Epilog

Dakota atmete tief durch und füllte ihre Nase mit dem süßlichen Duft von Blumen, die zu Beginn des Frühlings gedeihen, ehe sie die Augen öffnete und in grelles Sonnenlicht blinzelte.

In alle Richtungen erstreckten sich Blütenfelder, und über ihr wölbte sich der strahlend blaue Himmel wie eine Kuppel. Die Sonne stand hoch, fast im Zenith. Hohe, baumartige Gewächse, die gar nicht zu den terrestrischen Bllumen passten, bildeten in der Nähe ein kleines Wäldchen. Es sah aus, als wären große schwarze Tintenfische erstarrt, während sie aus dem Boden heraussprangen; die Blätter dieser Pseudo-Bäume waren groß, oval und glänzend.

Sie stand auf, anfangs unsicher, und schaute sich um. Ihr stockte der Atem, als sie die wolkenkratzergroßen Türme eines Datenspeicher-Komplexes der Weisen am Horizont sah; die himmelwärts stürmenden Türme und gewaltigen, nach oben hin spitz zulaufenenden Kuppeldächer einer Stadt umgaben den Sockel wie Wellen aus Stahl und Beton, die sich an den Gestaden eines Inselbergs brachen.

Mit den Fingerkuppen streichelte sie die Köpfe der nächsten Blumen und bemühte sich, ihre letzten Erinnerungen zusammenzuklauben. Sie hatte sich in der Nähe des Roten Riesen befunden, der Schwarm konnte für kurze Zeit in Schach gehalten werden … der Stern war zu einer Nova explodiert und dann …

Und dann hatte sie sich hier, an diesem Ort, wiedergefunden.

Eine geraume Zeit lang blickte sie auf die fernen Türme und erinnerte sich an das Gespräch, das sie einstmals in genau einem solchen Gebäude geführt hatte. Ihr Gesprächspartner war eine Präsenz der Weisen gewesen, die sich selbst als Oberster Bibliothekar bezeichnete. Die Unterredung fand statt, während gerade die Schlacht um Ocean’s Deep tobte. Gerade noch hatte sie in einem Schiff gesessen, das von Raketen angegriffen wurde, und im nächsten Moment befand sie sich hier, in diesem Anderwelt-Reich, das von den virtuellen Speichern der Schiffe der Weisen erzeugt wurde. Damals waren Wochen subjektiver Zeit verstrichen.

Wie betäubt hockte sie auf dem Boden und sah zu, wie sich der Himmel langsam verdunkelte, bis die Milchstraße in Sicht kam und die gigantische Wolke des Sagittarius-Clusters sich in all ihrer Pracht vor ihr ausbreitete.

Erst dann machte sie sich auf den Weg.

 

Als sie nach über einer Woche endlich die Stadt erreichte, stellte sie fest, dass das Gebäude unter der Zwiebelkuppel sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert hatte. Ein Sessel und eine Chaiselongue standen neben einem Planetarium aus Messing und Kupfer. Dieses Mal saß jedoch ein alter Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, im Sessel und betrachtete sie mit amüsiert dreinblickenden Augen, die sich in unzähligen Runzeln verbargen.

»Dakota«, begann er und stand auf, um sie zu begrüßen, als sie über den mit Teppichen bedeckten Boden zu ihm ging. Sie starrte auf sein langes weißes Haar, das adrett von einer kleinen Silberspange zusammengehalten wurde. Das Gesicht bestand nur aus Falten, doch der Zug um den Mund und die Art, wie er sie anschaute, ließen vermuten, dass er sie von irgendwoher kannte.

Seine Stimme klang gut gelaunt und kräftig. »Es ist …« Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und seufzte humorvoll. »Es ist eine ganze Weile her, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe.«

»Ich … ich erkenne Sie nicht. Es tut mir leid.«

»Mein Name ist Lamoureaux. Sie erinnern sich nicht an mich, aber ich erinnere mich an Sie.«

Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, deshalb nahm sie vorsichtig auf der Kante der Chaiselongue Platz. »Ich verstehe nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich weiß nur noch, dass ich mich in der Nähe des Roten Riesen aufhielt und vom Schwarm attackierte wurde, und dann …«

»Und dann verwandelte sich der Stern in eine Nova«, beendete er den Satz für sie.

Dakota nickte schwach. »Woher wissen Sie das?«

»Wir begegneten uns nach Ihrer ersten Wiederauferstehung, aber das liegt weit, weit zurück.«

»Wiederauf… wann war das?«

»Vor über dreitausend Jahren, Dakota.«

Sie starrte ihn an, anfangs zu schockiert, um etwas zu erwidern oder zu reagieren. Aber Lamoureaux wartete mit scheinbar endloser Geduld.

»Ich begreife immer noch nichts … Wie ist es überhaupt möglich, dass ich jetzt hier sitze?«

»Das zu erklären, wird lange dauern«, antwortete er. »Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Das Schiff, das Sie zu dem Schwarm brachte, sammelte Ihre Gedanken und Erinnerungen und speicherte sie. In den letzten Sekunden bevor die Schockwelle der Nova Sie erreichte, sandte es diese Informationen nach außen. Ein anderes Schiff der Weisen, das sich viel näher an der Heimat befand, benutzte diese Gedanken und Erinnerungen, um Sie neu zu erschaffen. Doch Ihr Geist wurde in mehreren Schiffen der Weisen gespeichert, und für einen langen, langen Zeitraum in Stase gehalten. Erst gegen Ende des Tausendjährigen Kriegs ist es uns gelungen, eine echte Kopie von Ihnen zu bekommen.«

Offenen Mundes sah sie ihn an, dann senkte sie mit einem Stöhnen ihren Kopf auf die Knie. »Entschuldigen Sie, aber es fällt mir sehr schwer, das alles zu verkraften.«

Er lächelte mitfühlend. »Es gibt noch viel mehr zu erklären, und wir werden Sie ganz allmählich, Schritt für Schritt, ins Bild setzen. Doch in erster Linie sollten Sie wissen, dass der Mos Hadroch entdeckt und dazu benutzt wurde, den Krieg zwischen den Shoal und den Emissären zu beenden. Darauf folgte die Große Diaspora, als sich die menschliche Rasse über die gesamte Galaxis ausbreitete.«

»Sie haben mich zurückgeholt.« Langsam hob sie den Kopf. »Warum?«

»Weil wir Sie brauchen. Die Harmonie der Welten ist eine Art Nachfolgeorganisation des Konsortiums, aber sie steht vor der größten Bedrohung seit dem Krieg mit den Emissären. Zurzeit ist eine Flotte der Shoal zur Großen Magellan’schen Wolke unterwegs, in der Absicht, dort ein Imperium zu gründen.«

»Die Harmonie der was?«, hauchte Dakota.

»Bei ihrem Aufbau spielte ich eine bescheidene Rolle, am Ende meiner sechsten Iteration.« Er deutete in die Höhe. »Wenn Sie bitte nach oben schauen wollen.«

Dakota blickte hoch und sah, wie ein Bild der Großen Magellanschen Wolke erschien und den Raum direkt unter der Zwiebelkuppel ausfüllte.

»Vor einigen Jahrzehnten«, fuhr Lamoureaux fort, »verließ eine kleine Flotte, angeführt von Shoal-Mitgliedern, die planten, die Hegemonie zu erneuern, unsere Galaxis. Diese geheime Mission hatte die Große Magellansche Wolke zum Ziel. Es gibt mittlerweile Grund zu der Annahme, dass mehr als ein Mos Hadroch existiert. Sollten sie welche finden, verfügen sie über die Mittel, die Harmonie der Welten zu vernichten. Also müssen wir sie aufhalten.«

»Und was geht das mich an?«

Lamoureaux lächelte. »Wir haben Sie noch nie so dringend gebraucht wie jetzt, Dakota.«

Ihr war nach Weinen zumute. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, in welche Verwirrung mich das alles stürzt. Ich meine, Jesus und Buddha …« Sie lachte. »Mir fehlen die Worte.«

»Die Harmonie ist etwas Besonderes. Viel bedeutender, als die Hegemonie je hätte sein können. Und der Name wurde nicht zufällig gewählt. Soll ich Ihnen zeigen, warum?«

Dakota nickte müde.

Im nächsten Moment tauchte sie ein in den Klang einer Billion Stimmen, die alle gleichzeitig sprachen. Doch anstatt eine Kakophonie zu bilden, war es eher ein einzelnes, unendlich komplexes Musikstück, das sich konstant veränderte. Sie blickte durch eine Million Augen, hörte eine Million Stimmen. Sie fühlte die Berührung einer nicht messbaren Zahl von Liebhabern, roch den Duft von tausend Welten. Sie spürte, wie fremdartige Gliedmaßen aus ihrem Körper sprossen; schmeckte mit ihrer langen Zunge den Chitinpanzer ihrer Brut; schwamm durch empfindungsfähige Korallen; schnüffelte mit einer Nase, die einer Blume glich, an köstlichem Plankton.

»Es gibt noch viel mehr, das ich Ihnen erklären muss.« Er erhob sich aus seinem Sessel und hielt ihr seine Hand entgegen. Seine Bewegungen wirkten geschmeidig, ganz und gar nicht wie die eines alten Mannes. »Und Sie müssen sich noch eine ganze Menge anschauen. Aber wenn wir einen Anfang machen wollen, sehe ich keinen Grund für Verzögerungen.«

Sie befeuchtete ihr Lippen mit der Zunge und warf noch einen Blick in die Zwiebelkuppel. Dann streckte sie zögernd den Arm aus und ergriff seine Hand.