36

»Wir übernachten heute Abend im Fairview Hotel«, sagte Jack, als sie das Boot am Ufer von Dawson vertäuten. »Du ziehst dir dein hübschestes Kleid an, und später flanieren wir über die Front Street.«

»Ich muss noch meine guten Sachen aus dem Restaurant holen«, entgegnete sie abgelenkt, weil sie all die neuen Gebäude betrachtete, die seit dem Brand gebaut worden waren. Es war, als wäre die Katastrophe niemals passiert, abgesehen davon, dass die Läden, Saloons und Tanzlokale, die die alten ersetzten, solider und größer waren als ihre Vorgänger.

Außerdem liefen Tausende von Menschen herum. Viele von ihnen sahen genauso schäbig und müde aus wie die Neuankömmlinge im Jahr zuvor, aber es befand sich auch eine überwältigende Anzahl von modisch gekleideten Städtern unter ihnen. Wie Oz gesagt hatte, gab es auch sehr viele sittsam aussehende Frauen und Kinder.

Beth hatte gehört, dass eine Eisenbahn gebaut werden sollte, um Passagiere von Skagway über den White Pass zu bringen, aber sie bezweifelte, dass irgendeiner von diesen feinen Leuten über diese Route gekommen war, denn sie sahen nicht aus, als könnten sie ein Boot bauen und damit über den Yukon fahren.

Ein Mann in einem Frack, einer gestreiften Hose und einem Zylinder ging Arm in Arm mit einer Frau, die ein weißes Musselinkleid und einen großen, von einer Nadel gehaltenen und mit Rosen geschmückten Hut trug und der nicht bewusst zu sein schien, dass ihr Kleid durch den Dreck schleifte. Eine andere Frau in einer eleganten Brokatjacke und einem passenden Rock saß auf einer jener Ledertruhen, die Beth erst einmal gesehen hatte, nämlich als sie in New York aus der ersten Klasse des Schiffs getragen worden waren.

Es gab überall ähnlich elegant gekleidete Männer und Frauen, und Beth konnte sich nicht vorstellen, warum sie gekommen waren. Was hofften sie in dieser kleinen Pionierstadt zu finden, die acht Monate des Jahres von der Außenwelt abgeschnitten war?

Als sie weiter die Front Street hinuntergingen – Beth mit ihrer Geige und einer kleinen Tasche, Jack mit dem Rest ihrer Habseligkeiten –, glaubte sie, in einem jener merkwürdigen Träume zu sein, in denen man sich an einem vertrauten Ort befand, an dem nichts so war, wie es sein sollte.

So fühlte sie sich schon, seit sie sich darauf gefasst gemacht hatten, die billigsten Fahrscheine kaufen zu müssen, die es gab, und dass ihnen in Vancouver harte Zeiten bevorstanden.

Und dann, ohne jede Vorwarnung, waren sie plötzlich reich.

Obwohl das eine wunderbare Überraschung gewesen war, fiel es ihnen sehr schwer, den Ort zu verlassen, an dem sie so glücklich gewesen waren. Dann, nach dem emotionalen Abschied von Oz, waren sie hierhergerudert und auf unheimliche Weise daran erinnert worden, wie sie vor einem Jahr hier angekommen waren, tieftraurig und erschüttert über Sams Tod.

Letztes Jahr, als sie sich durch den tiefen Schlamm auf genau diesen Straßen gekämpft hatten, waren sie Cheechakos gewesen, wie die Einheimischen die Greenhorns nannten: aufgeregt, ängstlich, müde, erwartungsvoll und völlig verwirrt. Dawson City hatte sie verändert. Es konnte nicht anders sein – es war, als hätte man sie in einen riesigen Mixer geworfen, aus dem sie durch die ungewöhnlichen Menschen, die Frivolität, die hier Tag und Nacht herrschte, die Not, die Überfüllung, die lasche Moral und die Träume von unermesslichem Reichtum verändert wieder herausgekommen waren.

Beth fragte sich jetzt, ob sie sich jemals wieder in eine normale Gesellschaft würde einfügen können. Darüber hatte sie während der Bootsfahrt schon nachgedacht und deshalb kaum geredet, und da Jack ebenfalls schweigsam gewesen war, nahm sie an, dass er sich genauso viele Sorgen darüber machte, wie es sein würde, wieder zurückzukommen.

»Wir schaffen das schon, wir haben uns«, sagte Jack plötzlich, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Wenn wir wollen, dann können wir das nächste Schiff nehmen.«

Beth lächelte ihn dankbar an. Sie fand es bemerkenswert, dass er immer zu wissen schien, was sie dachte.

Um acht Uhr abends machten sie sich gerade fertig, um auszugehen und sich in der Stadt umzusehen. Man hatte ihnen im Fairview eines der besten Zimmer gegeben. Es war luxuriös mit einem dicken Teppich, schicken französischen Möbeln, einer Federmatratze und Samtvorhängen an den Fenstern. Beth dachte zynisch, dass es ein Skandal war, dass die Besitzer die Innenwände nicht robuster gebaut hatten. Jack und sie konnten jedes Wort hören, das die Leute im angrenzenden Zimmer sagten.

Sie hatten Beths Sachen aus dem Restaurant abgeholt, den Scheck bei der Bank eingelöst, und Jack hatte sich einen eleganten neuen Anzug gekauft, sich die Haare schneiden und seine besten Schuhe polieren lassen.

Beth band ihm gerade seine Fliege um, als es an der Tür klopfte. Jack öffnete und sah einen jungen Hotelpagen in Livree, der einen Brief in der Hand hielt. »Das hier ist für Miss Bolton gekommen«, sagte er. »Sie haben gesagt, ich soll auf Ihre Antwort warten.«

Überrascht und verwirrt öffnete Beth den Brief und stellte fest, dass er von Percy Turnball kam, dem derzeitigen Besitzer des Monte Carlo.

Verehrte Miss Bolton, las sie.

Ich war hocherfreut zu erfahren, dass Sie und Mr Child wieder in der Stadt sind. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie beide heute Abend im Monte Carlo meine Gäste wären, und ich hoffe, dass Sie es vielleicht in Erwägung ziehen, einige Stücke für all jene zu spielen, die Sie so schmerzlich vermisst haben. Ihr ergebener Diener P. Turnball

Sie gab Jack den Brief zu lesen. »Was meinst du?«

»Ist das der Schotte, den sie ›Big Balls‹ nennen?«, fragte Jack. »Der große Kerl mit dem Diamanten an der Krawattennadel, der immer im Nugget war?«

Beth kicherte. Dolores hatte ihn immer Percy the Pig genannt, wegen seiner kleinen dunklen Augen und seines roten Gesichts. Wie One Eye liebte auch er karierte Anzüge in grellen Farben, aber er war ein anständiger, großzügiger Mann, und Beth hatte ihn gemocht.

»Ja, stell dir vor, und ausgerechnet ihm gehört jetzt das Monte Carlo! Sollen wir hingehen?«

»Wenn du willst. Vielleicht wäre es gut für dich, dort ein letztes Mal zu spielen.«

Beth wandte sich zu dem Pagen um. »Sagen Sie ihm, wir kommen gerne.«

Es war schon neun Uhr, als sie im Monte Carlo ankamen. Ein Pianist spielte, aber sie konnten ihn

kaum hören, weil es in dem vollen Saloon so laut war. Als Beth und Jack hineingingen, drehten die

Leute sich nach ihnen um, und ein Raunen ging durch den Raum.

»Das ist sie«, hörte Beth einen Mann sagen. »Sie ist sogar noch hübscher, als sie erzählt haben.« Percy Turnball musste die Aufregung bemerkt haben, denn er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, um sie zu begrüßen.

»Herzlich willkommen.« Auf seinem großen roten Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Es gab großen Jubel, als man Sie vorhin in die Stadt kommen sah. Sie sind eine Legende in Dawson, Miss Bolton. Selbst die Cheechakos haben von Ihnen gehört und waren enttäuscht, dass sie Sie nicht spielen hören konnten. Und was Sie angeht, Jack, so habe ich Geschichten gehört, dass Sie von einem Bären angegriffen wurden, Gold gefunden und heimlich unsere Gypsy Queen geheiratet haben. Stimmt irgendetwas davon?«

Jack lachte. »Das ist alles erfunden. Wenn ich die Gypsy Queen heirate, dann ganz sicher nicht heimlich.«

Turnball schlug ihm auf den Rücken. »Richtig so. Ich fand immer, dass ihr beiden gut zueinanderpasst. Und jetzt trinken wir Champagner und feiern, dass ihr wieder zurück seid.«

Turnball führte sie zu einem Tisch, den er reserviert hatte, und der Barkeeper brachte eine Champagnerflasche in einem silbernen Eiskübel. Er schmeckte besser als der, den Fallon immer mit Beth getrunken hatte, und die Gläser waren aus echtem Kristall.

Dutzende von Leuten, die sie noch nie gesehen hatte, kamen an den Tisch und sagten ihr, wie sehr sie sich freuten, sie kennenzulernen. Es war ein gutes Gefühl, und da Jack unter dem Tisch ihre Hand hielt, verschwand die Angst, die sie im Laufe des Tages noch empfunden hatte.

Sie entdeckte viele vertraute Gesichter in der Menge, die sich jetzt alle Sourdoughs nennen durften, weil sie den Winter hier verbracht hatten. Einige waren in Skagway noch ganz junge Männer gewesen, Unschuldige, die ihre Kleinstädte verlassen hatten, um ihrem Traum nachzujagen. Jetzt waren es raue Männer, die alles machen konnten, was sie wollten. Da sie noch immer hier waren, hatten sie wohl eine Nische für sich gefunden, selbst wenn sie noch nicht auf Gold gestoßen waren.

Hin und wieder sah sie auch die Tänzerinnen aus den Tanzlokalen und Saloons mit ihren grellen Kleidern und ihren extravaganten Frisuren. Sie sahen vielleicht mollig, hübsch und freundlich aus, aber die meisten waren berechnend, hart und geldgierig. Doch erst sie verliehen Dawson das Glamouröse und hatten schon so manchen Goldgräber glücklich gemacht, selbst wenn diesem gerade das Glück nicht hold war.

Andere Gesichter, die Beth ebenfalls kannte, waren die der Geschäftsleute der Stadt. Einige hatte sie schon auf der Reise hierher kennengelernt, andere waren über andere Routen gekommen, aber sie waren alle Unternehmer. Viele von ihnen hatten durch Brände alles verloren, denn auch vor dem großen Feuer im April hatte es schon viele andere gegeben. Aber es lag nicht in der Natur dieser Männer, aufzugeben; wenn ein Geschäft scheiterte, dann suchten sie sich etwas Neues. Hartnäckig und entschlossen, mit Stahl im Rückgrat, würden sie vermutlich alles überleben, was im Leben noch auf sie wartete.

Doch die meisten Gäste waren Fremde für Beth. Unter ihnen waren die neuesten Cheechakos, ausgemergelte Männer in schäbigen Mänteln und hohen Wanderstiefeln, aber die meisten Fremden waren elegant, gut angezogen und sahen wohlhabend aus.

»Das sind die Touristen«, sagte Turnball verächtlich, als er ihre neugierigen Blicke sah. »Sie mussten nicht über die Berge wandern und die ganzen Qualen durchstehen; sie sind mit Ledertruhen gekommen, manche haben sogar ihre Dienstboten mitgebracht, nur um sagen zu können, dass sie in Dawson City waren. Keiner von uns wusste, dass die Zeitungen auf der ganzen Welt letztes Jahr alles verfolgt haben, was hier passierte. Einige dieser Neuankömmlinge wissen mehr über uns als wir selbst! Natürlich gibt es immer noch viele, die herkommen, weil sie nach Gold schürfen wollen, aber die meisten wollen nur sehen, ob all die Sachen stimmen, die sie gehört haben.«

Um zehn Uhr stand Turnball auf der kleinen Bühne und schlug auf eine Zimbel, um für Ruhe zu sorgen.

»Ladys und Gentlemen«, sagte er, als es still wurde. »Sie haben alle schon einige der Legenden von Klondike gehört. Selbst wenn Sie auf dem einfachen Weg mit dem Schiff hergekommen sind, wissen Sie von jenen Mutigen, die mit ihrer Ausrüstung auf dem Rücken dem Tod auf den beiden berüchtigten Pässen, dem Chilkoot Pass und dem White Pass, ins Auge gesehen haben. Die junge Dame, die ich heute hier begrüßen darf, kam im letzten März über den Chilkoot. Sie hat ihren Bruder verloren, der im Miles Canyon ertrank. Aber sie hat sich mit ihrer berühmten Geige bis hierher gekämpft und uns alle mit ihrer Musik verzaubert.

Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal spielen hörte, es war in diesem Saloon, ein paar Tage nach ihrer Ankunft. Ihr Ruf war ihr vorausgeeilt, aber ich hatte nicht erwartet, dass die englische Geigenspielerin, die in Skagway die Herzen der Menschen erobert hatte, ein schmächtiges Mädchen sein würde.

In jener Nacht hat sie mich zu Tränen gerührt, sie brachte mich dazu, mit den Füßen im Takt zu wippen, und füllte mein Herz mit Freude, und wie jeder andere Mann in der Stadt war ich tief beeindruckt von ihrem Mut, ihrem Talent und ihrer Schönheit.«

Turnball wandte sich zu ihr um und bedeutete ihr, auf die Bühne zu kommen.

Mit einer großen Geste öffnete er die Arme, und seine Stimme wurde zu einem lauten Donnern. »Ich präsentiere Ihnen Ihren besonderen Liebling: die weltberühmte Beth Bolton, die Klondike Gypsy Queen.«

Während die Leute applaudierten, sprang Beth mit ihrer Geige in der Hand auf die Bühne und verneigte sich vor dem großen Publikum. Um der alten Zeiten willen spielte sie zuerst »Kitty O’Neill’s Champion«, und innerhalb von Sekunden wippten die Leute mit den Füßen und lächelten sie an. Als Nächstes kam »The Days of ’49«, der alte »California Gold Rush Jig«, dann »The Lass of Glenshee«.

Sie badete in begeistertem Applaus. Dann winkte sie mit ihrem Bogen, um die Leute zum Schweigen zu bringen, und wandte sich an ihr Publikum.

»Die nächste Nummer habe ich selbst komponiert«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie hören darin den Wind, der mir auf dem Chilkoot Pass ins Gesicht peitschte, die Sägen der Bootsbauer am Lake Bennett und unsere Freude darüber, endlich weiterfahren zu können, als das Eis aufbrach. Ein Mittelteil erzählt von dem Schmerz über den Tod meines Bruders und über die Schönheit des Yukon im Frühling. Und schließlich ist da die Fröhlichkeit von Dawson City am Ende der Reise.«

Jack hatte sie oft etwas sehr Schönes spielen hören, während er auf Oz’ Claim arbeitete, eine Nummer, die er noch nicht kannte. Er hatte geglaubt, es wäre ein klassisches Stück, und hatte sie immer bitten wollen, es abends einmal für ihn zu spielen.

Jetzt, als sie zu spielen begann, wurde ihm klar, dass es das Stück war, was er dort gehört hatte. Von den ersten, schmerzlich schönen Tönen an, die mit Noten die Kälte nachzeichneten, durchlebte er noch einmal die Wanderung über den Chilkoot Pass. Er konnte die Last des Gepäcks auf seinem Rücken spüren, die ihn fast vornüberfallen ließ, und den schweren Schlitten, den er ziehen musste, während er immer weiter hinauf durch den Schnee stapfte. Irgendwie war es Beth gelungen, in der Musik die Verzweiflung, die Erschöpfung und die Angst festzuhalten, die alle Goldsucher durchgemacht hatten. Doch er konnte sich nur daran erinnern, dass sie ihn damals jedes Mal strahlend angelächelt hatte, wenn er sie ansah.

Da war ausgelassene Fröhlichkeit an den Sägen des Lake Bennett, und er bemerkte, wie viele Sourdoughs einander ansahen und lächelten, als ihnen ihr erbitterter Streit wieder einfiel.

Alle Zuhörer, ob sie die Reise mitgemacht hatten oder nicht, konnten die Freude über den Aufbruch mit den Booten spüren, denn Beth war es gelungen, die Hornpfeifen der Matrosen, das Flattern der Segel im Wind und sogar die Wärme der Frühlingssonne auf ihren Rücken in ihrer Musik mitschwingen zu lassen.

Der schnelle, schaurige Teil spiegelte die Aufregung und das Entsetzen über die Stromschnellen im Miles Canyon und wurde dann zu einer traurigen Erinnerung an Sam. Jack konnte ihn vor sich sehen, wie sie ihn aus dem Wasser zogen, sein blondes Haar dunkelrot verfärbt vom Blut aus der Wunde an seinem Kopf. Er konnte Beth wieder neben seiner Leiche knien sehen, und ihr Schluchzen durchfuhr ihn wie Messerstiche. Und er konnte sehen, wie sie Sam in sein Ufergrab gelegt und nach den Gebeten »Rock of Ages« gesungen hatten.

Ein Kloß stieg Jack in den Hals, weil all das in der Musik mitschwang. Als er sich umsah, konnte er sehen, dass selbst diejenigen im Publikum, die nichts von Sam oder dem Miles Canyon wussten, Beths Kummer verstanden.

In ihrem Porträt der Reise über den Yukon spiegelten sich all das Leid und die Hoffnungslosigkeit, aber es gelang ihr auch, die Schönheit des sich windenden Flusses und der ihn umgebenden Berge zu zeichnen, der Wildblumen und der Elche, die am Ufer tranken.

Auf jener Fahrt waren sie ganz plötzlich auf Dawson gestoßen. Beth illustrierte das durch einen plötzlichen Tempuswechsel. Auf einmal war ihre Komposition wild, laut und fröhlich, und sie erinnerte Jack an den Markt am Ufer, den zähen Schlamm, die Tausende von Menschen. Sie beschwor die Geschäftsleute herauf, die laut schrien, dass ihre Saloons, Restaurants oder Tanzlokale die besten seien. Sie porträtierte den romantischen »Long Juicy Waltz«, der bei den Königen der Tanzlokale so beliebt gewesen war. Die Männer entdeckten bald, dass sie die Frauen für ihren Dollar nur eine Minute lang im Arm halten durften, doch einige gaben einhundert Dollar aus, um das Privileg einen Abend lang zu genießen.

Ein Hauch Burleske im Theater des Monte Carlo, frech, vulgär, aber niemals unanständig, sonst hätten die Mounties es geschlossen. Die Faro-Tische, die Frauen aus der Paradise Alley, das Heulen der Hunde, die Betrunkenen, die Verlierer und die Gewinner – sie alle waren in Beths Musik, und Jack war nie stolzer auf sie gewesen.

Er sah sie auf der Bühne stehen, den Kopf über die Geige gebeugt, mit den schwarzen Locken, die ihr über den Rücken fielen, sah, wie ihr schlanker Körper sich sinnlich zu der Musik bewegte. Ihm wurde klar, dass sie sich in den Jahren, die er sie kannte, von einem hübschen Mädchen in eine wunderschöne Frau verwandelt hatte, ohne dass ihm die Veränderung aufgefallen war.

Als das Stück endete und Beth den Bogen sinken ließ, brandete stürmischer Applaus auf. Die, die noch saßen, sprangen auf, stampften mit den Füßen, klatschten in die Hände und jubelten. Es hörte gar nicht auf, und alle verlangten nach einer Zugabe. Aber Beth lächelte und schüttelte den Kopf, formte mit den Lippen ein Danke an das Publikum, weil man sie über dem Applaus nicht gehört hätte, und trat von der Bühne.

Jack verstand das. Diese Eigenkomposition hatte sie erschöpft. All die Schmerzen, die Not, die Freuden und das Vergnügen waren darin enthalten gewesen. Sie konnte das nicht übertreffen, und sie wollte es gar nicht erst versuchen.

Sie konnten Dawson am folgenden Tag nicht verlassen, wie sie gehofft hatten, denn alle Boote waren ausgebucht. Jack gelang es jedoch, ihnen eine Kabine in der ersten Klasse auf der Maybelline am 3. August zu besorgen, in fünf Tagen.

Am folgenden Nachmittag, während sie ein paar Dinge einkaufte, die sie brauchte, sah Beth plötzlich Dolores, die früher im Golden Nugget gearbeitet hatte, aus einem Lebensmittelladen kommen. Sie war hochschwanger.

Als sie Beth sah, kam sie auf sie zugelaufen, fast atemlos vor Aufregung, sie wiederzusehen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du einfach verschwunden warst. Niemand schien zu wissen, wo du hingegangen bist!«, rief sie.

»Ich bin nach Bonanza gegangen, um bei Jack zu sein«, erklärte Beth. »Ich hatte genug von Dawson. Aber was ist mit dir? Wohin bist du gegangen, als das Nugget abgebrannt ist?«

Dolores lachte. »Das Feuer war ein Glücksfall für mich. Ich habe in jener Nacht Sol kennengelernt, er war einer der Feuerwehrmänner. Er hat mich mit zu sich genommen, und seitdem sind wir zusammen.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Beth erzählte ihr, dass sie mit Jack nach Vancouver gehen wollte. Dolores berichtete, dass sie in der Wäscherei aushalf und dass Sol für das Kind einen zusätzlichen Raum an ihre Hütte baute.

»Wann kommt es denn?«, fragte Beth, die sich freute, dass für Dolores alles gut ausgegangen war.

»Der Doktor sagt, im November«, erwiderte Dolores. »Aber wir sind nicht sicher, was das Datum angeht, weil ich mich nicht erinnern kann, wann ich zuletzt meine Do-da hatte.«

Beth lächelte über Dolores’ Namen für die Menstruation. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Sol sich sehr darüber freute, Vater zu werden, und dass Dolores gesund und glücklich war, verabschiedete sie sich und ging zurück ins Fairview.

Im Gehen dachte sie noch einmal über ihr Gespräch nach, und plötzlich wurde Beth klar, dass ihre Do-da auch schon eine ganze Weile ausgeblieben war. Sie konnte sich erinnern, sie kurz nach ihrer Ankunft bei Jack gehabt zu haben, und dann noch einmal, einen Monat später, Anfang Juni. Aber seitdem nicht mehr.

Weil man ihr in Montreal gesagt hatte, dass sie niemals wieder schwanger werden könne, hatte sie keinen Grund gehabt, von einem Mann zu erwarten oder zu wollen, dass er vorsichtig war, und ganz sicher war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass die Ärzte sich irren könnten.

Zurück in ihrem Zimmer im Fairview, betrachtete sie sich genau im Spiegel. Sie konnte keine Veränderungen an sich sehen, und sie fühlte sich auch nicht anders, doch ihre Periode war schon über einen Monat überfällig. Was, wenn sie schwanger war?

Sie schloss die Augen und hielt ihren Bauch, wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie es war. Jacks Baby zu bekommen wäre das Schönste auf der ganzen Welt für sie gewesen.

Aber sie sagte ihm nichts, als er zurückkam. Sie musste zuerst sicher sein, und da er am Nachmittag einigen alten Freunden begegnet war und viel Neues zu berichten hatte, war es einfach, ihre Aufregung vor ihm zu verbergen.

Am folgenden Tag half Jack jemandem dabei, eine neue Hütte zu bauen, und Beth versuchte, den Gedanken an ein Baby aus ihrem Kopf zu verdrängen, indem sie einige alte Freunde besuchte. Aber es funktionierte nicht; ob es nun Einbildung war oder nicht – ihre Brüste waren plötzlich empfindlich, und am Morgen war ihr sogar ein bisschen übel gewesen. Sie unterhielt sich und lachte während der Besuche, aber alles, woran sie denken konnte, war, wie glücklich Jack sein würde, wenn es sich tatsächlich bestätigte.

Am Abend des 31. Juli ging das Gerücht durch Dawson, dass man Gold in Nome an der Beringsee in Alaska gefunden hatte.

Beth und Jack hörten es von einem anderen Gast, der gerade ein Telegramm von einem Freund irgendwo aus der Nähe bekommen hatte. Sie dachten sich nichts dabei, denn es hatte schon einmal Gerüchte über einen neuen Goldfund im Januar gegeben, und viele Männer hatten sich sofort auf den Weg gemacht, einige davon so wenig vorbereitet, dass sie Frostbeulen bekamen, nur um dann festzustellen, dass es sich um eine Falschmeldung gehandelt hatte.

Aber als sie später über die Front Street gingen, sprachen alle darüber. In den Saloons, in die sie gingen, sagten die Männer, dass das Gold dort einfach am Strand liege und darauf warte, eingesammelt zu werden, und alle wollten nach Nome, sobald sie ein Schiff fanden, das sie hinbringen würde.

Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und plötzlich hatten alle Männer, die mit leerem Blick auf den Bürgersteigen herumgelungert hatten, wieder das alte vertraute Feuer in den Augen.

Jack fand das sehr lustig. Er lachte schallend, als ein alter Sourdough ihn auf der Front Street aufhielt und ihn fragte, ob er auch dorthin gehen würde. »Auf keinen Fall«, sagte er. »Ich habe für den Rest meines Lebens genug vom Goldfieber. Ich will nur mit meiner Frau nach Hause fahren.«

Am folgenden Tag summte die ganze Stadt vor Aufregung. Die Leute kämpften um die Plätze auf den Schiffen, und wenn sie keine Fahrscheine bekommen konnten, besorgten sie sich Ruderboote, um sich allein auf den Weg zu machen.

Jack schien das alles sehr verstörend zu finden und erklärte, dass er eine Weile in den Bergen wandern wolle. Bevor er ging, zählte er fünfhundert Dollar von ihrem Geld ab und sagte zu Beth, sie solle sich bei Madame Aubert etwas Hübsches und Modisches kaufen, das sie in Vancouver tragen könne.

Die Französin war eine ausgezeichnete Schneiderin, aber sie hatte auch fertige Kleider in ihrem Laden, die der letzte Schrei aus Paris waren.

»Bei ihr kann ich nichts kaufen«, erwiderte Beth entsetzt. »Sie ist zu teuer.«

Jack lachte. »Wir sind jetzt reich, und all deine Kleider werden in Vancouver schäbig aussehen. Außerdem kannst du sie jetzt, wo so viele Leute nach Nome reisen, sicher ein bisschen runterhandeln.«

Beth wollte ein neues Kleid, aber sie sagte zu Jack, dass fünfhundert Dollar zu viel dafür seien.

»Behalt es ruhig«, sagte er. »Du wirst auch Schuhe und andere Dinge brauchen.«

Beim Abendessen wirkte Jack ein bisschen distanziert. Beth hatte ein hübsches Kostüm bei Madame Aubert gefunden, eine dunkelgrün-cremefarben gestreifte Schößchenjacke mit einem dazu passenden einfarbigen grünen Rock und einem kleinen grünen Hut mit Schleier. Sie freute sich darüber und über den neuesten Tratsch, den die Französin ihr erzählt hatte, und war ein bisschen enttäuscht, dass Jack nicht darauf einging.

Nach dem Essen trank sie zwei Gläser Whiskey, die ihr sofort zu Kopf stiegen. Sie konnte kaum noch stehen, und Jack half ihr auf ihr Zimmer und ins Bett.

»Ich glaube, ich laufe draußen noch ein bisschen rum und sehe nach, was so los ist«, sagte er. »Es ist zu früh, ich könnte jetzt ohnehin noch nicht schlafen. Träum was Schönes.«

Beth wachte am Morgen abrupt von dem Straßenlärm unten auf. Aber zu ihrer Überraschung war sie allein im Bett. Sie stand auf und blickte aus dem Fenster, um zu sehen, woher der Lärm kam, und stellte fest, dass er von Aberhunderten von Männern mit Rücksäcken auf dem Rücken kam, die in Richtung Anleger liefen.

Es war genau wie vor zwei Jahren in Vancouver, und sie nahm an, dass sich Jack leise nach draußen geschlichen hatte, um sich das Spektakel anzusehen. Aber als sie zurück auf das Bett blickte, sah es nicht aus, als wenn er dort geschlafen hätte. Das Kissen war nicht eingedrückt, und die Decke und die Laken waren noch seitlich unter die Matratze geschoben.

Doch noch merkwürdiger war, dass sein neuer Anzug über der Stuhllehne hing und seine besten Stiefel danebenstanden. Er musste gestern Abend zurückgekommen sein, als sie schlief, und seine alten Sachen wieder angezogen haben.

Sie blickte in den Schrank und sah, dass seine Werkzeugtasche fehlte. Jack hatte schon immer eine Schwäche für Leidensgeschichten gehabt, und wenn ihn gestern Abend jemand um Hilfe gebeten hatte, dann wäre es ihm schwergefallen, Nein zu sagen. Eines jedoch verstand sie nicht: Warum hatte er sie, als er zurückgekommen war, um seine alten Sachen und sein Werkzeug zu holen, nicht geweckt, um ihr zu sagen, wohin er ging, oder ihr eine Nachricht hinterlassen?

Ihr war wieder übel, aber sie beschloss, dass es Hunger war, deshalb ging sie nach unten, um zu frühstücken, in der Hoffnung, dass Jack vielleicht eine Nachricht an der Rezeption abgegeben hatte.

Aber da war keine Nachricht, und sie musste aus dem Esszimmer laufen, weil ihr schon vom Kaffeegeruch schlecht wurde.

Als sie wieder in ihrem Zimmer war, setzte sie sich an das offene Fenster und blickte hinunter auf die Männer, die am Hotel vorbeimarschierten. Plötzlich zog sich ihr Herz erschrocken zusammen. Konnte Jack nach Nome gegangen sein?

Der Gedanke schien absurd, denn er hatte mit Belustigung und Neugier auf die Nachricht von den neuen Goldfunden reagiert. Er hatte sogar gesagt, wenn es hier schon hart sei, nach Gold zu schürfen, dann würde es dort noch schlimmer sein, denn Nome liege fast am Polarkreis.

Dennoch lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, denn diese ganze Stadt existierte nur wegen der Irrationalität und der Gier, die Gold in Männern hervorrief. Sie konnte nicht einmal sagen, dass es nur eine Sorte Menschen gab, die der Verlockung erlagen, denn sie wusste, dass die Goldsucher aus allen sozialen Schichten kamen, und ehrliche, anständige Männer traf man hier öfter als Gauner und Betrüger.

Sie wusste auch, dass es keine Rolle spielte, wie viel Geld ein Mann schon besaß, denn sie hatte gesehen, wie Männer ihr Vermögen beim Kartenspiel verloren. Theo hatte sich mit dem Golden Nugget seinen Traum erfüllt, doch er hatte es hinter ihrem Rücken verkauft und war mit dem Geld verschwunden. Warum sollte sie davon ausgehen, dass Jack anders war?

Sie wandte sich vom Fenster ab und sah zum Bett hinüber. Sie hatten das Geld in einen Stoffbeutel unter die Matratze geschoben, nachdem sie es von der Bank abgehoben hatten. Jack hatte nur ungefähr eintausend Dollar behalten, und fünfhundert davon hatte er ihr gegeben. Wenn der Beutel weg war, dann war er es auch, genau wie Theo.

Zögernd und zitternd vor Aufregung trat sie an das Bett und hob die Matratze an. Sie schob ihre Hand darunter, konnte jedoch nichts ertasten. Ein unbewusster Schrei der Verzweiflung brach aus ihr hervor. Hastig suchte sie mit den Händen alles ab, und als sie nichts fand, griff sie die Matratze und warf sie auf den Boden. Aber darunter war nichts, nur die dünne Rosshaarpolsterung über den Federn.

Der Schock ließ sie taumeln, denn auch wenn sie sich immer wieder sagte, dass Jack nicht anders als andere Männer war, hatte sie im Herzen doch geglaubt, dass er zu etwas so Gemeinem nicht fähig war.

Er hatte behauptet, er wäre nicht wegen des Goldes hergekommen, sondern, um in ihrer Nähe zu sein, und sie hatte ihm geglaubt.

Sein Betrug war mehr, als sie ertragen konnte, viel schlimmer als das, was Theo ihr angetan hatte, denn sie hatte immer gewusst, dass er ein Spieler war. Aber Honest Jack, der Mann, dem sie so viele Jahre lang blind vertraut hatte, ihr Tröster, ihr Freund, wie hatte er ihr das antun können?

Hysterisch schluchzend warf sie sich auf das Bettzeug. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr jene fünfhundert Dollar in die Hand gedrückt und gesagt hatte, dass sie nicht in ihren alten Sachen nach Vancouver fahren könne.

Der Mistkerl musste schon da seine Flucht geplant haben – und hatte ihr das Geld nur gegeben, um sein Gewissen zu beruhigen, damit sie nicht völlig mittellos dastand.

Wie konnte er ihr das antun?