Kapitel Fünf

Kurz nachdem sie an Bord gegangen waren, hob das Landungsschiff ab und beschleunigte rasant, bis es durch ein Portal in der Decke des Kernschiffs flog, das sich mehr als ein Dutzend Kilometer über ihnen auftat. Auf einem Monitor konnten die drei Männer die Bahn des Landungsschiffs verfolgen. Ty und seine beiden Begleiter lagen nun angeschnallt auf Liegen in einem Raum, der nicht viel größer war als das Heck des Transporters, der sie von dem Lager zum Flugplatz gebracht hatte. Eine halbe Stunde später führten sie ein Rendezvousmanöver mit einem Frachtschiff durch, das vom Konsortium für die Hilfsoperation abkommandiert worden war.

Als sie ausstiegen, warteten vier Männer auf sie. Alle trugen Zivilkleidung, doch ihre Muskeln, der wachsame, angespannte Ausdruck und die Reißverschlussjacken, unter denen sich die Waffenholster deutlich abzeichneten, wiesen sie eindeutig als Sicherheitskräfte aus. Ty hatte man einen Overall gegeben, der ihm drei Nummern zu groß war.

»Während der nächsten paar Tage wird man Sie in Ruhe lassen«, erklärte ihm Lamoureaux. »Aber ich möchte, dass Sie sich in dieser Zeit bestimmte Aufzeichnungen gründlich ansehen. Das Material finden Sie in Ihrer Unterkunft.«

»Wohin fliegen wir?«

»Nach Ocean’s Deep.«

Danach lotste man Ty in zügigem Tempo durch die klaustrophobisch schmalen Gänge des Schiffs. Es war schon einige Jahre her, seit er sich das letzte Mal in Schwerelosigkeit bewegt hatte, und anfangs ruderte er nur unbeholfen herum. Als sein Körper dann anfing, sich zu erinnern, wie er sich verhalten musste, verfrachtete man ihn in das Quartier, das er während der nächsten zweiundsiebzig Stunden bewohnen sollte: Eine Ein-Personen-Kabine, deren Einrichtung lediglich aus einem dick gepolsterten Andrucksessel und einer sprachgesteuerten Komm-Einheit bestand.

Der Raum war nach den meisten Maßstäben winzig und spartanisch, doch nach den Entbehrungen in Ascension fand er diesen Komfort schon fast dekadent. Er zwängte sich in die unbequem enge Hygienezelle, schälte sich aus seinem Overall und wusch sich hastig mit einem Schwamm den Schmutz und Urin von der Haut.

Das Wasser war warm, und während er sich säuberte, spürte er, wie ein wenig von dem Stress und den Ängsten der letzten Jahre allmählich von ihm abfielen wie eine zweite Haut, die er endlich abstreifen konnte.

Dann schlüpfte er wieder in seinen viel zu großen Overall und probierte, ob sich die Kabinentür öffnen ließ. Er war nicht überrascht, als er feststellte, dass sie von außen verriegelt war.

Nach minutenlangem Herumexperimentieren mit der Komm-Einheit fand er heraus, dass sie sowohl mit örtlichen als auch interstellaren öffentlichen Tach-Net-Relais vernetzt war. Es dauerte nicht lange, bis er sich Zugriff auf eine Liveschaltung verschafft hatte, die die Oberfläche des Kernschiffs zeigte.

Er blickte hinunter auf einen Wald aus zerstörten und verbogenen Antriebsdornen. In der Nähe des Frachters befanden sich weitere Schiffe, überall im leeren Raum verteilt, und die meisten waren offenkundig von Menschen konstruiert; allerdings befanden sich darunter auch einige, die Ty völlig fremd waren.

Diese Schiffe waren mit Antriebsdornen ausgerüstet, die auf einem zentralen, stark gerundeten Rumpf steckten und sich in weitem Bogen nach vorn richteten. Nach einer Weile kam er darauf, dass es sich um die sagenhaften Schiffe der Weisen handeln musste, von deren Existenz man erst erfahren hatte, nachdem die ersten Rettungs- und Hilfstruppen eingetroffen waren.

Ein riesiger Cargolifter schob sich vor das nächstgelegene Schiff der Weisen und verschaffte Ty die Perspektive, die er brauchte, um die ungeheure Größe dieses fremdartigen Raumschiffs zu erfassen. Plötzlich empfand er so etwas wie Ehrfurcht. Diesen Schiffen haftete etwas Sehniges, Organisches an, das sie gar nicht wie ein künstliches Konstrukt aussehen ließ, sondern eher wie ein Gebilde, das sich in irgendeinem grenzenlosen Ozean hatte entwickeln können.

Nach einer Weile gelang es ihm, sich von dem wahrhaft spektakulären Anblick loszureißen und mit seiner eigentlichen Aufgabe zu beginnen. Er suchte sich sämtliche verfügbaren Informationen zusammen, die die Zerstörung von Night’s End und die darauffolgenden Ereignisse beschrieben. Er sog die Nachrichten mit der Gier eines Mannes in sich auf, der nach Informationen hungerte; auf diese Weise erfuhr er von der Gründung der Friedensflotte, deren Behörde in Ocean’s Deep stationiert war, sowie die spärlichen Erkenntnisse, die man über die fremden Sternenschiffe gesammelt hatte. Fasziniert verschlang er die Gerüchte und Mutmaßungen, welche sich um die Personen rankten, die direkt oder auch nur am Rande an der Entdeckung dieser eigentümlichen Schiffe beteiligt waren. Lamoureaux’ und Willis’ Namen tauchten häufig auf, wenn auch bei weitem nicht so oft wie eine gewisse Dakota Merrick oder der Senator Lucas Corso.

Er ging wieder auf Außensicht, um zu prüfen, ob sich draußen etwas verändert hatte, und sah, dass sich das nächste dieser fremden Schiffe immer weiter näherte. Als es beinahe neben dem Frachter lag, verdeckte ein Energiefeld die Sterne.

Und dann, in weniger als einem Wimpernschlag, war das Kernschiff verschwunden, zusammen mit seiner Geleitflotte aus Schiffen der Menschen und diesen unheimlichen Schiffen der Weisen. Stattdessen sah man nur noch das breite Band der Milchstraße und das Glitzern von nahe gelegenen und weit entfernten Sternen, die sich vor der Schwärze des Alls wie verstreute Diamanten abhoben.

Auf dem Display erschien eine Datei mit der Bitte um Bestätigung. Ty öffnete sie und fand eine aktualisierte Bibliothek, angefüllt mit Forschungsergebnissen über die Atn. Sie enthielt nicht nur seine gesamten veröffentlichten Arbeiten, sondern auch einen Satz Dokumente mit dem Vermerk »Geheim«.

Er überflog die Resümees einiger Geheimakten, und seine anfängliche Faszination wich langsam einem Groll, in den sich eine Spur von Neid mischte. Ein paar Exo-Anthropologen hatten sich offenbar im Auftrag der Legislatur mit geheimen Forschungen beschäftigt, und während seiner langen Jahre im Exil hatte er von dieser Art Tätigkeit nicht das Geringste mitbekommen.

Er fing an, die Referate gründlicher zu studieren, und während er sich schon bald in den akribischen Details verlor, verblasste sein Kampf ums Überleben auf den Straßen von Ascension zu einer vagen Erinnerung.

 

Drei Tage später eskortierten dieselben vier Männer vom Sicherheitsdienst Ty zu einer Orbitalstation innerhalb des Ocean’s-Deep-System. Eine zentrale, mehrere Kilometer lange Nabe war umgeben von einer Reihe Ringe, in denen Druckausgleich herrschte. Diese Ringe drehten sich ständig, um Schwerkraft zu erzeugen, und die Speichen, mit denen sie an der Nabe verbunden waren, dienten gleichzeitig als Bestandteil des stationseigenen Transportsystems.

Mit großen, staunenden Augen sah er sich um, als man ihn eine der Speichen hinunterbeförderte und sie in das Innere eines Rings gelangten, der beherrscht wurde von uralten, im Verfall begriffenen Türmen, wie die Bandati sie bauten. Die Luft roch säuerlich und feucht, mit einem Anflug von Verwesung.

Gigantische, in den Innenrand des Rings eingelassene Fenster gingen auf die Nabe, und während sich der Ring um die eigene Achse drehte, wurde der Gasriese, in dessen Orbit die Station kreiste, in regelmäßigen Abständen sichtbar. Eine Weile sah Ty zu, wie der Planet gemächlich vorbeiglitt.

Über ihnen flog ein Schatten dahin, und er erhaschte einen Blick auf einen Bandati, der mit weit gespreizten Schwingen von einer Turmplattform zur nächsten schwebte.

 

In einem Verwaltungsgebäude, das man im Fertigbaustil im Schatten eines der Türme errichtet hatte, warteten Lamoureaux und Willis auf ihn.

»Das Wichtigste zuerst«, begann Lamoureaux, nachdem Tys Begleiter sich entfernt hatten. »Haben Sie die Dateien gelesen, die ich Ihnen zukommen ließ?«

»Oh ja, ich habe mich intensiv mit dem Material beschäftigt.« Ty lachte halbherzig. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Laroque in geheime Forschungsprojekte verwickelt war, oder dass die Atn eingeschränkt zugängliche Technologie schmuggelten. Warum sollten sie so etwas tun?«

»Sie benötigten so manches, was sie sich nur über uns beschaffen konnten. Zugang zu Produktionsstätten, gewisse Verarbeitungstechnologien, für die sie Verwendung hatten. Manchmal ist es einfacher für sie, das, was sie brauchen, durch Tauschhandel zu erwerben, als es da draußen zwischen den Sternen selbst zu fabrizieren.«

»Und was bieten sie im Gegenzug?«

»Im Gegenzug lieferten sie uns entweder Informationen über alles Mögliche, das sich in weit entfernten Regionen der Galaxis abspielte, ein Wissen, das die Shoal uns mit Bedacht vorenthielten, oder sie versorgten uns mit verbotenen Technologien.«

»Na schön, aber Crescent-over-Moon hatte niemals direkten Kontakt zu Menschen. Von der Existenz dieses Clans wissen wir nur, weil ich eine ihrer Zweigwelten entdeckte, wobei es sich dann herausstellte, dass sie bereits vor mehreren Zehntausend Jahren aufgegeben wurde. Der Hinweis auf diesen Mos Hadroch ist unglaublich obskur. Ich begreife immer noch nicht, was Sie daran so wichtig finden.«

Willis ergriff das Wort. »Lassen Sie uns damit beginnen, Mr. Driscoll, dass Sie uns Ihre Ergebnisse mitteilen. Sind Sie fündig geworden? Stießen Sie in all den Informationen, die Sie für uns durchforsten sollten, auf irgendetwas, das uns auf die Sprünge helfen könnte? Gibt es einen Anhaltspunkt dafür, was dieser Mos Hadroch ist oder was er bewirken kann?«

»Ich habe in der Tat etwas gefunden. Das Bedeutendste scheint mir ein Satz von stellaren Koordinaten zu sein.«

»Koordinaten?«, wiederholte Lamoureaux. In seine Augen trat ein abwesender Blick, als er die Informationen aufnahm, die ihm über seine Implantate zuflossen.

»Laroque stöberte sie im Zuge einer der geheimen Expeditionen auf, verfolgte die Spur aber nicht weiter. Er war der festen Überzeugung, Crescent-over-Moon sei eine Sackgasse. Wenn er sich nur die Mühe gegeben hätte, seine Entdeckung ein einziges Mal mit meinen eigenen Erkenntnissen abzugleichen, hätte er seine Meinung vielleicht geändert. Aber dazu war er einfach zu engstirnig.«

Er legte eine Pause ein, um Atem zu schöpfen, und merkte, wie die beiden Männer ihn anstarrten. Er musste lernen, sich besser unter Kontrolle zu haben.

»Soll das heißen, dass Sie eventuell wissen, wo sich dieser Mos Hadroch befindet?«, hakte Lamoureaux nach.

»Darf ich?«, fragte Ty und deutete mit dem Kinn auf eine Komm-Einheit, die in einer Zimmerecke stand. »Falls Sie eine Kopie der Dateien hier haben, die Sie mir schickten, kann ich Ihnen gleich einiges veranschaulichen.«

Lamoureaux nickte Willis aufmunternd zu; der berührte achselzuckend mit der Handfläche die Einheit und aktivierte sie. Ty ging an den beiden Männern vorbei und rief eine Reihe von Bildern auf, die zu engen Spiralen angeordnete Glyphen der Atn zeigten. Große Teile dieser Spiralen fehlten.

»Wissen Sie, was das Merkwürdigste an dem Clan Crescent-over-Moon ist?«, äußerte Ty. »Ihre Zweigwelten kann man mitunter allein daran erkennen, wie stark zerstört sie sind. Zuerst dachte ich, andere Clans hätten vielleicht irgendwelche Vernichtungskriege gegen sie geführt, sie zum Ziel gewalttätiger Ausschreitungen gemacht, denn dadurch hätte sich auch ihre Isolation erklären lassen.«

Abermals nahmen Lamoureaux’ Züge einen Moment lang diesen leeren Ausdruck an. »In keinem Ihrer Referate gehen Sie auf diese Theorie ein«, bemerkte er dann.

»Weil es sich um unbewiesene Spekulationen handelt, nicht um Tatsachen. Es wäre genauso gut möglich, dass einige ihrer Asteroiden mit anderen Himmelskörpern zusammenprallten, nachdem die Atn diese Zweigwelten längst verlassen hatten.«

»Aber Sie glauben es nicht?«

Ty dachte kurz nach. »Lassen Sie es mich so formulieren: Der Umstand, dass so viele ihrer Zweigwelten Anzeichen massiver Verwüstung aufweisen, legt andere Schlussfolgerungen nahe.« Ty veränderte die Abfolge der Bilder, bis einige der defekten Text-Spiralen in einer Reihe mit ähnlich versehrten Glyphen standen. »Einige dieser fragmentarischen Glyphen entdeckte man in Crescent-Asteroiden, nachdem ich mich auf der Flucht befand. Fügt man sie mit Bruchstücken aus anderen Crescent-Asteroiden zusammen, ergeben sie ein einheitliches Ganzes.« Ty schob die unvollständigen Spiralen übereinander, bis ein perfektes Gesamtbild entstand.

»Ich weiß immer noch nicht, was wir da eigentlich sehen«, bekannte Willis.

»Wenn man diese Glyphen zusammensetzt, beziehen sie sich ausdrücklich auf den Mos Hadroch. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Satz galaktischer Koordinaten, die eine knapp über tausend Lichtjahre entfernte Sternregion anzeigen«, erläuterte Ty, mit dem Finger auf verschiedene Teile der Spiralen weisend.

»Und was ist mit der stellaren Abdrift?«, wollte Lamoureaux wissen.

»Das Koordinatensystem der Atn ist so angelegt, dass es dieses Problem berücksichtigt, und deshalb gilt es als äußerst zuverlässig. Die Koordinaten geben nicht einen bestimmten Punkt im Weltraum an, sondern projizieren eine Flugbahn zu einem Stern oder einer Sterngruppe. In den Katalogen fand ich das System eines Weißen Zwergs, zu dem diese Zahlen hier weitgehend passen.«

»Das beantwortet noch immer nicht die Frage, was dieser Mos Hadroch eigentlich ist«, warf Willis ein.

»Wir müssen dies hier schleunigst Dakota übermitteln«, murmelte Lamoureaux Willis zu. »Und auch Senator Corso muss eingeweiht werden.«

Tys Blick irrte zwischen den beiden Männern hin und her; plötzlich verkrampfte sich seine Kehle. »Sie fliegen dorthin, nicht wahr?«

»Wohin?«, fragte Lamoureaux.

»Sie haben den handfesten Beweis, dass es sich bei dem Mos Hadroch nicht um eine Fiktion, sondern um etwas ganz Reales handelt. Und der exakte Standort befindet sich ungefähr tausend Lichtjahre von hier entfernt. Bis vor kurzem wäre eine Entdeckung dieser Art von rein akademischen Interesse gewesen, weil die Shoal uns niemals so tief in die Galaxis hätten eindringen lassen. Doch das hat sich mittlerweile geändert, nicht wahr?«

»Noch ist nichts beschlossen«, verlautbarte Willis.

»Sie holten mich aus Ascension heraus, entführten mich buchstäblich aus dem Gewahrsam der Sicherheitsdienste. Wahrscheinlich hat die Legislatur Ihnen diesen Handstreich sehr übel genommen, hab ich Recht?«

Willis’ Gesicht zeigte keinerlei Gemütsregung, doch Lamoureaux’ Mienenspiel verriet Ty, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Wenn Sie wollen, lassen Sie von jemand anders die Daten prüfen«, legte Ty nach, »aber es gibt niemand, der besser qualifiziert ist als ich. Wenn Sie da rausfliegen, werden Sie mich mitnehmen müssen.«