22
»Mir ist furchtbar kalt«, sagte Beth und wickelte sich den Schal noch fester um den Hals, während sie und die Männer aus dem Bahnhof von Montreal gingen. »Wenn es hier im September schon so kalt ist, wie ist es dann mitten im Winter?«
Der erste Zug, der Philadelphia verließ, war nach New York gefahren, aber Jack hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass sie dort nicht bleiben könnten, weil man sie dort finden würde.
In der Grand Central Station hatten sie gesehen, dass zwei Stunden später ein Zug nach Kanada fuhr. Theo fand, dass es das perfekte Ziel war, um der amerikanischen Justiz zu entgehen.
»Wir werden nicht lange dort bleiben. Wir warten nur ab, bis die Gemüter sich wieder beruhigt haben, dann fahren wir zurück«, sagte Theo unbekümmert.
»Wir können nicht nach Philly oder New York zurück«, widersprach Jack. Er zitterte, weil er nur eine dünne Jacke trug. Er hatte seinen Mantel aus Versehen an der Tür in Pearls Haus hängen lassen. »Aber vielleicht können wir an die Westküste Amerikas, an irgendeinen Ort meilenweit weg, wo es warm ist.«
Vor dreißig Stunden hatten sie Philadelphia verlassen. Es war eine anstrengende, kalte Nachtfahrt gewesen, und keiner von ihnen hatte mehr als ein paar Minuten am Stück schlafen können. Beth hatte das Gefühl, als läge Sand auf ihrer Haut, ihrem Haar und in ihren Augen, und obwohl es in Montreal so zivilisiert aussah wie an jedem anderen Ort, hatte sie nicht erwartet, so zu frieren.
»Es ist nicht so kalt, das kommt dir nur so vor, weil du so müde bist«, sagte Theo und nahm Beths Arm. »Wir suchen uns ein Hotel. Nach einem heißen Bad, einem Frühstück und ein paar Stunden Schlaf ist alles wieder gut.«
»Mord kann man nicht wiedergutmachen«, erwiderte sie angespannt.
»Es war Notwehr«, gab Theo heftig zurück. »Der Mann hat mir ein Messer an die Kehle gehalten, und er hätte zugestochen. In meinen Augen ist Sam ein Held – er hat mir das Leben gerettet.«
Später wachte Beth auf und stellte fest, dass Theo die Arme fest um sie gelegt hatte. Für ein paar Augenblicke glaubte sie, in seinem Bett in Philadelphia zu liegen, genoss die Wärme und lauschte seinen flachen Atemzügen. Dann fiel ihr wieder ein, wo sie war und warum, und die Wut, die sie auf der Fahrt hierher nur mühsam unterdrückt hatte, stieg wieder in ihr hoch.
Es war stockdunkel, aber sie wusste nicht, ob es früher Abend oder mitten in der Nacht war. Sie war versucht, Theo unsanft wachzurütteln und ihn das zu fragen; tatsächlich wollte sie noch sehr viel mehr wissen als nur die Uhrzeit. Aber nach einem Moment des Nachdenkens hielt sie es für besser, zuerst ihre eigenen Gedanken zu sortieren, bevor sie sich mit ihm befasste.
Sie wand sich aus seinen Armen und stand auf, nahm die Decke mit und wickelte sich darin ein. Dann ging sie hinüber zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite, um nach draußen zu sehen.
Die Straße draußen, auf der so viele Karren, Droschken und Leute unterwegs gewesen waren, als sie im Hotel ankamen, lag jetzt still da. Alle Geschäfte und Saloons auf der anderen Straßenseite waren dunkel, und es war keine Menschenseele zu sehen. Aber in den Zimmern in den höheren Stockwerken entlang der Straße brannte Licht, und sie nahm an, dass es ungefähr elf Uhr abends sein musste.
Jack und Sam teilten sich das Zimmer nebenan. Theo hatte bei der Zimmerbuchung angegeben, dass Beth seine Frau sei, und obwohl sie sich noch vor ein paar Tagen darüber gefreut hätte, von ihm so bezeichnet zu werden, ärgerte es sie jetzt.
Sie wusste, dass Theo bei dem Kartenspiel betrogen hatte, obwohl er schwor, es nicht getan zu haben. Er war zu wenig überzeugend gewesen, hatte viel zu verständnisvoll auf ihre Verzweiflung über die überstürzte Abreise mitten in der Nacht reagiert, und er hatte den vollen Zug als Ausrede benutzt, um ihr nicht erklären zu müssen, wie es dazu gekommen war.
Wenn Jack ihr in der Grand Central Station in New York, während Theo die Fahrkarten nach Montreal kaufte, nicht kurz geschildert hätte, was passiert war, dann hätte sie das alles noch nicht verstanden, denn Sam stand immer noch unter Schock und hatte auf der langen Fahrt kaum gesprochen.
In den vergangenen Monaten war aus Jack mehr geworden als nur ein Barkeeper. Er hatte sich eingemischt, wenn unter den Betrunkenen Streit ausbrach: Beth hatte ihn oft in Aktion gesehen, wenn sie spielte. Er war niemals aggressiv, aber er hatte einen guten Instinkt dafür, wann ein Streit zu eskalieren drohte, und meistens konnte er den Konflikt diplomatisch lösen. Aber wenn das mal nicht funktionierte, dann zögerte er nicht, die beiden Streithähne mit den Köpfen zusammenzustoßen und rauszuwerfen. Frank Jasper lobte Jack dafür und nannte ihn oft scherzhaft »Mr Rechter Haken«.
Wegen Jacks Eiserne-Faust-mit-Samthandschuhen-Talent holte Frank ihn zu den meisten privaten Pokerrunden dazu, angeblich als Kellner, aber eigentlich, um für Sicherheit zu sorgen. Das letzte Spiel wurde jedoch nicht von Frank veranstaltet. Rob Sheldon hatte es organisiert, ein Mann, den Frank verabscheute, weil er in den Slums Häuser vermietete und ein stadtbekannter Gangster war. Theo und Sam hatten Jack gebeten, mitzukommen, für den Fall, dass es Ärger gab.
Das Spiel fand in einer Lagerhalle unten an den Docks statt. Die anderen fünf Spieler waren Männer, die noch nie im »Bär« gespielt hatten; Theo kannte sie von anderen Pokerpartien und wusste, dass sie viel Geld setzten. Aber Sam und Jack waren keinem der Männer jemals begegnet, nicht einmal Sheldon.
Theo gewann die ersten Spiele, verlor dann jedoch einen hohen Betrag, und als sie um zwei Uhr morgens eine Pause machten, rieten Jack und Sam ihm, die Verluste abzuschreiben und zu gehen, wie es zwei der anderen Spieler bereits getan hatten. Aber Theo weigerte sich und meinte, dass das Blatt sich gleich zu seinen Gunsten wenden würde.
Die beiden übrigen Männer, die noch mit Sheldon und Theo spielten, nannten ihnen nur ihre Spitznamen, Lively und Dixey. Theo gewann das erste Spiel, verlor dann das zweite. Aber das dritte und vierte gewann er, und die Einsätze waren hoch. Er hatte um die fünfhundert Dollar gewonnen und steckte gerade seinen Gewinn ein, als Sheldon, der früher am Abend gewonnen hatte, ihn zu einem letzten Spiel herausforderte.
Jack sagte, es habe Ärger in der Luft gelegen, etwas an der Atmosphäre habe plötzlich nicht mehr gestimmt. Und er fand, dass Theo ein bisschen zu ruhig und selbstsicher gewesen sei, als er sich wieder an den Spieltisch setzte.
Sam gab die Karten, und das Spiel begann. Das Geld türmte sich immer höher auf dem Tisch. Dixey stieg aus und ging, sodass nur noch Sheldon, Lively und Theo übrig waren. Dann wollte Sheldon Theos Karten sehen.
Er hatte vier Könige, was mehr war als Sheldons Vierer.
»Ich habe das Kartenspiel nicht wirklich verfolgt«, gestand Jack. »Ich behielt die ganze Zeit Sheldon im Auge, weil ich das Gefühl hatte, dass er vielleicht ausrastet, wenn er verliert. Aber ich bin sicher, dass Dixey einen König auf der Hand hatte, als er ausstieg. Ich schätze, Sheldon dachte das auch, denn er sprang von seinem Stuhl auf und schrie, Theo habe betrogen und noch einen König im Ärmel gehabt. Bevor Theo aufstehen konnte, war Sheldon bei ihm und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Er hielt es Theo an die Kehle.«
Jack demonstrierte Beth, wie Sheldon das gemacht hatte, umklammerte mit der rechten Hand ihre Kehle und hielt sie mit dem linken Arm fest.
»Ich hatte Angst, um den Tisch herumzugehen, weil ich befürchtete, dass er Theo dann die Kehle durchschneidet; er war wütend genug dafür. Und da war auch noch Lively, kein großer Kerl, aber einer, der sich einmischen würde, wenn er ebenfalls glaubte, Theo hätte falschgespielt. Deshalb versuchte ich, ihn und Sheldon durch Reden zu beruhigen. Ich sagte sogar, dass sie den Gewinn behalten könnten, falls wir tatsächlich irgendeine Karte in Theos Ärmel fänden. Aber Sheldon schrie und fluchte und wurde immer wütender.
Und dann stand Sam plötzlich hinter Sheldon und wand ihm das Messer aus der Hand. Ich rannte um den Tisch, um ihm zu Hilfe zu kommen, Theo war plötzlich frei, und das Messer fiel auf den Boden. Aber dann mischte Lively sich ein. Er verpasste mir einen Kinnhaken, und Sam muss das Messer gleichzeitig vom Boden aufgehoben haben, weil er mit dem Messer in der Hand dastand, als ich Lively zurückschlug, so als würde er gar nicht wissen, was er damit machen sollte. Doch Sheldon sprang ihn an, um es sich zurückzuholen. Und da hat Sam ihn erwischt.«
Beth versuchte, Sam dazu zu bewegen, ihr seine Version der Geschehnisse zu erzählen. Obwohl er es nicht so klar schildern konnte wie Jack, sagte er im Grunde das Gleiche, abgesehen davon, dass er darauf bestand, nicht zugestochen zu haben. Er meinte, der Mann sei ihm ins Messer gelaufen.
Theos knapper Kommentar war, dass es keine Rolle spiele, wie das Messer in den Bauch des Mannes gekommen war. Schließlich habe Sheldon ihn umbringen wollen, und Sam habe ihn aufgehalten.
Aber für Beth spielte es eine Rolle. Es war etwas völlig anderes, ob jemand in ein Messer lief oder ob es ihm jemand in den Körper rammte. Und für sie war es Theo gewesen, der mit dem durch ihn provozierten Ärger ihren Bruder von einem friedliebenden Kartengeber in einen Killer verwandelt hatte.
Lively war sofort weggelaufen, als er sah, dass Sheldon heftig blutete. Jack sagte, er sei davon ausgegangen, dass er einen Arzt holen wollte, aber Theo erklärte, dass Lively nur seine eigene Haut habe retten wollen.
Jack versuchte, mit seinem Hemd Sheldons Blutung zu stillen, aber der Mann starb, noch während er das tat. Also nahmen sie das Geld und die Karten vom Tisch und gingen und ließen Sheldon mit dem Messer im Bauch liegen.
Beth wünschte, sie könnte es so sehen wie Jack und Theo, nämlich dass Sheldon ein brutaler Kerl gewesen war, der sein ganzes Leben lang die Schwachen und Schutzlosen ausgenutzt und endlich bekommen hatte, was er verdiente. Aber er musste eine Frau und vielleicht Kinder gehabt haben, die ihn liebten.
Doch abgesehen von dem Verbrechen und der Tatsache, dass die drei Männer, die sie liebte, fliehen mussten, war Beth wütend darüber, dass das gute Leben, das sie in Philadelphia geführt hatte, vorbei war.
Sie war dort so glücklich gewesen. Die Leute bewunderten ihr Geigenspiel und mochten sie als Person. Sie hatte gutes Geld verdient, hatte sich neue Kleider leisten und Molly Geschenke kaufen und schicken können und sogar noch Geld gespart. Das Leben war lustig gewesen, sie hatte wirklich das Gefühl gehabt weiterzukommen, aber jetzt würde sie noch mal ganz von vorne anfangen müssen, ohne die Unterstützung und Zuneigung von Frank Jasper und Pearl.
Es würde sich herumsprechen, dass Theo ein Falschspieler war, und Frank würde sich vielleicht fragen, wie oft er bei seinen Spielen betrogen hatte, und vielleicht sogar, ob Theo aus demselben Grund nach Philadelphia gekommen war.
Er würde sich ganz sicher fragen, ob er ihnen hätte trauen sollen, und es bereuen, sie bei Pearl untergebracht zu haben. Und was Pearl anging, wusste Beth, dass sie sehr enttäuscht sein würde, weil sie alle ohne eine Erklärung einfach verschwunden waren.
Theo war sich absolut sicher, dass die beiden keine Informationen über sie an die Polizei weitergeben würden, und er hatte vermutlich recht, weil das der Kodex war, nach dem sie lebten. Aber Beth hatte eine enge Beziehung zu Pearl aufgebaut, enger als die zu ihrer Mutter, und sie hatte das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
Als Beth sich im Dunkeln auf den Stuhl am Fenster setzte, hasste sie Theo zum ersten Mal, seit sie mit ihm zusammen war.
Er hatte sie so oft verletzt, indem er sie allein ließ und dann ein oder zwei Wochen später ohne eine Erklärung wieder auftauchte. Sie wusste, dass er sich auf Partys und Soirées bei den wohlhabendsten und einflussreichsten Leuten der Stadt einschlich, und nur ein Narr hätte geglaubt, dass er sie nicht für eine wunderschöne Erbin verlassen würde.
Aber mit seinem unwiderstehlichen Charme schaffte er es immer wieder, ihre Tränen in ein Lachen zu verwandeln und ihre traurige Stimmung in eine fröhliche. Er gab ihr das Gefühl, dass sie die schönste, talentierteste Frau auf der Welt war, und wenn er sie liebte, dann trug er sie in den Himmel und wieder zurück und stellte ihre Bedürfnisse dabei immer über seine eigenen.
Aber diese Sache hatte ihr eine andere, dunklere Seite von ihm gezeigt. Sie war absolut sicher, dass er bei diesem Spiel betrogen hatte. Warum hatte er das tun müssen? Es war doch der Sinn des Spiels, dass Glück und Pech sich abwechselten und nicht vorhersehbar waren?
Betrog er bei allem? Schlief er noch mit anderen Frauen außer ihr? Er hatte Sam und Jack in Gefahr gebracht. Konnten sie darauf vertrauen, dass er das nicht wieder tun würde?
An dem raschelnden Geräusch am anderen Ende des Zimmers erkannte sie, dass er wach war.
»Beth«, sagte er leise. »Bist du da?«
»Natürlich bin ich da«, fuhr sie ihn an. »Wo sonst sollte ich mitten in der Nacht in einem fremden Land schon sein?«
»Komm wieder ins Bett«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder mit dir im Bett sein will.«
Theo entflammte ein Streichholz und zündete die Kerze an. »Warum bist du so wütend?«
Er trug sein Unterhemd, und mit seinem zerzausten dunklen Haar und dem dunklen Schatten auf seinem Kinn sah er nicht mehr aus wie der adrette Gentleman, als der er sich sonst präsentierte.
»Weil du für all das hier verantwortlich bist«, antwortete sie und trat näher an das Bett, damit die anderen Gäste nichts von ihrer Unterhaltung hörten. »Wir hatten alle ein gutes Leben in Philly; du hast das beendet. Warum musstest du falsch spielen?«
Er antwortete einen Moment lang nicht, und sie wartete auf ein weiteres Leugnen.
»Ich weiß, dass du es getan hast«, sagte sie. »Belüg den Rest der Welt, wenn du musst, Theo. Aber nicht mich.«
»Also gut, ich habe falschgespielt«, gestand er mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Ich wollte nicht zusehen, wie mein ganzes Geld in Sheldons Tasche verschwindet.«
»Aber Betrug ist falsch.«
»Ich bin auch schon sehr oft betrogen worden.«
»Aber es wird doch nicht richtig, wenn du es ebenfalls tust.« Sie war jetzt außer sich. »Du hast meinen Bruder in Gefahr gebracht. Jetzt ist die Polizei hinter ihm her, und wenn sie ihn kriegen, dann wird er vielleicht gehängt oder was immer man mit Mördern macht.«
»Es war kein Mord, es war ein Unfall.«
»Unfall, Mord, es ist jedenfalls ein Mann tot, und mein Bruder ist auf der Flucht.«
»Ich bezweifle, dass die Polizei versuchen wird herauszufinden, wer das war; sie werden glauben, es ist ein Bandenkrieg. Sheldon war ein Gangster, nichts anderes als Heaney in New York, kein Verlust für das Land. Und selbst wenn sie herausfinden, dass es Sam war, könnten sie ihn von hier nicht zurückholen. Und in ein paar Jahren haben es alle vergessen.«
»Ich vergesse es nicht, und ich bezweifle, dass Sam das tun wird«, erwiderte Beth.
Theo lehnte sich gegen das Kopfteil und starrte für eine Weile nur vor sich hin, bis Beth sich sehr unwohl fühlte.
»Wirst du noch lange wütend auf mich sein?«, fragte er schließlich. »Es ist nämlich so, dass wir zum ersten Mal die Chance haben, eine ganze Nacht miteinander zu verbringen, ohne dass du wieder gehen musst, um so zu tun, als hättest du die ganze Nacht in deinem eigenen Bett gelegen. Können wir es nicht genießen, dass du Mrs Cadogan bist, anstatt dass du dasitzt und dir den Tod holst und mich ansiehst, als würdest du mich hassen?«
»Das war alles ein schwerer Schock für mich«, sagte sie und wünschte, sie könnte die richtigen Worte finden, um ihm klarzumachen, was er ihr angetan hatte. »Ich wollte nie nach Kanada. Soweit ich weiß, ist hier nur Wildnis, und die Hälfte des Jahres ist alles gefroren – was sollen wir hier machen?«
»Es gibt Bars und Saloons in jeder Ecke der Welt«, entgegnete er mit einem Lachen in der Stimme. »Und ich bin sicher, dass so gut wie jeder Laden gerne von dir und deiner Geige unterhalten würde. Sieh es als neues Abenteuer, Beth. Du hast deine eigenen drei Musketiere dabei, die dich beschützen. Und jetzt komm ins Bett, und lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.«
»Tust du das?«, fragte sie. Ihr Herz klopfte, weil er das noch niemals zuvor gesagt hatte.
»Natürlich tue ich das«, antwortete er und hielt ihr die Hand hin. »Ich habe schon etwas für dich empfunden, als wir uns an jenem Abend auf der Majestic kennenlernten. Du hast so gefroren und sahst mittellos aus, aber ich mochte die Art, wie du mir widersprochen hast. Als wir am nächsten Tag von Bord gingen, habe ich nach dir gesucht. Aber ich kannte deinen Namen nicht und wusste nichts über dich. Ich war so froh, dass wir uns im Heaney’s wiederbegegnet sind. Du warst so viel hübscher, als ich es in Erinnerung hatte – und dann deine Musik!«
Beth musste lächeln und ergriff seine Hand. »Versprichst du mir, dass du nie wieder betrügen wirst?«, fragte sie.
»Dich jedenfalls nicht«, sagte er. »Und jetzt komm wieder ins Bett.«
Montreal war wunderschön, eine Stadt mit eleganten, neuen Gebäuden, breiten Straßen, hübschen Plätzen und Parks. Beth und die Männer liebten es besonders, in den Mount Royal zu gehen, den Park, der auf einem Berg lag und von dem aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt und den belebten Hafen hatte.
Sie bestaunten die Victoria Bridge, die über den St. Lawrence gebaut worden war und die die Leute das achte Weltwunder nannten, und bewunderten das New York Life-Gebäude, wo ein Fahrstuhl einen in den achten Stock fuhr.
Es gab die Golden Mile mit riesigen und wunderschönen Herrenhäusern, in denen die Reichen lebten. Das Windsor Hotel war das größte Hotel, das Beth, Sam und Jack jemals gesehen hatten, und die Geschäfte auf der St. Catherine’s Street waren genauso schick wie die besten in New York.
Als der September zu Ende ging und die Blätter an den Bäumen sich feuerrot, rostbraun, golden und braun verfärbten, wurde alles noch schöner. Aber wie hübsch Montreal auch sein mochte, sie spürten, dass sie hier niemals Erfolg haben würden. Es gab jede Menge Saloons, Varietés und Tanzlokale, aber Montreal war keine weltoffene Stadt: Die Mehrheit der Einwohner war bieder, nüchtern und fleißig.
Sam und Jack fanden beide schon wenige Tage nach ihrer Ankunft Arbeit als Barkeeper, aber obwohl sie versuchten, ihre jeweiligen Arbeitgeber davon zu überzeugen, Beth eine Chance zu geben, ihre Gäste zu verzaubern, weigerten diese sich. Obwohl niemand es tatsächlich aussprach, war klar, dass sie eine junge Frau, die bereit war, einen Saloon zu betreten, für eine Hure hielten.
Beth klapperte alle Geschäfte ab und hoffte, in einem davon arbeiten zu können. Doch offenbar wurden nur männliche Verkäufer eingestellt. Wenn sie eine Frau in einem Geschäft, Restaurant oder Café arbeiten sah, dann war sie immer mit dem Besitzer verwandt.
Für Theo war es nahezu unmöglich, irgendjemanden auch nur dazu zu bringen, zuzugeben, dass in der Stadt gespielt wurde, ganz zu schweigen davon, dass er zu einem dieser Spiele eingeladen worden wäre. Zum ersten Mal in seinem Leben schien sein Auftreten als englischer Gentleman ein Hindernis für ihn zu sein. In Montreal wurden offenbar die Franzosen gerne als die Aristokraten wahrgenommen, und diese blickten auf ihn herab. Und die gewöhnlichen Arbeiter, fast alles Engländer und Schotten der ersten oder zweiten Generation, misstrauten ihm ebenfalls.
Er besaß noch fast den ganzen Gewinn vom letzten Pokerspiel, aber er wollte ihn nicht für Unterkunft und Lebensmittel ausgeben. Er sagte, er brauche das Geld als Einsatz, wenn er irgendwann doch an einem Pokerspiel teilnehmen konnte. Jack und Sam waren zuerst damit einverstanden gewesen, denn sie wollten beide wieder in Spielerkreisen arbeiten und brauchten Theo, um sie dort reinzubringen. Aber als die Wochen vergingen und sie für wenig Lohn hart arbeiten mussten, fingen sie an, sich darüber zu ärgern, dass Theo seine Tage damit verbrachte, in eleganten Läden wie der Cocktailbar des Windsor Hotels herumzusitzen, während sie ihn und Beth ernährten.
Sie zogen vom Hotel in eine Pension, dann weiter in eine Drei-Zimmer-Wohnung, aber selbst die war zu teuer und erinnerte Beth an die Schwierigkeiten, mit denen Sam und sie zu Anfang in New York zu kämpfen hatten. Genauso wie sie damals mit einem Zimmer in einer Wohnung in der Lower East Side zufrieden sein mussten, blieb ihnen jetzt keine Alternative, als ihre Ansprüche herunterzuschrauben und sich eine Unterkunft in Point St. Charles zu suchen.
Griffintown oder der Sumpf, wie Point St. Charles oft genannt wurde, war ein Slumviertel im Westen der Stadt, zwischen dem St. Lawrence und den Gleisen der Canadian Pacific Railway. Es hatte rein gar nichts von der Schönheit der restlichen Stadt, die auf einem Hügel lag und deren Skyline Kirchtürme zierten. Unten im Sumpf standen Fabriken und Schwerindustrieanlagen, und es gab hohe Schornsteine, aus denen Tag und Nacht schwarzer Rauch quoll.
Es gab keine fünfstöckigen Mietskasernen, wie sie es aus New York gewohnt waren, nur kleine Reihenhäuser mit zwei oder drei Stockwerken, aber es war ein düsterer Ort, und hier lebten nur die Ärmsten von Montreal. Sie fanden ein kleines, schindelgedecktes Haus mit jeweils zwei Zimmern oben und unten in der Canning Street, einer der unwirtlichsten Gegenden, mit hoher Arbeitslosigkeit und großen Familien.
Selbst die, die Arbeit hatten, brachten vermutlich weniger als zehn Dollar pro Woche nach Hause.
Nach dem Komfort bei Pearl, bei der es sogar innenliegende Toiletten gegeben hatte, war es schlimm, wieder draußen auf ein Plumpsklo gehen zu müssen, vor allem, weil es so kalt war. Sie kauften ein paar gebrauchte Möbel in einem der zahlreichen Secondhand-Läden der Gegend, aber Beth musste noch den Elan aufbringen, es in ein wirkliches Zuhause zu verwandeln, denn die Männer kamen nur nach Hause, um zu schlafen, und Theo schaute nur ab und zu vorbei.
Josie, die Irin, die nebenan wohnte, hatte Beth einen Job in der Hemdenfabrik besorgt, in der sie selbst angestellt war. Es war eine ermüdende, stumpfsinnige Arbeit: Sie nähte mit der Maschine den seitlichen Saum der Hemden, jemand anderes den Kragen und die Ärmel.
Während der Herbst zum Winter wurde und der erste Schnee fiel, fror Beth den ganzen Tag in dieser Fabrik. Sie sah sich selbst so enden wie die anderen Frauen dort, vorzeitig gealtert, mit gebeugtem Rücken und schlechten Augen. Sie stammten fast alle aus Irland, und sie hatten keine andere Wahl, als die wenigen Dollars pro Woche zu akzeptieren, weil sie Kinder ernähren mussten und oft nutzlose Männer hatten, die ihre Löhne vertranken.
Aber zumindest hatten sie Ehemänner. Beth nannte sich selbst Mrs Cadogan und wusch Theos Hemden, Socken und seine Unterwäsche, damit er gut aussah, und sie kochte ihm etwas zu essen, wenn er geruhte, nach Hause zu kommen – alles Dinge, die eine Ehefrau tun würde. Aber es waren Sam und Jack, die zu schätzen wussten, was sie im Haus für sie tat, sie waren es, die Kohlen schaufelten und sie trösteten, wenn sie alles hoffnungslos fand. Und sie konnte sich nicht dazu bringen, ihnen zu sagen, dass sie von Theo ein Kind erwartete.