paar anderen Schiffen waren Schuten heruntergelassen worden, die Leute und Ausrüstung an Land brachten, aber es würde Wochen dauern, wenn alle auf diese Weise von Bord gingen. Die Mannschaft rief bereits, dass gerade Ebbe herrsche und dass die Leute, wenn sie nicht aufpassten und schnell an den Strand gingen, ihre Sachen verlieren oder vielleicht sogar ertrinken würden.
Die verängstigten Pferde und die anderen Tiere wurden kurzerhand ins Meer gestoßen, damit sie an Land schwammen, und die Menschen folgten dem Beispiel und sprangen ins Wasser.
Jack stopfte Beths Mantel, ihre Stiefel und ihren Schal in eine Wachstuchtasche und führte Beth zur Schiffsleiter. Das Wasser war so eisig, dass es ihr für einen Moment den Atem nahm, aber Jack legte seine Arme um ihre Brust und erklärte ihr, dass sie die Tasche hochhalten müsse, damit sie trocken bliebe. Dann schwamm er auf dem Rücken mit ihr die wenigen Meter, bis sie mit den Füßen auf den Boden kam und an Land waten konnte.
»Das fängt ja gut an«, sagte sie mit klappernden Zähnen.
»Die Sonne ist warm, du bist bald wieder trocken«, erwiderte Jack fröhlich. »Du gehst jetzt an den Strand und hältst einen Platz für unsere Sachen frei. Ich schwimme zurück zum Schiff.«
Als Beth auf dem Trockenen war, sah sie sich beklommen um. Skagway war nur eine Ansammlung von Hütten und Zelten im Marschland, das bereits nur noch aus schwarzem Schlamm bestand. Es war von Bergen umgeben, von denen einige noch immer schneebedeckt waren, aber noch abschreckender waren die verzweifelten Szenen, die sich vor ihr im Meer abspielten.
Mindestens dreißig Schiffe lagen vor Anker, und alle versuchten gleichzeitig, Passagiere und Fracht von Bord zu bekommen. Das Meer war gesprenkelt mit Pferden, Ziegen, Hunden, Maultieren und Ochsen, die alle an Land schwammen, und ihren Besitzern, die sich bemühten, mit ihnen mitzuhalten.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Männer, denen die paar Dutzend Schuten und primitiven Boote gehörten, warben für ihre Dienste, indem sie so laut brüllten, wie sie konnten. Die Leute auf den Schiffen schrien noch lauter zurück. Wenn Sachen, die vom Schiff geworfen wurden, ihr Ziel verfehlten und ins Wasser fielen, fluchten und schimpften die Besitzer. Tiere drückten ihre Furcht durch Wiehern oder Bellen aus. Hilferufe kamen von denen, die sich im eisigen Wasser befanden. Einige Gepäckstücke waren aufgerissen, und Beth sah, wie ein Sack Mehl das Meer um sich herum weiß färbte.
Jemand rief, dass die Flut komme und alle sich beeilen sollten. Die Angst um die anderen ließ ihre nassen Sachen plötzlich unwichtig werden. Sam konnte nicht schwimmen, Theo vielleicht auch nicht, und die Albany lag zu weit entfernt, um sie an Deck zu erkennen.
Sie zog ihre Unterröcke aus und sicherte sie mit Steinen, damit sie im Wind trocknen konnten, dann zog sie ihre Stiefel wieder an. Außerdem beschloss sie, den Mantel ausgezogen zu lassen, bis ihr Kleid wieder trocken war.
Ihre Sorge nahm zu, als die Flut langsam hereinrollte und sie sah, dass mehr Leute im Meer trieben und noch mehr Säcke aufgerissen waren und ihr Inhalt sich im Wasser verteilte. Ihr Kleid war jetzt fast wieder trocken, also wartete sie bereits seit fast einer Stunde. Aber sie konnte die anderen nirgendwo entdecken.
Gerade als sie kurz vor einer Panikattacke stand, sah sie plötzlich Jack im flachen Wasser stehen. Er zog etwas zu sich heran, das wie eine lange Kette schwarzer Würstchen aussah.
Nicht zum ersten Mal, seit sie Montreal verlassen hatten, war sie beeindruckt von seinem Einfallsreichtum, denn er hatte ihre Wachstuchsäcke mit einem Seil aneinandergebunden. Als sie erneut hinsah, entdeckte sie Sam, der sich an einen der Säcke klammerte, und Theo, der ganz am Ende schwamm.
»Wärst du jetzt lieber woanders, Beth?«, fragte Jack später an diesem Abend.
»Nein«, log sie. »Aber es war alles ziemlich beängstigend, überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
Es war acht Uhr abends. Schwärme von Männern, die kaum mehr als Gangster waren, darauf aus, die Naiven auszurauben, hatten sich auf sie gestürzt und versucht, sie für das Aufstellen des Zeltes, für Feuerholz und zahllose andere Dinge bezahlen zu lassen.
Die drei Männer waren hart geblieben und hatten sich geweigert, für irgendetwas Geld zu geben, und schließlich hatten sie ihr Zelt unter Hunderten von anderen ungefähr einen Kilometer von Skagway entfernt aufgestellt. Sie hatten ihre Säcke an den Zeltwänden verteilt, um für mehr Standhaftigkeit und Wärmedämmung zu sorgen, wenn der Herbstwind auffrischte, und Jack hatte Feuer gemacht, damit ihre Kleider trocknen und sie sich etwas zu Essen kochen konnten.
Beth lehnte sich jetzt gegen einen der Säcke, in eine Decke gehüllt, und versuchte, nicht völlig mutlos zu werden.
Sam war eingeschlafen, und Theo war weggegangen, um sich anzusehen, was die Stadt zu bieten hatte. Da man ihnen erzählt hatte, dass Skagway eine völlig gesetzlose Stadt sei, in der Diebe, Trickbetrüger, Spieler und Prostituierte den Ton angäben, nahm Beth an, dass er die halbe Nacht wegbleiben würde.
Es war schlimm genug festzustellen, dass sie an einem Ort voller Gangster und Diebe gelandet waren, aber es war noch enttäuschender zu entdecken, dass sie bis Februar hierbleiben mussten.
Es gab zwei Pässe über die Berge. Der Weg über den White Pass, der hier in Skagway begann, sollte der einfachere sein, da man auf ihm Lasttiere mitnehmen konnte, aber er war länger als der über den Chilkoot Pass, der ungefähr zwölf Kilometer entfernt in Dyea anfing.
Die Leute waren schon jetzt auf beiden unterwegs, aber Jack hatte mit einem Indianer gesprochen, der als Träger arbeitete und das Gepäck der Leute über den Pass brachte, und der hatte ihm erklärt, dass es dumm gewesen wäre, ihnen zu folgen. Der Indianer sagte, dass der Yukon im nächsten Monat zufrieren würde, lange bevor sie ihn erreichen konnten, und ohne ein Hundeteam, das einen Schlitten darüberziehen konnte, würden sie den gesamten Winter über in den Bergen festsitzen und dort vielleicht sterben.
Jack war sehr enttäuscht, aber Theo war hocherfreut über die Aussicht, bis Februar hierzubleiben. Er betrachtete Skagway als die aufblühende Stadt, nach der er gesucht hatte, reif für die Ausbeutung. Ohne eine Spur von Scham hatte er erklärt, dass jeder Einzelne auf dem Schiff ein Spieler sei, denn sie alle hatten ihre Häuser und ihre Jobs verlassen, um herzukommen, und dass er deshalb keine Skrupel habe, sie auszunehmen.
Sam schien es egal zu sein, ob sie gingen oder blieben, deshalb lag die Entscheidung letztlich bei Beth. Obwohl sie Skagway für die Hölle auf Erden hielt, war die Aussicht, irgendwo in den Bergen zu erfrieren, noch beängstigender, deshalb hatte sie dafür gestimmt zu bleiben.
»Es wird hier nicht so schlimm. Ich baue uns ein Blockhaus«, tröstete Jack sie. »Es gibt jede Menge Holz dafür. Vielleicht kann ich, wenn ich mit unserem fertig bin, auch ein paar Dollar damit verdienen, anderen welche zu bauen.«
»Dann hole ich morgen meine Geige raus«, sagte Beth. Zu ihrer großen Erleichterung hatte das Instrument im Salzwasser keinen Schaden genommen. Das Mehl war feucht und der Zucker auch, aber zum Glück gab es sonst keine Verluste. »Es wird uns ein Vermögen kosten, hierzubleiben. Hast du gesehen, was hier eine Mahlzeit kostet?«
Die Leute hatten bereits in Zelten Saloons und Restaurants eröffnet. Sie hatte eine Karte vor einem davon gesehen, auf der Schinken und Bohnen für einen Dollar angeboten wurden. In Vancouver hatte dieses Gericht nur ein paar Cent gekostet.
Jack nickte. »Theo wird sich auch erschrecken, wenn er den Preis für Whiskey sieht. Aber wir können bestimmt ein bisschen Geld mit dem Haufen Seidenbänder machen, den du mitgebracht hast. Einige der Frauen in den Saloons sehen aus, als könnten sie etwas gebrauchen, das sie aufmuntert.«
»Dann warst du schon drin und hast sie gesehen?«
»Oh ja, und es ist wirklich ein trauriger Anblick.« Jack schmunzelte. »Eine nennt sich Dirty-neck Mary, eine andere Pig-faced Sal! Ein Mann muss schon sehr verzweifelt sein, um mit einer von ihnen mitzugehen.«
»Dann kommt Theo hier ja vielleicht nicht in Versuchung«, sagte Beth lächelnd.
»Ich denke, du wirst eher diejenige sein, die weggelockt wird.« Jack hob die Augenbrauen. »Bei weniger als dreißig Frauen auf ungefähr zweitausend Männer, zu denen täglich neue hinzukommen, bist du eine echte Trophäe.«
»Heute Abend spielt: die weltberührte englische Gypsy Queen!«
Beth kicherte, als sie die Tafel sah, die die Clancy-Brüder aufgestellt hatten. Für sie war das eine genauso große Übertreibung wie die Behauptung der Clancys, dass ihr großes Zelt hinter der Tafel ein Saloon sei.
An ihrem zweiten Tag in der Stadt hatte man Beth erklärt, dass die Brüder Frank und John Clancy die tonangebenden Männer in Skagway waren und von ihrem Saloon aus alle Fäden in der Hand hielten, deshalb war sie direkt zu den beiden gegangen.
Sie wusste, dass sie die einzige Geige spielende Frau in der Stadt war und dass sie für die Drinks völlig überteuerte Preise nahmen, deshalb verlangte sie fünfundzwanzig Dollar pro Abend plus das, was die Leute in den Hut warfen. Sie nahm an, dass sie ihr nur den Inhalt des Hutes geben würden, aber zu ihrer Überraschung akzeptierten sie auch ihre abendliche Gage.
Ihr erster Abend war ein großer Erfolg, es kamen über fünfzig Dollar im Hut zusammen, von denen sie zehn dem Barkeeper gab, um ihn sich warmzuhalten. Da Theo nicht da war, um sie zurück zu ihrem Zelt zu begleiten, sagte sie ja, als die Clancy-Brüder, zwei dunkelhaarige, untersetzte Männer mit wild aussehenden Schnurrbärten, sie baten, zu bleiben und am Ende des Abends etwas mit ihnen zu trinken.
Frank Clancy stellte ihr einen großen, schick angezogenen Mann mit einem dichten schwarzen Bart und einem schwarzen Stetson-Hut vor. »Das ist Mr Jefferson Smith, aber er ist hier besser bekannt als Soapy.«
»Ich bin auch als Beth Bolton bekannt«, erwiderte sie und konnte nicht widerstehen, ihm ein bisschen schöne Augen zu machen, denn er war ein sehr attraktiver Mann mit tief liegenden, dunkelgrauen Augen. »Aber warum Soapy? Liegt es daran, dass Sie sich nie waschen, oder tun Sie das zu ausgiebig?«
»Was wäre Ihnen denn lieber, Mam?«, fragte er, nahm ihre Hand und küsste sie.
Beth kicherte, weil er einen starken Südstaaten-Akzent hatte, der genauso attraktiv war wie er selbst.
»Irgendetwas in der Mitte«, erwiderte sie. »Aber es gibt so wenig Waschmöglichkeiten in Skagway, dass ich mich wahrscheinlich an Leute gewöhnen muss, die nicht wissen, was Seife ist.«
Sie verzweifelte fast bei dem Gedanken, dass sie es bis Februar in Skagway aushalten musste. Der tiefe Schlamm, das ständige Bellen der Hunde und die Prügeleien, die Diebe und Betrüger, die jeden ausnahmen, wenn sie konnten, und das Fehlen von selbst den grundlegendsten Annehmlichkeiten machten es zu einem wenig einladenden Ort.
»Oh, aber ich habe Pläne«, sagte Smith und lächelte leicht über ihren Scherz. »Ich will richtige Straßen, ein Hotel, Geschäfte, Laternen, ein Badehaus und sogar eine Kirche bauen.«
»Ach wirklich?«, fragte sie. »Dann sind Sie der Bürgermeister von Skagway?«
»So etwas in der Art«, erklärte er, und sein Selbstbewusstsein bestätigte ihr, dass er vorhatte, die Stadt zu kontrollieren.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, vor allem über ihre Ankunft. Smith selbst war erst seit einer Woche da, und er war Partner der Clancy-Brüder.
»Ist Earl Cadogan Ihr Mann?«, wollte er wissen.
Der Titel brachte sie völlig durcheinander. Seitdem sie damals nach Montreal gegangen waren, hatte sie behauptet, mit Theo verheiratet zu sein, aber jetzt, wo sie feststellen musste, dass er sich selbst einen Titel gegeben hatte, wusste sie nicht, ob sie das zu Lady Cadogan machte oder zu einer Gräfin. Sie war nicht in der Lage, in diesem Ausmaß zu lügen, deshalb erklärte sie, dass er nur ein guter Freund sei und dass sie mit ihrem Bruder und einem weiteren Freund, Jack Child, hergekommen sei.
»Dem Londoner?«, fragte Smith. »Ich habe ihn heute Nachmittag kennengelernt; er scheint ein wirklich tüchtiger Bursche zu sein. Dann haben Sie ausreichenden Schutz?«
»Glauben Sie, dass ich den brauche, Sir?«, neckte sie ihn.
»Alle Damen brauchen Schutz, aber jemand so Hübsches und so Charmantes an einem so gottverlassenen Ort braucht ihn Tag und Nacht.«
In diesem Moment kamen Sam und Jack und begleiteten sie aus dem Zelt. Sie waren bei Captain Moore gewesen, dem das Sägewerk hier gehörte, und hatten sich Holz besorgt, um daraus eine Hütte zu bauen.
»Wusstet ihr, dass Theo den Leuten erzählt hat, er wäre ein Earl?«, fragte sie die beiden, als sie sich durch den zähen Schlamm zurück zu ihrem Zelt kämpften.
»Er hat sich schon in Montreal so genannt«, gestand Sam. »Das bedeutet nichts, Schwesterchen, das öffnet ihm nur ein paar Türen. Amerikaner beeindruckt so etwas.«
»Tja, aber seine Frau hat er gerade verloren«, erklärte sie säuerlich. »Aber ich schätze, das ist ihm egal.«
Es gab Zeiten in den folgenden Wochen, in denen Beth versucht war, das nächste Schiff zurück nach Vancouver zu nehmen, selbst wenn sie allein hätte gehen müssen. Sie wachte morgens steif und kalt auf, und die Aussicht, noch einen Tag lang durch den Matsch zu waten, über dem offenen Feuer zu kochen und niemals etwas Privatsphäre oder Ruhe zu haben, erschien ihr unerträglich.
Jeden Tag kamen neue Schiffe und entluden Hunderte von Leuten, Pferden, Hunden und anderen Tieren. Die Reihen mit Zelten breiteten sich weiter und weiter aus, immer mehr Bäume wurden gefällt, und noch mehr Schlamm und Dreck entstanden.
Lächerlich hohe Preise für die Dinge des täglichen Lebens ließen Beth befürchten, dass all das Geld, das sie im Clancy’s verdiente, aufgebraucht sein würde, bevor sie sich auf den Weg zu den Goldfeldern machen konnten. Ratten, Diebe und Bären verdarben oder stahlen den Proviant; wegen der unhygienischen Verhältnisse grassierten Krankheiten, und kaum eine Nacht verging, ohne dass es irgendwo eine Schießerei oder Schlägereien gab.
Beth fühlte sich sicherer, nachdem Jack und Sam die Hütte fertig gebaut hatten – sie war zwar nicht groß, aber wetterfest und hatte einen Holzboden und ein Schloss an der Tür. Jack schwankte eines Tages mit einem gusseisernen Herd herein, den ein Narr mit zu den Goldfeldern hatte nehmen wollen, und Sam besorgte für Beth auch eine Sitzbadewanne.
Abends im Clancy’s zu spielen hellte ihre Stimmung jedoch auf, und weil sie sah, dass die Zustände in der Stadt sich fast über Nacht verbesserten, dass Straßen angelegt wurden und viele neue feste Gebäude entstanden, hoffte sie, dass es bis Weihnachten zivilisierter zugehen würde. Das Clancy’s war jetzt aus Holz gebaut, und es gab ein Hotel, mehrere schicke Saloons, die meisten davon mit einem Bordell im ersten Stock, richtige Geschäfte und einen Bürgersteig, auf dem die Leute laufen konnten, ohne im Schlamm stecken zu bleiben. Selbst ein Fotograf war gekommen und eröffnete ein Studio.
Es gab vieles an der Stadt, das einen optimistisch stimmen konnte, aber Beth war sehr unglücklich über Theos Verhalten. Er hatte die aufblühende Stadt seiner Träume gefunden, und plötzlich spielte für ihn nur noch Geld eine Rolle.
Skagway hatte Hunderte von Männern wie ihn angezogen. Soapy Smith und die Clancy-Brüder waren genauso; sie wussten, dass sie nicht zum Klondike gehen mussten, um ein Vermögen zu machen. Sie konnten das genauso gut hier. Soapy besaß jetzt einen eigenen Saloon, bekannt als Jeff Smith’s Parlour, mit eingetopften Palmen und einer Bar aus Mahagoni, die mit dem Schiff aus Portland hergebracht worden war. Sowohl er als auch die Clancy-Brüder hatten in ihren Saloons eine Hintertür, die zu einer Reihe von Hütten führte, in denen ihre Huren arbeiteten. Sie hatten bei allem in der Stadt die Finger im Spiel und schickten ihre Schlägertypen los, wenn man ihnen kein Schutzgeld zahlte.
Aber diese Männer behandelten Beth wie eine Dame. Niemand in Skagway wagte es, sie zu bestehlen oder zu beleidigen, denn sie stand unter ihrem Schutz. Theo jedoch benutzte sie, als wäre sie seine Haushälterin und private Hure.
Beth mochte Soapy, obwohl sie wusste, dass die meisten Gauner und Schlägertypen in der Stadt für ihn arbeiteten. Er flirtete mit ihr, brachte sie zum Lachen und heiterte sie auf, wenn sie bedrückt war. Er trug seinen Spitznamen, weil er einmal eine Masche abgezogen hatte, bei der er Seifenstücke verkaufte und behauptete, bei einigen sei ein Zehn-Dollar-Schein in das Packpapier gewickelt. Er versammelte eine Menge um seinen Stand und verkaufte eine markierte Seife an einen Strohmann, der sofort rief, dass er in seiner einen Schein gefunden hatte. Danach stürzten sich alle auf die Seife, aber weitere Zehn-Dollar-Scheine suchten sie vergeblich.
Soapy betrieb auch ein falsches Telegrafenamt. Es gab keine Telegrafenlinien nach Alaska, aber er hatte eine kleine Hütte am Strand eröffnet und ein Kabel bis ins Meer verlegt, um es echt aussehen zu lassen. Er nahm mehrere Dollar von den Leuten, die eine Nachricht nach Hause schicken wollten, und dachte sich sogar Antworten von ihren Frauen oder Müttern aus, in denen sie darum baten, ihnen für ein Kind oder ein anderes Familienmitglied, das krank war, Geld zu schicken.
Beth fand das ziemlich schäbig, genauso wie den Trick mit der Seife, aber Soapy machte seine Verdorbenheit wieder wett, indem er die Straßenhunde in der Stadt fütterte und denen Geld zusteckte, die keinen Penny mehr besaßen, den Kranken und den Witwen.
Theo dagegen schien überhaupt keine gute Seite mehr zu haben. Er gab vor, ein Earl zu sein, und sorgte mit seinem Charme dafür, dass die Leute ihm blind vertrauten, nur um dann jeden, der sich zum Kartenspielen mit ihm an einen Tisch setzte, nach Strich und Faden auszunehmen. Sie wusste, dass er falschspielte, aber er war clever genug, es nur bei echten Greenhorns zu tun. Eines Morgens hatte Beth einen Mann weinen sehen, während er versuchte, seine Ausrüstung zu verkaufen, um sich die Schifffahrt nach Hause leisten zu können. Theo hatte ihm am Abend zuvor jeden Cent abgenommen, den er besaß.
Aber es war nicht nur das Spielen und das Betrügen, das sie aufregte, es war die Tatsache, dass er vergessen zu haben schien, dass sie ein Team aus vier Leuten waren. Sam und Jack hatten seit ihrer Ankunft hart gearbeitet, im Sägewerk und beim Bau ihrer Hütte. Inzwischen bauten sie welche für andere Leute. Beth trug ihren Teil bei, indem sie abends spielte, für sie kochte und wusch.
Aber Theo tat nichts für sie. Er lag die meiste Zeit des Tages im Bett, dann verlangte er nach einem sauberen Hemd, damit er anständig angezogen in irgendeine Spelunke gehen konnte, in der er sich einen neuen Trottel für den Abend suchte. Er kam fast nie ins Clancy’s, um Beth spielen zu hören, und er überließ es Sam oder Jack, sie nach Hause zu begleiten. Die Bänder, die sie mitgenommen hatte, waren verschwunden, und dann sah sie Dirty-neck Mary mit den grünen im Haar.
Doch das Schlimmste war für sie, dass er offenbar die Bordelle mit Frauen versorgte. Als sie ihn zum ersten Mal die Tasche von zwei jungen Frauen tragen sah, die gerade mit dem Schiff angekommen waren, hatte sie geglaubt, es wäre reine Höflichkeit. Aber später an jenem Abend sah sie die Frauen in dem neu gebauten Red Onion Saloon, und sie erkannte an ihren angemalten Gesichtern, dass sie jetzt zu den Prostituierten gehörten, die im oberen Stockwerk arbeiteten.
Jeden Tag waren unter den Passagieren, die die Schiffe brachten, zwei Dutzend junge Frauen, und es konnte sein, dass einige von ihnen schon in den Städten, aus denen sie kamen, Huren gewesen waren. Aber nicht alle – einige waren Mädchen vom Land, die das Abenteuer suchten. Theo wartete bei der Ankunft jedes Schiffes, und er ging immer auf die hübschesten jungen Frauen zu und bot ihnen seine Hilfe bei der Suche nach einer Unterkunft an.
Er schien Beth nicht mehr zu lieben und all die Pläne vergessen zu haben, die sie alle vier in Vancouver geschmiedet hatten.