10
Ein starker Wind aus Nordost zwang die Passagiere an Deck der Majestic, ihre Hüte festzuhalten, während sie ihren Freunden und Verwandten zum Abschied winkten. Die aufgewühlte See und der Himmel waren düster dunkelgrau, aber die Musiker der Kapelle spielten in ihren roten Jacketts fröhlich auf dem Kai, und die bunten Bänder, die auf das Schiff geworfen wurden, sorgten trotz des trostlosen Märztages für Volksfeststimmung.
Mrs Bruce, Kathleen und Mr Edward hatten sich aus der drängenden Menge in einen offenen Schuppen zurückgezogen, aber sie winkten immer noch wie wild, und die grünen Federn an Kathleens Hut wippten im Wind.
»Sie sollten jetzt gehen. Sonst holen sie sich noch den Tod«, schrie Beth Sam zu. Durch den Wind, die Kapelle und die Leute, die sich um sie herum etwas zuriefen, konnte sie sich selbst kaum denken hören.
Was sie eigentlich meinte, war, dass sie es nicht einen Moment länger ertragen konnte, sie anzusehen, denn sie standen für alles, was sie nicht gerne aufgeben wollte. Sie zwang sich natürlich zu einem fröhlichen Lächeln, aber jetzt, wo sie bis auf die Knochen fror, fiel es ihr zunehmend schwerer, Freude und Aufregung vorzutäuschen. Sie wollte wieder mit Molly auf dem Schoß in der warmen Küche am Falkner Square sitzen. Sie wollte Liverpool nicht verlassen.
Aber sie konnte nichts davon zu Sam sagen, denn seine ehrliche Aufregung reichte für sie beide. Seine Wangen und seine Nase waren rot vor Kälte, aber sein breites Lächeln zeigte, dass für ihn sein heiß ersehnter Traum endlich begonnen hatte.
»Da ist Sally!«, jubelte er und deutete in die winkende Menge. »Sie steht da bei dem Kran! Die in dem roten Mantel. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich genug aus mir macht, um mich zu verabschieden.«
Die Frau zu sehen, von der ihr Bruder in den letzten beiden Wochen so oft gesprochen hatte, lenkte Beth von ihrem Unglück ab. Einer von Sams Freunden im Adelphi hatte ihm die Varietétänzerin vorgestellt. Selbst aus der Distanz von rund sechzig Metern konnte Beth sehen, dass sie genau so war, wie sie es erwartet hatte – ein schwarzhaariges, kurviges leichtes Mädchen mit viel Schminke im Gesicht.
Seit er sie kennengelernt hatte, war Sam um drei Uhr morgens nach Hause gekommen, hatte nach ihrem billigen Parfüm gerochen, und seine Lippen waren vom Küssen geschwollen gewesen. Beth hatte manchmal heimlich gehofft, dass Sally für ihn attraktiver sein würde als Amerika und dass er seine Pläne aufgab.
»Liebst du sie?«, fragte Beth, die erneut gezwungen war zu schreien.
Er wandte sich um und grinste schelmisch. »Das habe ich, während ich mit ihr zusammen war, aber es gibt Hunderte von Mädchen wie sie in New York.«
Als Beth den Glanz in seinen Augen sah, wurde ihr klar, dass er mit der Frau viel mehr gemacht hatte, als sie nur zu küssen, und sie hoffte, dass er sie nicht schwanger zurückließ. Sie wollte eigentlich mit ihm schimpfen, aber sie war ein bisschen neidisch darauf, dass er diese mysteriöse Sache bereits kennengelernt hatte, die ihre Mutter Leidenschaft genannt hatte, deshalb wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Glocken ertönten, und eine laute Stimme verkündete, dass alle, die nicht mitfahren würden, das Schiff sofort verlassen sollten, deshalb war jeder Kommentar ohnehin nicht mehr möglich, aber während Beth ihrem Bruder zusah, der winkte und Kusshände warf, bemerkte sie zwei elegant gekleidete junge Damen, die ein paar Meter weiter an der Reling standen und ihn ebenfalls beobachteten. Ihr wurde bewusst, dass ihr hübscher Bruder vermutlich unter den zahlreichen Frauen auf dieser Reise viel Aufsehen erregen würde.
Das ganze Schiff war jetzt mit bunten Bändern bedeckt, und die Aufregung nahm spürbar zu, als die Mannschaft die Gangway einzog und das Ablegen vorbereitete. An Deck weinten genauso viele Menschen wie auf dem Kai. In der Vergangenheit hatte Beth solche Szenen schon ein Dutzend Mal beobachtet, aber sie hatte nur die Trauer derjenigen bemerkt, die zurückblieben. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass die Leute auf dem Schiff sich nicht auf ihre Reise freuen könnten. Jetzt wusste sie es besser, denn es zerriss ihr das Herz bei dem Gedanken, Molly zurückzulassen, und ihr wurde klar, dass viele ihrer Mitreisenden ganze Familien zurückließen, nicht nur ein kleines Mädchen, und dass sie vielleicht, genau wie sie, befürchteten, sie niemals wiederzusehen.
Am Morgen war sie besonders früh aufgestanden und ins Haus geschlichen, um Molly beim Schlafen zuzusehen. Mrs Langworthy hatte das Zimmer ihres Schwiegervaters renovieren lassen, sobald Beth zugestimmt hatte, Molly bei ihr zu lassen. Das Zimmer war vor einer Woche fertig geworden, und es war einer Prinzessin würdig, mit einer Tapete mit rosafarbenen Rosen, einer richtigen Wiege und einem neuen apfelgrünen Teppich mit Fransen. Mrs Langworthy hatte vorgeschlagen, dass Molly in dem Zimmer schlafen solle, sobald es fertig sei, weil sie glaubte, dass es den Schock nach Beths Weggang mildern würde. Aber Molly war von ihrer neuen Umgebung überhaupt nicht eingeschüchtert und schlief von der ersten Nacht an durch.
Seitdem hatte Mr Edward viele Spielsachen gekauft, darunter Bauklötze, einen Hund mit Fell auf Rädern zum Herumziehen und ein Schaukelpferd. Beth wusste, sie hätte froh darüber sein sollen, dass er seine Freude darüber, der Vormund ihrer Schwester zu werden, so offen zeigte, doch irgendwie fühlte sie sich mit jeder neuen Anschaffung noch deprimierter und unzulänglicher.
An diesem Morgen hatte Beth in dem Zimmer gesessen, und das blasse erste Licht des Tages hatte gerade ausgereicht, um ihre Schwester zu sehen. Sie hatte sie schweigend angebetet, hatte die langen Wimpern auf ihren runden, rosigen Wangen, ihre dunklen Locken und die Art, wie ihr Zeigefinger sich um ihre Nase wickelte, während sie am Daumen lutschte, in sich eingesogen. Ihr Kopf sagte ihr, dass sie das Richtige für Molly tat, dass ihre Zukunft bei Onkel Edward und Tante Ruth unendlich viel besser sein würde, aber sie fühlte sich immer noch wie eine verurteilte Frau, die auf ihr Ende wartete.
Noch schlimmer war der endgültige Abschied. Mrs Langworthy hielt Molly an der Haustür auf dem Arm, während sie mit Mr Edward, Mrs Bruce und Kathleen in die Kutsche stiegen. Und während die Kutsche die Straße hinunterrumpelte, musste Beth sich innerlich stählen, um nicht herauszuspringen und sich Molly zurückzuholen.
Unten am Kai weinte eine Frau lauthals. Sie war alt, vielleicht eine Großmutter, zu alt, um ihre Familie zu begleiten. Sie streckte die Arme aus, und Tränen strömten über ihr runzliges Gesicht, als würde sie ihre Angehörigen anflehen, sie nicht zu verlassen, und Beth musste das Gesicht abwenden, weil der Anblick so tragisch war, dass sie ihn nicht ertragen konnte.
Die Gangways waren verstaut, Matrosen machten die Leinen los und zogen sie ein, und plötzlich wurde der Abstand zwischen dem Schiff und dem Land größer. Die Kapelle stimmte ein fröhliches Seefahrerlied an, es wurden noch einmal bunte Bänder geworfen, und in einem letzten Versuch, Mr Edward zu zeigen, dass sie glücklich über ihre Abreise war, nahm Beth ihren neuen Strohhut ab und winkte damit, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Du wirst dich bald besser fühlen«, sagte Sam und legte ihr den Arm um die Taille. »Molly wird bei den Langworthys glücklich sein. Du hast immer noch mich und so viele Abenteuer, die auf dich warten. Es wird Zeit, dass du ein bisschen Spaß hast.«
Beths einzige Antwort war, dass sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Es half ihr zu wissen, dass er sich von ihrer vorgetäuschten Freude nicht hatte täuschen lassen und ihren Schmerz verstand. Aber es war so lange her, seit sie Spaß gehabt hatte, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn erkennen würde, wenn er ihr begegnete.
Erst an diesem Morgen hatte Mrs Bruce gesagt, sie sei der Überzeugung, dass wahres Glück nur diejenigen fänden, die aktiv versuchten, es anderen durch Freundlichkeit und Rücksichtnahme zu bringen. Sie sagte, Beth solle jeden auf dem Schiff als potenziellen Freund sehen, nicht als Fremden, und sich daran erinnern, dass alle anderen sich genauso davor fürchteten, was sie in Amerika erwartete, wie Sam und sie.
Das Schiff gewann an Fahrt, die Gesichter der Menschen am Kai verwischten zu einer blassen Masse. Jetzt gab es kein Zurück mehr, deshalb musste sie tapfer sein und daran denken, wie viel Glück sie hatten, dass sie die Chance bekamen, die traurige Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich eine neue Zukunft aufzubauen. Wie Sam so richtig gesagt hatte, warteten noch viele Abenteuer auf sie.
»Lass uns unter Deck gehen und die Leute kennenlernen, mit denen wir unterwegs sein werden«, schlug sie fröhlicher vor, als sie war. »Und dass du mir ja nicht mit einer anderen Sally abhaust und mich alleine lässt!«
Sam schmunzelte und umarmte sie. »Das ist schon besser, Schwesterherz«, sagte er. »Und mach dir keine Sorgen, ich werde dich nicht verlassen. Es gibt zu viele Männer hier, die dir vielsagende Blicke zuwerfen. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen.«
Die Zwischendeck-Passagiere waren im Bauch des Schiffes untergebracht, und als wenn ihnen das ihre untergeordnete Position noch nicht deutlich genug gemacht hätte, gab es Metallgitter, die verhinderten, dass sie in den Bereich der ersten und zweiten Klasse gelangen konnten.
Während Beth und Sam den Niedergang hinuntergingen, erhaschten sie einen Blick auf die feine Welt hinter den Gittern: weiche Teppiche und Kabinentüren aus poliertem Holz mit Messingbeschlägen; Stewards in weißen Jacken, die Tabletts mit Getränken zu den glücklichen Kabinenbewohnern trugen; und saubere und wunderschön angezogene Kinder, die ihren Kindermädchen zu entkommen versuchten.
Als sie die untere Ebene erreichten, waren die Türen und Böden aus Metall und der Anstrich verkratzt und dreckig. Hier bahnten sich die Leute ihren Weg durch die schmalen Korridore, und ihre besorgten und manchmal wütenden Gesichter sandten die Botschaft aus, dass kein Steward hier mit einer Tasse Tee, einer Decke für ein Kind oder einem Wort des Trostes erscheinen würde. Der Lärm der Maschinen übertönte beinahe das Geschrei der Babys und der besorgten Mütter, die versuchten, ihre Kinder beisammenzuhalten, und Beth wurde noch niedergeschlagener.
Die Männer waren vorne untergebracht, die Frauen im Heck und die Familien in der Mitte. Sam hatte schon seit Tagen darüber gescherzt, was das Zwischendeck tatsächlich bedeutete. Manche meinten, es würde so genannt, weil es die Kabinen zwischen den Maschinenräumen waren, doch Sam war der Meinung, dass es so hieß, weil man dort zwischen den Menschen eingepfercht war wie Vieh, denn so würden sie reisen müssen. Aber Beth, die Bilder von Zwischendeck-Passagieren aus den Zeiten der Segelschiffe gesehen hatte, mit vier oder fünf Leuten in einer Koje und einem Eimer als Toilette, war erleichtert, als sie sah, dass die Liegen aus Stoff bestanden und so konstruiert waren, dass man sie während des Tages wegklappen konnte, um mehr Platz zu schaffen, und dass es in jedem Abschnitt Toiletten und Waschräume gab.
Es war allerdings ziemlich eng und sehr düster, und als sie die verhärmten Gesichter und die schäbige Kleidung ihrer Mitpassagiere sah, war sie froh, dass sie Mrs Bruces Rat befolgt und ihr Geld in ihre Kleidung eingenäht hatte, denn ihr Instinkt sagte ihr, dass sie besser niemandem hier trauen sollte.
Gestern hatte Mr Edward ihnen dreißig Pfund gegeben; er sagte, sie sollten es als Notgroschen betrachten, für den Fall, dass sie nicht sofort Arbeit fanden. Außerdem hatten seine Frau und er ihnen noch so viel anderes gegeben – Taschen, zwei warme Decken, Handtücher und Kleidungsstücke –, und sie hatten sich mit feuchten Augen bei den beiden bedankt.
Als Sam Beths Reisetasche im Frauenquartier abstellte, trat eine ernste ältere Frau in einem grauen Kleid auf ihn zu. »Raus hier, junger Mann«, fuhr sie ihn an.
»Ich wollte meiner Schwester nur helfen, sich einzurichten«, entgegnete er.
»Ich kümmere mich schon um sie«, erklärte die Frau. »Ich bin Miss Giles, die Hausmutter. Ich gestatte es nicht, dass alleinstehende Frauen mit Männern zusammen sind. Wenn Sie Ihre Schwester während der Reise sehen wollen, dann müssen Sie sich an Deck mit ihr verabreden.«
Sam sah sie ungläubig an, und zwei hübsche junge Irinnen fingen an zu kichern.
»Ich treffe dich in einer Stunde«, sagte Beth, die Miss Giles nicht verärgern wollte. »Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht.«
Die Erkenntnis, dass fast alle genauso aufgeregt und ängstlich waren wie sie selbst, tröstete Beth ein wenig. In ihrem Quartier waren noch sechsundzwanzig andere Frauen untergebracht, und die Mehrheit davon war unter zwanzig, genau wie sie. Die meisten reisten mit ihren Eltern und jüngeren Geschwistern und hassten es, von ihnen getrennt zu sein, obwohl es vier wie Beth gab, die mit ihren älteren Brüdern unterwegs waren. Die Übrigen waren entweder mit einer Schwester oder einer Freundin zusammen, und nur eine Frau, eine der ältesten, war ganz allein; sie sagte, sie würde zu ihrem Verlobten nach New York fahren.
Eines der vielen Geschenke, die Beth von Mrs Langworthy erhalten hatte, war ein neuer brauner Mantel mit einem Fellkragen. Sie trug fast neue, glänzende Schuhe mit Knopfleiste und ein braunes Reisekleid, und im Vergleich zu den anderen Frauen sah sie reich aus. Sie hatten sich zerschlissene Schals um die dünnen Schultern geschlungen, trugen Stiefel mit Löchern und geflickte Kleider. Die meisten kamen aus Irland, waren blass und unterernährt, doch trotz allem lag ein erwartungsvolles Strahlen in ihren Augen, und sie sprachen mit einer solchen Hoffnung und Leidenschaft von ihrem Ziel, dass Beth sich fast schämte, weil sie so zögerlich war.
Bridie und Maria, die beiden Irinnen, die sich so über Sam amüsiert hatten, schlugen ihr vor, das Bett neben ihren zu belegen. Ihre trällernden Stimmen, in denen so viel Wärme und Freundlichkeit lagen, erinnerten Beth an Kathleen und waren Balsam für ihr schmerzendes Herz.
»Wir können uns im Familienquartier mit den Männern treffen«, sagte Maria mit einem schelmischen Zwinkern. »Mein Onkel ist letztes Jahr ausgewandert, und er hat geschrieben, dass da abends getanzt und gesungen wird. Miss Giles ist nur hier, um sicherzustellen, dass keine Männer in diesen Bereich kommen, und das tut sie, aber sie kann uns nicht davon abhalten, draußen unseren Spaß zu haben.«
»Hast du deinen Liebsten zurückgelassen?«, wollte Bridie von Beth wissen. »Du hast die roten Augen eines Mädchens, das seit Tagen weint.«
Am folgenden Morgen waren sie auf dem Atlantik, und der rauere Seegang ließ viele seekrank werden. Beth ging es gut, aber weil sie wusste, dass ihr von den Würgegeräuschen und dem Geruch des Erbrochenen ebenfalls übel werden würde, ging sie an Deck.
Es war sehr kalt und windig, aber nach dem ständigen Lärm der Maschinen und der Leute, die sich unter Deck anschrien, taten die Ruhe und das Alleinsein gut. Hinter der Absperrung, die den kleinen Teil des Decks für die Zwischendeck-Passagiere vom Rest trennte, führten zwei Stewards Hunde spazieren, und ein einzelner Mann in einem schweren Mantel und mit einer Pelzmütze mit Ohrenklappen lief mit schnellen Schritten auf und ab.
Beth stellte sich an die Reling und starrte auf das offene graue Meer hinaus, das sich endlos vor ihr ausbreitete. Bei der Erinnerung an den vorangegangenen Abend lächelte sie.
Sie war mit Bridie und Maria ins Familienquartier gegangen und einigen Leuten vorgestellt worden, die mit den beiden aus Irland gekommen waren. Zuerst hatte es sie abgestoßen, dass fast alle sehr schäbig und eher dreckig waren und viel zu viele Kinder zu haben schienen. Sie erinnerten sie an die Iren in Liverpool, die in schlimmem Elend in den Slumvierteln lebten. Ihre Eltern hatten sie in dem Glauben erzogen, dass die Männer Nichtsnutze waren, die immer nur tranken und sich prügelten, und dass ihre Frauen wie die Karnickel warfen und ihre Kinder vernachlässigten.
Aber ihr wurde bald klar, dass diese Leute ihre Kinder liebten und sich ein besseres Leben für sie wünschten, egal wie arm sie waren und unter welchen Umständen sie in Irland oder Liverpool gelebt hatten. Sie konnte einfach nicht distanziert bleiben, wenn sie mit einer solchen Wärme und so viel Interesse begrüßt wurde und um sie herum so viel Fröhlichkeit und Optimismus herrschten. Ein Mann mit einer wunderbaren Tenorstimme fing an zu singen, und bald fielen alle mit ein. Ein alter Mann holte seine Geige heraus, und zwei kleine Mädchen wurden dazu aufgefordert, irische Tänze vorzuführen.
Es wurde eine richtige Party, als Sam und einige der anderen alleinstehenden Männer zu ihnen stießen. Alkohol wurde herumgereicht, aber die meisten waren nur trunken vor Freude darüber, auf dem Weg nach Amerika zu sein. Der Geiger spielte einen Jig, und zu Beths Überraschung fing Sam an zu tanzen, griff nach Marias Händen und zog sie auf die Füße. Beth wäre zufrieden damit gewesen, sitzen zu bleiben und dem Treiben zuzusehen, aber als alle anderen aufstanden und tanzten, wurde der Jig schneller, und bald wippte sie mit den Füßen mit. Als ein junger Mann mit roten Haaren und einem noch roteren Gesicht ihr die Hand hinstreckte, war sie nur zu gerne bereit, seine Partnerin zu sein.
Es war nicht die Art von ruhigem Tanz, die Beth in der Schule gelernt hatte, sondern einer, der vor Energie und Ausgelassenheit nur so sprühte. Wenn eine Melodie endete, forderte sie ein weiterer Mann auf. Es fühlte sich gut an, mit so viel Elan herumgewirbelt zu werden. Ihre Partner hatten raue, schwielige Hände, ihre Nagelschuhe trommelten im Takt auf den Holzboden, und Schweiß lief ihnen über die Gesichter, aber selbst wenn sie nicht die Art von Männern waren, mit denen sie sich ihren ersten Tanz erträumt hatte, war sie glücklich.
Später, zurück im Frauenquartier, lag Beth auf ihrer Stoffliege und lauschte den anderen Mädchen, die aufgeregt über die jungen Männer flüsterten, die sie heute Abend kennengelernt hatten, und sie war stolz darauf, dass ihr Bruder der zu sein schien, den alle am meisten bewunderten. Sie konnte immer noch die Musik hören, die der alte Mann auf seiner Geige gespielt hatte, eine so fröhliche, wilde Musik, als hätte er jede Erfahrung seines Lebens darin einfließen lassen. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand das Instrument so spielte, und sie fühlte sich inspiriert, ihm nachzueifern.
Sie streckte den Arm aus und tastete unter ihrem Bett entlang, bis ihre Finger den abgenutzten schwarzen Kasten mit dem sich ablösenden Leder fanden. Ihn zu berühren war genug. Ihren Glücksbringer.
»Riesig, nicht wahr?«
Beth erschrak über die männliche Stimme hinter ihr an Deck, und als sie sich umwandte, sah sie einen der jungen Männer, mit dem sie letzte Nacht kurz getanzt hatte; sie erkannte ihn an der Narbe auf seiner rechten Wange. Es war die Narbe, die aussah, als stamme sie von einem Messer, und sie sorgte dafür, dass Beth ihm mit einer gewissen Vorsicht begegnete. Er war groß und ganz dünn, und sein schwarzer Haarschopf, der ihrer Meinung nach dringend mal gewaschen und geschnitten werden musste, war jetzt unter einer Kappe versteckt. Obwohl er vermutlich einige Jahre älter war als sie, ließen ihn sein zu großes Jackett und seine Baumwollhose wie einen Straßenjungen aussehen.
»So groß, dass man Angst davor kriegen kann«, erwiderte sie. »Es gibt mir das Gefühl, sehr klein zu sein.«
»Man sagt, es ist so kalt, dass man innerhalb von zwei Minuten an Schock stirbt, wenn man reinfällt.«
»Was für ein schöner Gedanke!«, sagte sie sarkastisch. »Warum versuchst du es nicht? Ich schaue dann, ob du recht hattest.«
Er lachte. »Du hast eine scharfe Zunge. Genau wie meine Ma.«
»Fährst du deshalb nach Amerika, um ihr zu entfliehen?«
»Irgendwie schon, schätze ich.« Auf seinem Gesicht erschien ein Grinsen. »Gar nicht zu reden von meinem Pa, dem alten Säufer. Warum fährst du?«
»Aus dem gleichen Grund wie die meisten«, sagte sie mit einem Schulterzucken. »Um mein Glück zu machen; wegen des Abenteuers.«
»Du bist Sam Boltons Schwester, stimmt’s?«, fragte er.
Beth nickte. »Ich bin Beth Bolton. Und du?«
»Jack Child.« Er streckte ihr vorsichtig die Hand hin. »Nett, dich kennenzulernen.«
Sie nahm seine Hand und schüttelte sie kurz. »Woher kommst du? Das ist kein irischer Akzent und auch nicht der aus Liverpool.«
»Aus dem Süden, aus dem Londoner East End. Ich kam vor einem Jahr nach Liverpool, um ein Schiff nach Amerika zu nehmen, aber mir wurde mein Geld gestohlen, deshalb musste ich mir Arbeit suchen, bis ich wieder genug für die Überfahrt zusammenhatte.«
»Das war Pech«, sagte sie und erwärmte sich ein bisschen für ihn, weil er sanfte braune Augen hatte und ein sympathisches schiefes Grinsen.
»Dadurch bin ich vorsichtiger geworden«, erwiderte er nachdenklich und lehnte sich neben ihr an die Reling. »Aber das ist gar nicht schlecht. Sie sagen, New York ist voller Schurken, die es auf uns Einwanderer abgesehen haben.«
»Wirklich?«
Er nickte weise. »Ein Freund von mir fuhr vor sechs Monaten rüber. Er schrieb mir, dass Männer vor der Einwanderungshalle warten und nach Dummen suchen, die sie ausnehmen können. Sie bieten einem Arbeit und eine Wohnung an, aber wenn man ihnen Geld gegeben hat, hauen sie ab.«
Sam hatte Beth erzählt, dass Männer unten an den Docks in Liverpool falsche Fahrscheine für eine Überfahrt auf Schiffen verkauften, die es gar nicht gab; sie versprachen, die Fremden in Hotels zu bringen, und stahlen ihr Gepäck. Sie nahm an, dass es solche Dinge überall auf der Welt gab.
»Dann müssen wir einfach vorsichtig sein.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Du und Sam, ihr werdet Erfolg haben«, meinte Jack. »Ihr habt beide etwas Besonderes an euch.«
»Und was ist das?«, fragte Beth, amüsiert darüber, wie er sie ansah. Er war wirklich überhaupt nicht attraktiv – er hatte unreine Haut, und seine Züge wirkten zu groß für sein Gesicht. Sein Akzent, eine Mischung aus Londoner und Liverpooler, klang merkwürdig, doch er hatte etwas sehr Sympathisches.
Er sah sie ein bisschen schüchtern an. »Na ja, Sam sieht gut aus und ist der Hahn im Korb. Und du bist elegant und wunderschön.«
»Danke, Jack.« Sie lächelte. »Ich hoffe nur, dass die Leute das auch so sehen, wenn ich versuche, Arbeit zu finden.«
Sie blieben noch eine Weile an der Reling stehen und unterhielten sich. Jack erzählte ihr, dass er während seines Aufenthalts in Liverpool bei einem Fuhrunternehmer gearbeitet und bei einer Familie in der Leeds Street gewohnt hatte. »Die war schlimmer als meine eigene«, erzählte er lachend. »So derb, wie man es sich nur vorstellen kann. Die haben sich die ganze Zeit geprügelt und besoffen. Ich war echt froh, da rauszukommen. Aber sie haben mich aufgenommen, als ich gar nichts mehr hatte, und das würden nicht viele tun.«
Beth berichtete ihm ihrerseits von dem Tod ihrer Eltern und dass sie Molly zurückgelassen hatten. »Du hast das Richtige für sie getan«, sagte er mit echtem Verständnis im Blick. »Ich habe mir gestern Abend die ganzen Leute mit ihren kleinen Kindern angesehen und mich gefragt, wie um Himmels willen sie in New York Fuß fassen wollen. Es wird schwer werden, irgendwo unterzukommen, und wenn die Männer nicht sofort Arbeit finden, wovon wollen sie dann leben?«
Der gleiche Gedanke war Beth auch gekommen. Es war eher tröstlich als schmerzhaft, sich Molly vorzustellen, wie sie durch das Haus am Falkner Square lief und von allen vergöttert wurde. Ihr Leben würde konstant und sicher verlaufen, und sie würde immer in einem warmen, sauberen Bett schlafen, gut essen und sehr geliebt werden. Beth musste sich das vermutlich nur jeden Tag sagen, dann würde sie mit der Zeit in der Lage sein, sich wirklich darüber zu freuen, dass sie Molly den Langworthys überlassen hatte.
Das Meer wurde am späten Nachmittag noch rauer, und während das Schiff schaukelte und rollte, wurden immer mehr Leute seekrank und legten sich in ihre Betten. Beth fühlte sich die meiste Zeit des Tages dazu verpflichtet, denen zu helfen, die litten, ihre Gesichter zu waschen, ihnen Wasser zu trinken zu geben und die Eimer mit dem Erbrochenen auszuleeren, aber im Laufe des Abends wurde der Geruch unter Deck so schlimm, dass ihr davon ebenfalls übel wurde, deshalb zog sie ihren Mantel an und ging wieder an Deck, um frische Luft zu schnappen.
Es war bitterkalt und leer dort oben, aber sie konnte trotz des Lärms von Wind und Meer ein Orchester im Salon der ersten Klasse spielen hören.
Um der Musik besser lauschen zu können, ging sie das Deck hinunter bis zu der Absperrung, die die Zwischendeck-Passagiere in ihrem Bereich hielt, und als sie einen Spind mit Rettungswesten sah, suchte sie daneben Schutz vor dem Wind und hörte der Walzermusik zu. In ihrer Fantasie trug sie ein blassblaues Kleid mit einer Satinschärpe und wurde von einem der Schiffsoffiziere herumgewirbelt.
Sie war so versunken in ihren glücklichen kleinen Traum, dass sie aus ihrem schmalen Zufluchtsort heraustrat und allein tanzte. Aber als die Musik plötzlich lauter wurde und ein goldener Lichtschein auf das Deck fiel, wurde ihr schlagartig bewusst, dass jemand aus dem Salon der ersten Klasse gekommen war. Als sie sah, wie sich ein Mann in einem feinen Abendanzug eine Zigarette anzündete, zog sie sich hinter den Rettungswestenspind zurück, doch sie konnte nicht widerstehen, noch einen Blick auf ihn zu riskieren.
Er war groß, schlank und dunkelhaarig, und obwohl er ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt stand und das Licht schlecht war, fand sie, dass er unruhig wirkte, denn er blickte sich nervös um.
Ein paar Minuten später ging die Tür erneut auf, und eine Dame trat heraus.
Mit der weißen Pelzstola, die sie um die Schultern trug, den blonden Haaren und dem hellen, glänzenden Kleid war sie wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Als sie die Hand hob, um den Mann zu grüßen, funkelte ihr Armband, und Beth nahm an, dass es aus Diamanten war.
Das Paar umarmte sich, und Beth fragte sich, warum sie auf das bitterkalte Deck gekommen waren, wo sie doch zusammen im warmen Salon hätten tanzen können.
Der Grund wurde offensichtlich, als sie anfingen, sich leidenschaftlich zu küssen, denn das konnten sie natürlich nicht vor den Leuten tun. Beth fand es ziemlich romantisch und überlegte, ob die beiden wohl Verlobte waren, die es geschafft hatten, ihrer Anstandsdame zu entwischen.
Aber der Mann machte sich offensichtlich Sorgen darüber, entdeckt zu werden, denn während er die Frau küsste, bewegte er sich mit ihr über das Deck in Beths Richtung und in den Schutz des Rettungsbootes, das dort hing.
»Ich wage es nicht, länger als ein oder zwei Minuten zu bleiben«, stieß die Frau atemlos hervor. »Er lässt mich fast nie aus den Augen.«
»Du musst ihn verlassen«, drängte der Mann. »Ich will ihn jedes Mal umbringen, wenn er dich betatscht.«
Beth fühlte sich plötzlich sehr unwohl dabei, Zeugin dieses geheimen Stelldicheins zu sein. Sie wollte gehen oder zumindest husten, damit die beiden wussten, dass sie nicht allein waren, aber es war zu spät, denn das Paar stand jetzt nur noch wenige Meter von ihr entfernt auf der anderen Seite der Reling, so nah, dass sie das Parfüm der Frau riechen konnte.
Sie atmeten schwer, ihre Kleidung raschelte, und obwohl Beth sich nicht sicher sein konnte, glaubte sie, dass der Mann die Frau auf unanständige Weise berührte.
»Ich brauche mehr als diese paar Küsse im Dunkeln, Clarissa«, seufzte er. »Ich will dich auf einem Bett lieben, will dich nackt unter mir sehen. Komm heute Nacht in meine Kabine.«
Beths Wangen brannten jetzt vor Verlegenheit, aber wenn sie sich bewegte, dann würden die beiden sie hören, und es würde aussehen, als wenn sie sie absichtlich belauscht hätte.
»Ich versuche es«, erwiderte die Frau. »Ich gebe Aggie ein bisschen von einem meiner Pulver.«
Es gab noch mehr leidenschaftliche Küsse und Gefummel, dann hörte Beth, wie Clarissa sagte, sie müsse jetzt gehen, und Sekunden später hörte sie Absätze über das Deck klappern.
Der Mann blieb, wo er war, und Beth sah, wie er sich eine weitere Zigarette anzündete. Da sie jetzt bis auf die Knochen durchgefroren war, fing sie an, sich langsam auf die Tür zum Niedergang zuzubewegen. Aber in der Dunkelheit sah sie nicht, dass sich vor ihr eine kleine Stufe befand, und sie stolperte und fiel auf das Deck.
»Wer ist da?«, bellte der Mann.
Beth wusste, ohne den Kopf zu wenden, dass er nur vier oder fünf Meter hinter ihr war und dass nur die Absperrung ihn daran hinderte, zu ihr zu kommen.
»Stehen Sie auf, und reden Sie mit mir«, befahl er.
Sie war es so gewohnt zu tun, was man ihr sagte, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam wegzulaufen, und so gehorchte sie ihm.
»Wie lange standen Sie schon da?«, fragte er.
»Eine Weile. Ich bin nach oben gekommen, weil unten die Luft so schlecht ist.«
Sie musste ihn anstarren, denn er war unglaublich attraktiv, trug makellose Kleidung und hatte eine kultivierte Stimme. Sie nahm an, dass er ungefähr Mitte zwanzig war.
Bis zu diesem Moment war Sam der Maßstab gewesen, nach dem sie das Aussehen von Männern beurteilte, und sie kannte ein paar, die besser aussahen als ihr Bruder. Aber Sam wirkte fast mädchenhaft im Vergleich zu diesem Mann, dessen Haar pechschwarz war und der tief liegende Augen, eine stolz geschwungene Nase und hohe Wangenknochen hatte.
»Spionieren Sie anderen Leuten immer hinterher?«, fragte er spöttisch.
»Sind Sie immer so unhöflich zu Leuten?«, gab sie entrüstet zurück. »Ich war zuerst hier. Sie hätten erst überprüfen sollen, ob Sie allein sind, bevor sie etwas Heimliches tun.«
»Sie sind ein freches Luder«, erwiderte er und musterte sie von oben bis unten. »Kann ich mir Ihr Schweigen mit einem Zweischillingstück erkaufen?«
Beth verstand diese Frage nicht und starrte ihn nur an.
»Fünf Schilling?«, fragte er.
Plötzlich wurde ihr klar, was er meinte. Zeugin eines ehebrecherischen Treffens zu werden war schockierend genug für sie, aber dass er sie bestechen wollte, damit sie niemandem davon erzählte, war beleidigend. »Wie können Sie es wagen zu glauben, dass man mein Schweigen erkaufen kann?«, wollte sie wütend wissen. »Ich habe kein Interesse an Ihnen oder Ihrer Freundin. Es hätte völlig ausgereicht, mich einfach zu bitten, niemandem zu erzählen, was ich gesehen habe.«
Er wirkte etwas bedrückt. »Tut mir leid«, sagte er. »Es ist nur ...« Er beendete den Satz nicht.
Beth wurde mutiger. Den ganzen Tag lang hatte sie sich darüber geärgert, dass der Reederei das Wohlergehen der ärmeren Passagiere völlig egal war, und etwas gegen jemanden aus der ersten Klasse in der Hand zu haben gab ihr das Gefühl, endlich quitt zu sein. Sie trat näher, direkt an die Reling. »Dass sie die Frau von einem anderen ist?«
Er hätte sie sich leicht schnappen können, aber er sah sie nur traurig an. »Sie sind zu jung, um das zu verstehen«, sagte er mit einem Seufzen.
»Sie wären überrascht, was ich alles verstehe«, gab sie zurück und dachte an das Geständnis ihrer Mutter auf ihrem Sterbebett. »Ich weiß, dass Leidenschaft Menschen dazu bringt, kopflos zu handeln.«
Er lächelte amüsiert. »Und was, oh Weise, soll ich machen, wenn ich eine Frau liebe, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie unglücklich macht?«
Beth war überrascht und auch ein bisschen gerührt über seine Ehrlichkeit. »Warum hat sie ihn dann geheiratet?«, fragte sie.
»Sie wurde von ihrer Familie dazu gedrängt«, antwortete er.
Beth dachte einen Moment nach. »Und warum verlässt sie ihn dann nicht?«
»Sie überraschen mich«, sagte er mit einem Hauch Sarkasmus. »Ich dachte immer, dass die Frauen Ihrer Klasse an die Unantastbarkeit der Ehe glauben.«
Beth war wütend über seine Bemerkung über ihre Klasse und seine Annahme, dass ein Mädchen wie sie nicht offen für solche Dinge war. »So wie ich es sehe, ist eine Vernunftehe nicht unantastbar.«
»Sie klingen verbittert«, meinte er und sah sie forschend an. »Wenn Sie nicht so jung wären, dann würde ich glauben, Sie sprechen aus Erfahrung. Aber was Sie da vorschlagen, ist ohnehin unmöglich; ihr Mann lässt sie überwachen.«
»Von einer Dienstbotin?«, fragte Beth. Sie erinnerte sich, dass die Frau jemanden namens Aggie erwähnt hatte.
Er nickte.
Aus Gründen, die sie nicht verstand, nahm Beth Anteil an seinen Problemen und wollte ihm helfen. »Sie wird abgelenkt sein, wenn wir erst in New York sind. Vielleicht sollte Ihre Dame schon mal Pläne schmieden.«
»Und was für einen Plan würde sich ein verschlagenes kleines Luder wie Sie ausdenken?«, fragte er, und ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen.
Beth konnte gut verstehen, warum diese Clarissa bereit war, für ihn ein solches Risiko einzugehen. Es war nicht nur sein Gesicht, das attraktiv war, er hatte auch eine lässige Art. »Ich glaube, dass sie Hilfe von einer anderen Frau braucht«, sagte sie nachdenklich. »Ihre Dienstbotin würde sie nicht so scharf beobachten, wenn sie mit einer Freundin zusammen wäre.«
»Ich werde das im Hinterkopf behalten«, erwiderte er und schenkte ihr diesmal ein strahlendes Lächeln. »Schade, dass Sie nicht auch in der ersten Klasse sind, sonst könnten Sie das übernehmen.«
Beth lachte leichthin. »Ich wünschte, ich wäre in der ersten Klasse. Ich nehme nicht an, dass dort so viele Leute seekrank sind. Deshalb bin ich hier oben, um dem Gestank zu entkommen. Aber ich muss jetzt gehen, mir ist furchtbar kalt.«
»Und kann ich mich darauf verlassen, dass Sie mit niemandem darüber sprechen werden?«, wollte er wissen und hob fragend eine Augenbraue.
»Diskretion ist mein zweiter Vorname«, antwortete sie kichernd.
»Dann, Miss Diskretion, hoffe ich, dass wir einander noch einmal begegnen werden«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Und jetzt gehen Sie besser, bevor Sie noch erfrieren.«
Der Rest der Reise verlief langsam und ereignislos, ohne dass Beth die beiden Liebenden wiedersah. Da so viele der Zwischendeck-Passagiere krank waren, gab es keine fröhlichen Abende mit Tanz, Musik und Zechgelagen mehr, und Beths Tage waren damit angefüllt, sich um die Kranken zu kümmern, sauber zu machen und auf die Kinder derjenigen aufzupassen, die zu schwach waren, um es selbst zu tun.
Viele, denen sie half, behaupteten, sie sei ein Engel, aber für Beth war es nichts Außergewöhnliches, sich um andere zu kümmern; sie war es gewohnt. Außerdem gab es zu wenig Licht zum Lesen, es war zu kalt, um für mehr als zehn Minuten am Stück an Deck zu gehen, und denjenigen, die sie am meisten mochte, vor allem Maria und Bridie, ging es zu schlecht, um mit ihnen zu scherzen oder zu reden.
Sam rief ihr mehrmals am Tag zu, dass sie sich mit ihm an Deck treffen solle, und Jack Child kam immer dazu. Beth nahm an, dass er sich mit Sam angefreundet hatte, aber ihr Bruder erklärte ihr, dass sie der Grund dafür sei.
Beth glaubte das nicht wirklich, denn sie hatte bemerkt, dass alle, Männer und Frauen gleichermaßen, Sam bewunderten. Er war lustig, freundlich, wagemutig und oft forsch.
Doch warum auch immer Jack Zeit mit ihnen verbringen wollte, Beth freute sich jedes Mal, ihn zu sehen. Er war lustig, schlagfertig und weltgewandt. Ihr war manchmal ein bisschen schwindelig in seiner Nähe, und er verstand immer ihre kleinen Witze und machte eine Bemerkung, die sie kichern ließ. Sie wünschte sich oft, dass es an Deck nicht so kalt wäre, denn dann hätte sie länger dortbleiben können; doch wie die Dinge lagen, dehnte sie ihre Treffen dort so lange aus, bis sie fast zu einem Eisblock geworden war. Im Niedergang blieben sie meist stehen und redeten noch weiter, bis ein Mitglied der Mannschaft oder ein Steward sie wütend ermahnte, dass sie im Weg standen.
Sam ließ sich von den Regeln nicht aufhalten. Mit seinem Charme, seinem guten Aussehen und seinen guten Manieren gelang es ihm, sie zu umgehen. Irgendwie schaffte er es, eine junge Dame namens Annabel aus der zweiten Klasse kennenzulernen, und verbrachte einen Teil jedes Tages mit ihr und ihrer Familie an verschiedenen Orten auf dem Schiff; er aß sogar mit ihnen und vermied so das widerliche Stew, das den Passagieren des Zwischendecks vorgesetzt wurde.
Beth wäre eifersüchtig gewesen, wenn er ihr nicht Kuchen und Früchte zugesteckt hätte. Jack war beeindruckt von Sams kaltschnäuziger Dreistigkeit und von der Art und Weise, wie er es schaffte, damit durchzukommen.
»Wenn ich durch eine der Absperrungen gehen würde, dann wüssten die sofort, wo ich herkomme«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Ich könnte vielleicht einem Steward das Jackett klauen und mit einem Tablett da drinnen rumlaufen. Aber sobald ich den Mund aufmache, würden die mich erwischen.«
»Man sagt, dass es in Amerika keine Klassenunterschiede gibt«, erklärte Beth. »Wenn man sich besser stellen will, dann muss man einfach nur hart arbeiten.«
Beth war bis zum Tod ihrer Mutter nicht klar gewesen, dass es so etwas wie Klassenunterschiede überhaupt gab. Davor war sie nur mit der Mittelschicht zusammengekommen, respektablen und fleißigen Leuten, genau wie ihre Familie. Sie hatte natürlich gewusst, dass es sehr arme Menschen gab; sie sah sie täglich auf der Straße betteln. Aber die Reichen in ihren großen Häusern mit ihren Dienern und ihren schicken Kutschen waren so weit entfernt von ihr gewesen, dass sich ihre Lebenswelten gar nicht berührt hatten.
Arbeiten zu gehen und später am Falkner Square zu wohnen hatte Beths Sicht jedoch verändert. Sie war eine Dienstbotin geworden und hatte die Reichen aus nächster Nähe beobachtet, und dadurch war ihr der riesige, unüberwindliche Graben bewusst geworden, der zwischen ihnen verlief. Die Langworthys hatten ihr nie das Gefühl gegeben, ihnen unterlegen zu sein, aber auf der Reise bekam sie genau das deutlich zu spüren, nur weil sie sich kein besseres Ticket leisten konnte.
Nachts, wenn sie im Bett lag und versuchte, das Stöhnen der Kranken um sich herum und den immer präsenten Gestank nach Erbrochenem auszublenden, dachte sie über die versprochene klassenlose Gesellschaft in Amerika nach. Natürlich würde es dort auch so etwas wie eine Hierarchie geben, aber wenn sie auf Reichtum fußte und nicht auf Herkunft und Bildung, dann konnten Sam und sie vielleicht, wenn sie hart arbeiteten, einen Status wie den der Langworthys erreichen.