Kapitel Einunddreißig
Als Corso kurze Zeit später das Labor betrat, hockte Whitecloud vor einem Monitor und stierte auf den Schirm; in der Hand hielt er einen Becher Kaffee.
»Haben Sie irgendwas Neues entdeckt?«, fragte Corso und warf einen Blick auf den Mos Hadroch, der immer noch in der großen Maschine eingekeilt und von Sonden umgeben war.
Whitecloud starrte weiterhin auf den Schirm, als hätte er nicht einmal bemerkt, dass jemand neben ihm stand.
»Ty?«, fragte Corso wieder, dieses Mal jedoch wesentlich leiser.
Endlich drehte sich Whitecloud zu ihm um. Niemand zu Hause, dachte Corso; als er in das leere Gesicht schaute, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Kurz darauf schien Whitecloud aus seiner Trance zu erwachen. Er prallte zurück, offenkundig überrascht, Corso vor sich zu sehen. Der Kaffeebecher drohte ihm aus der Hand zu fallen, aber Corso schnappte ihn sich und reichte ihn Whitecloud zurück. Seine unterschwelligen Zweifel, ob der Mann tatsächlich irgendwie fremdgesteuert wurde, waren nun völlig verschwunden.
»Ich wollte nur wissen, ob Sie etwas Neues zu berichten hätten«, fing Corso wieder an. Er sprach mit ruhiger Stimme, obwohl sein Herz wie verrückt pochte. Auf keinen Fall durfte Whitecloud Verdacht schöpfen, dass irgendetwas nicht stimmte. »Heute Morgen sollten Sie ein Update liefern, aber bis jetzt habe ich von Ihnen nichts bekommen.«
Dabei waren Whiteclouds Berichte alles andere als eine interessante Lektüre. Sie enthielten kaum aktuelle Informationen und verschafften keine Einblicke, sondern bestanden hauptsächlich aus Listen oder Variationen von Tests, die er mit dem Artefakt durchexerziert hatte – alle mit denselben entmutigenden Resultaten. Lediglich ein einziges Mal hatte das Ding Anzeichen dafür gezeigt, dass es mehr war als ein lebloses Objekt – und zwar damals, als Corso es zum ersten Mal gesehen hatte.
Whitecloud blinzelte, stemmte sich von seinem Sessel hoch und hielt sich an einem Griff unter der niedrigen Decke fest. »Was Neues?« Er kratzte sich am Kopf und blickte um sich, als hätte er sehr lange geschlafen. »Doch, ja, es gibt tatsächlich was Neues. Sehen Sie sich das an.«
Er schob sich an Corso vorbei zu einem Tisch-Imager. Zuerst aktivierte er ihn, indem er mit der Hand über die Scheibe strich, dann huschte er durch eine Reihe von holographischen Menüs, bis er fand, wonach er suchte.
Wenige Sekunden später schwebte über der Imager-Scheibe das Abbild eines durchsichtigen Zylinders, der horizontal von Tausenden haarfeinen Gängen durchzogen wurde.
»Das ist ein Technologiehort, nicht wahr?«, vergewisserte sich Corso.
»Richtig. Der Hort, der sich im Tierra-System befindet, um es ganz genau zu sagen. Erst letzte Nacht hatte ich die Gelegenheit, ihn mir zum ersten Mal anzusehen. Ich kam noch nicht dazu, den Bericht für Sie zu schreiben, weil ich zuerst weitere Übereinstimmungen prüfen wollte, ehe ich mit Ihnen darüber diskutierte. Aber da Sie nun schon mal hier sind …«
Whitecloud streckte die Hand nach dem schwebenden Zylinder aus und rückte ihn mit einem geschickten Fingerschnippen zur Seite. Danach navigierte er schnell durch ein anderes Menü. Ein zweiter Zylinder erschien, ähnlich wie der erste, nur besaß dieser nicht einen einzigen Hauptschacht, sondern zwei große Schächte, die sich in der Mitte kreuzten.
Corso erschrak. »Das ist doch …«
»Das Innere des Asteroiden, in dem wir den Mos Hadroch fanden«, beendete Whitecloud für ihn den Satz.
»Aber die beiden Zylinder sehen identisch aus!«, staunte Corso. Er trat vor und legte beide Hände auf den Rand der flachen Imager-Scheibe. »Nein, sie sind nicht völlig identisch, aber …«
»Aber verblüffend ähnlich, wollten Sie sagen, oder?«
»Ja.« Corso nickte. »Und das ist Ihnen gerade erst aufgefallen?«
»Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich während des Briefings über den Hort, den wir kürzlich aufsuchten, draußen auf der Hülle mit Reparaturarbeiten beschäftigt war. Man schickte mir zwar eine Zusammenfassung, aber ich fand erst jetzt die Zeit, mich damit zu beschäftigen. Trotzdem kann ich mir nicht erklären, warum ich diese Übereinstimmung nicht schon früher bemerkt habe«, gab er zu. An seinem Tonfall erkannte Corso, dass er sich wirklich über sein Versäumnis wunderte. »Als ich dieses Bild gestern zum ersten Mal sah, war ich wie vom Donner gerührt. Die Ähnlichkeit sticht einem doch sofort ins Auge. Jeder, der die Atn studiert hat, hätte die Verbindung herstellen können, aber von uns gibt es ja nicht mehr viele, und bei dem Chaos, das in den letzten Jahren herrschte …«
Corso betrachtete die beiden Bilder und fühlte eine Kälte in sich aufsteigen, die nicht von der niedrigen Lufttemperatur im Labor herrührte. »Nur damit wir uns richtig verstehen: Sie behaupten, es gäbe offensichtlich irgendeine Art von Beziehung zwischen den Atn und dem Maschinenschwarm, der die Technologiehorte schuf?«
»Das scheint Sie zu überraschen, aber denken Sie einen Moment lang darüber nach. In beiden Fällen handelt es sich um weit verbreitete, sich selbst reproduzierende Maschinen-Spezies. Es ist durchaus möglich, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Was wir hier sehen, ist vielleicht eine Form echter Maschinenevolution.« Whitecloud legte eine Pause ein und überlegte einen Moment lang. »Noch wahrscheinlicher ist, dass eine Spezies von der anderen kreiert wurde.«
»Und der Schwarm machte Jagd auf die Zweigwelten der Atn, um sie zu zerstören.« Auch Corso geriet ins Grübeln. »Kann uns dieses Wissen irgendwie weiterhelfen?«
»Keine Ahnung«, gestand Whitecloud freimütig ein. »Gleich nachdem mir dieser Gedanke kam, versuchte ich, den Mos Hadroch mit den Maschinenprotokollen der Atn zu knacken. Es führte zu nichts, doch das heißt keineswegs, dass nicht andere Gemeinsamkeiten zwischen den Spezies existieren, die uns einen Hinweis auf den Schlüssel geben, den wir brauchen, um die Funktionsweise des Artefakts zu verstehen.«
»Uns läuft die Zeit davon, Ty. In ein paar Tagen erreichen wir unser Ziel.«
Whitecloud nickte. »Haben wir an unserem letzten Zwischenstopp bekommen, was wir wollten?«
»Ja … aber es gab Probleme. Dakota und die anderen befinden sich jetzt gerade auf dem Rückweg zu uns.«
»Was für Probleme?«
Mit knappen Worten schilderte Corso ihm die Ereignisse auf der Welt mit dem Technologiehort; er erzählte ihm auch von Nancys Strahlenvergiftung.
Als Whitecloud das hörte, wurde er blass. »Nancy … stirbt?«
Corso stutzte angesichts dieser Reaktion. Whitecloud war sichtlich erschüttert, mehr als man erwarten durfte, wenn man in Betracht zog, dass er die Frau kaum kannte. »Sie ist noch am Leben, aber es sieht wirklich nicht gut für sie aus. Sowie sie an Bord ist, wird sie in eine Med-Box verlegt, aber um ganz ehrlich zu sein, verringert die Zeit, die bis zu dem Rendezvous vergeht, Ihre Überlebenschancen praktisch auf null.«
Whiteclouds Gesicht erstarrte zu einer Maske. »Ich verstehe«, antworte er hastig, den Blick von Corso abwendend. »So was haut einen natürlich um.«
Corso nickte und fragte sich wieder einmal, was Whitecloud ihm verschwieg. »Wir müssen einen Weg finden, den Mos Hadroch zu aktivieren, ohne den Händler einzubeziehen«, erinnerte Corso ihn. »Dakota war ein paarmal hier unten, nicht wahr?«
»Ja. Aber dieses Phänomen, das auftrat, als sie den Mos Hadroch das erste Mal zu Gesicht bekam, hat sich nicht wiederholt.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Artefakt, das in dem Gestell ruhte. »Seitdem hat er kein einziges Signal von sich gegeben.«
»Strengen Sie sich an, Ty. Von Ihnen hängt vielleicht ab, ob wir Erfolg haben oder scheitern. Ich werde zusehen, ob ich Dakota dazu bewegen kann, Sie abermals aufzusuchen. Möglicherweise ist diese Verbindung zwischen dem Schwarm und den Atn genau das, was wir brauchen, um endlich einen Durchbruch zu schaffen.«
Ty nickte, aber seit er die Nachricht über Nancy erfahren hatte, war seine Stimmung drastisch umgeschlagen. Was hast du mir verheimlicht?, sinnierte Corso, als er das Labor verließ.
Sobald die Yacht des Händlers sich im Hangar befand, halfen Dan Perez und Ray Willis Dakota, Nancy aus ihrem Anzug zu befreien. Als Corso eintraf, waren die Männer gerade dabei, sie in eine tragbare Med-Box zu legen, die dann von einem Spinnen-Mechaniker weggeschleppt wurde. Gleich hinter der Spinne verließen Perez und Willis den Hangar.
»Die Lebenserhaltungssysteme ihres Anzugs haben verhindert, dass sie unterwegs starb, aber mehr auch nicht«, erklärte Dakota, als sie mit Corso allein war. Sie schlang die Arme um sich und fröstelte. »Ich weiß, dass sie es nicht schaffen wird, aber warum fühle ich mich deshalb so schlecht? Die Frau hat mich gehasst. Sie würde es gar nicht wollen, dass ich Mitleid mit ihr habe.«
»Vielleicht bist du doch ein bisschen menschlicher geblieben, als du denkst«, vermutete Corso.
Dakota schüttelte den Kopf; in ihre Augen trat ein Ausdruck der Reue. »Ich kann nicht anders, ich fühle mich schuldig. Ich ließ mich dazu verleiten, leichtsinnig zu werden.« In ihrer Stimme schwang Groll mit. »Ich hatte es viel zu eilig, in den Hort hinunterzugelangen.«
Corso seufzte, packte sie bei den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Du konntest auf gar keinen Fall wissen, was euch da unten erwartet, und Nancy kannte die Risiken, ehe sie sich auf diese Expedition einließ. Wir alle wussten Bescheid. Das ist dir doch klar, oder?«
Dakota wandte wieder den Blick von ihm ab. »Ich weiß nicht, was ich denken soll.«
»Doch, du weißt es ganz genau«, beharrte er. »Und jetzt hör mir gut zu, wir müssen etwas besprechen. Etwas sehr Wichtiges.«
Sie sah ihn an. »Worum geht’s?«
»Je näher wir unserem Ziel kommen, umso stärker werden meine Bedenken, den Händler auch nur in die Nähe des Mos Hadroch zu lassen. Ich habe gerade mit Nathan Driscoll im Labor gesprochen, und es scheint, als wäre er endlich auf eine Spur gestoßen.«
»Weiß er, wie man das Ding aktiviert?«
Corso zögerte. Er war sich einfach nicht sicher, ob Whitecloud der Einzige war, der unter dem Einfluss einer fremden Macht stand.
»Nein, noch nicht«, erwiderte er, wobei er sich völlig bewusst war, wie ausweichend er klang. »Aber er hat etwas anderes entdeckt.«
Ihre Augen verengten sich, als sie ihn prüfend musterte. »Verdammt nochmal … Du traust mir immer noch nicht, oder? Pass auf, noch ehe Olivarri ermordet wurde, hatte ich mich selbst gecheckt. Fast unmittelbar nach unserem Abflug ging ich runter in die Krankenstation und unterzog meine Implantate einem vollständigen Diagnosecheck. Ich wollte selbst sicher sein, dass keiner ohne mein Wissen an ihnen herumgepfuscht hat. Lamoureaux tat das Gleiche, und der ist dem Händler noch nie begegnet. Glaube mir«, fuhr sie fort, »wir sind beide clean, und keiner von uns wird fremdgesteuert, weder vom Händler noch von jemand anderem.«
»Warum zum Teufel hast du mir das nicht schon früher erzählt?«
»Nachdem Olivarri umgebracht wurde, wäre es doch egal gewesen, was ich behauptet hätte. Den Bericht über die Krankenstation hast du gelesen; der, der sie zerstört hat, hat nicht nur die Scanner demoliert, sondern obendrein den Kernspeicher gründlich gelöscht. Wie sollten Lamoureaux und ich da noch beweisen, dass wir uns selbst durchgecheckt haben?«
»Alles klar. Entschuldige, dass ich an dir gezweifelt habe. Aber nun zurück zu unserem Thema. Nathan glaubt jetzt, dass zwischen dem Schwarm und den Atn eine enge Verbindung bestehen könnte. Er hält es für möglich, dass sich vor sehr langer Zeit eine Spezies von der anderen abgespalten hat, und nach dem, was er mir vorhin zeigte, bin ich geneigt, ihm Recht zu geben.«
Dakota bekam große Augen. »Verdammt, das ist …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
»Das ist unglaublich, stimmt«, half Corso aus. Dann nickte er in Richtung Ausgang. »Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen.«
Dakota folgte ihm zur nächsten Transportstation. »Auf Kernschiffen bin ich einigen Atn begegnet«, erzählte sie, als sie in einen Wagen stiegen. »Sie sind harmlos, deshalb ist es nur schwer zu fassen, dass sie auf irgendeine Weise mit etwas so Bösartigem wie dem Schwarm verwandt sein sollen.«
»Daraus folgt, dass zumindest die vage Möglichkeit besteht, das Artefakt mit Hilfe von Atn-Protokollen zu einer Art Reaktion zu bewegen, wie auch immer diese aussehen mag. Leider bleibt uns kaum noch Zeit. Es ist so gut wie sicher, dass wir den Händler brauchen, wenn wir das Ding aktivieren wollen, ob es uns nun passt oder nicht.«
»Aus deinem Mund klingt das seltsam, Lucas. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal von dir hören würde.«
»Na ja, mit der Art und Weise, wie du ihn uns untergejubelt hast, kann ich mich immer noch nicht anfreunden.«
»Aber ich bin nicht die Einzige, die etwas zu verbergen hatte. Seit wann wusstest du, dass Leo Olivarri als Undercoveragent für die Legislatur tätig war?«
Corso starrte sie an. »Wer hat dir das erzählt?«
»Der Händler. Und frag mich bitte nicht, woher er das weiß. Er wollte es mir nicht verraten.«
»Über Olivarri weiß ich erst seit kurzem Bescheid«, erwiderte Corso. »Es gab da einen Verdacht, doch wir mussten ein verdecktes Signal nach Hause schicken, um eine Bestätigung zu erhalten. Aber deshalb wissen wir noch lange nicht, aus welchem Grund er ermordet wurde.«
»Wenn er uns bespitzelte, hat er vielleicht etwas herausgefunden, von dem wir keine Ahnung haben. Ich hätte ein paar Recherchen in die Wege leiten können, wenn du mich nur eingeweiht hättest. Oder bin ich in deinen Augen immer noch verdächtig?«
Corso beugte sich nach vorn und vergrub sein Gesicht kurz in den Händen, ehe er wieder zu Dakota hochblickte. Durch die gewölbte Glasscheibe hinter ihm konnte man die stille, leere Transportstation sehen. »Also gut«, seufzte er. »Ich weiß, wer Olivarri getötet hat. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, den Täter zu kennen. Ich glaube, es war Driscoll.«
»Wie kommst du darauf?«
»Derjenige, der die Datenspeicher des Schiffs sabotierte, hat keine hundertprozentig gründliche Arbeit geleistet. Es gibt Speicherpuffer, die für den Fall eines größeren Versagens Teile von Sicherungskopien bewahren können. Es ist uns gelungen, ein paar fehlende Stunden der Überwachungsaufzeichnungen zu rekonstruieren, und dabei stellte sich heraus, dass Driscoll die letzte Person war, die Olivarri lebend gesehen hat. Wir haben sogar Fragmente einer Videoaufnahme, in der die beiden zu sehen sind, wie sie sich kurz vor Olivarris Tod stritten.«
»Worum ging es bei diesem Streit?«
Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben es noch nicht geschafft, den Ton wiederherzustellen.«
»Aber das allein ist doch kein stichhaltiger Beweis, der Driscoll als Täter überführt, oder? Es passiert doch häufig, dass Leute miteinander streiten.«
»Das ist noch nicht alles. Bevor wir Redstone verließen, verschwand Nathan für mehrere Stunden. Wir haben keinen blassen Schimmer, was während dieser Zeit mit ihm passierte.«
»Hast du ihn denn nicht gefragt, wo er war?«
»Doch, natürlich. Aber seine Antwort hat mich nicht überzeugt.«
Dakota lehnte sich zurück und musterte Corso eine Weile. »Du hältst immer noch etwas zurück. Das merke ich dir an.«
Corso lächelte schwach. »Na schön. Als die Krankenstation verwüstet wurde, war es ein bisschen zu einfach, die Schuld dafür dir oder Ted zu geben.«
»Ich denke, es sollte eine bewusste Irreführung sein, um die Aufmerksamkeit von jemand anderem abzulenken. Die Personen, die man zuerst verdächtigen würde, sollten letzten Endes als die einzigen Verdächtigen dastehen.«
»Dieser Gedanke kam mir auch schon, aber nun glaube ich, dass die Station tatsächlich aus dem Grund zerstört wurde, den wir anfangs alle für den wahrscheinlichsten hielten. Es sollte verhindert werden, jemand auf eventuell manipulierte Implantate zu scannen. Aber dabei ging es nicht um dich oder Ted.«
Dakota schmunzelte in sich hinein. »Das ist lächerlich. Wenn es außer mir und Ted noch einen Maschinenkopf an Bord gäbe, wäre mir das sofort aufgefallen.«
Corso deutete ein Lächeln an. »Dakota, unser Freund Driscoll ist ein Uchidanist.«
»Ein Uchidanist? Und warum erfahre ich das erst jetzt?«
»Weil ich deine Hilfe brauche«, erwiderte Corso zerknirscht. »Ich bin mir sicher, dass er unter der Kontrolle des Händlers steht.«
»Wie ist das möglich?«
»Du weißt doch, die Uchidanisten besitzen …«
»Implantate«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Oh, Jesus und Buddha! Aber das ist noch längst kein Beweis für seine Schuld!«
»Nein«, pflichtete er ihr bei. »Um jemandem eine Schuld nachzuweisen, braucht man Indizien.« Er streckte die Hand nach der Liste der programmierbaren Ziele aus. »Lass uns losfahren. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Argwöhnisch blickte sie ihn an. »Was denn?«
»Indizien«, antwortete er kurz und bündig. »Aber vorher muss ich dir noch etwas beichten – es betrifft Driscoll. Du wirst nicht begeistert sein.«
Die Reaktorkomplexe der Fregatte waren umgeben von einem Labyrinth aus schmalen Zugangsröhren, die so eng waren, dass sie in jedem, der sich durch sie hindurchzwängen musste, klaustrophobische Alpträume erzeugen konnten. Nachdem sie den Wagen verlassen hatten, übernahm Corso die Führung; er verließ sich auf die detaillierten Pläne, die an jeder Kreuzung platziert waren, um den Weg zu einer der Reaktorbuchten zu finden.
Dakota folgte ihm dichtauf; ihr Magen verkrampfte sich vor Nervosität, und nach der schockierenden Enthüllung, mit der Corso sie soeben konfrontiert hatte, fühlte sie sich immer noch wie benommen. Bald erreichten sie die Hauptkontrollzone für den Fusionsreaktor der Fregatte. Ein an einem Schott angebrachter Monitor zeigte eine Realzeit-Simulation der unfassbar gewaltigen Prozesse, die nur wenige Meter entfernt stattfanden.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du das so lange vor mir verheimlicht hast«, murmelte sie, während sie Corso ansah, der zu einer Service-Luke ging, die in das Schott eingelassen war. Er gab einen Code in eine Tafel neben der Luke ein, die kurz darauf aufschwang.
»Das haben wir doch bereits alles durchgekaut«, gab er gereizt zurück. »Wenn ich es fertigbringe, mit Whitecloud zusammenzuarbeiten, ohne ihn zu erwürgen, dann schaffst du das auch.«
Dakota ließ sich Zeit mit der Antwort. Im Grund hatte sie das, was Corso ihr gerade erzählt hatte, noch gar nicht richtig verdaut.
Direkt oder indirekt war Whitecloud einer der Männer, die letzten Endes die Schuld an allem trugen, was in ihrem Leben schiefgelaufen war. Der Port-Gabriel-Zwischenfall hatte zur Ächtung der Maschinenkopf-Technologie geführt, was Dakota veranlasst hatte, für Bourdain zu arbeiten; das wiederum brachte sie auf Umwegen nach Nova Arctis, und was sich dort abspielte, hatte letztlich zur Folge, dass sie auf der Mjollnir landete.
»Ich will, dass er stirbt«, verkündete sie mit bebender Stimme.
Auf halbem Wege durch die Luke drehte Corso sich noch einmal um und funkelte sie wütend an. »Aber wir brauchen ihn lebend«, entgegnete er mit einem warnenden Unterton.
»Du hättest es mir schon viel früher sagen sollen«, rebellierte sie in einer jähen Anwandlung von Zorn.
»Angenommen, ich hätte es getan. Wärst du damit einverstanden gewesen, dass er mitkommt?«
»Nein, natürlich nicht!«, fauchte sie. »Er ist ein Massenmörder, kapierst du das nicht? Du warst nicht dabei, Lucas. Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie es war, plötzlich in dieser Weise den Verstand zu verlieren.«
»Und trotzdem sitzt der Händler mitsamt seiner Yacht in unsrem Hangar, und wir alle wissen, wozu er fähig ist. Wenn ich mich recht erinnere, machte er das Gleiche mit dir. Wie vereinbarst du das mit deinem Gewissen?«
Dakota erbleichte, und sie sagte nichts mehr. Im Licht der Reaktor-Simulation wirkten ihre Augen unnatürlich rund und glänzend.
Corso schüttelte verärgert den Kopf; er schämte sich für sich selbst, weil er sich plötzlich so unbehaglich fühlte. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich, doch als er den Kopf einzog und durch die Luke kletterte, folgte sie ihm nach nur kurzem Zögern.
Der Raum unter dem Reaktor-Kontrollzentrum bot kaum genügend Platz, dass sie sich beide hineinquetschen konnten; lediglich ein einzelnes rotes Display in einer Ecke spendete eine trübe Beleuchtung. Corso zückte eine kleine Taschenlampe und richtete den Strahl auf etwas, das Dakota zuerst für ein wüstes Durcheinander von Maschinen hielt. Er steckte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und benutzte beide Hände, um sich näher an die Unordnung heranzuziehen.
Als Dakota ihm folgte, sah sie in einer Ecke einen Plastikstuhl, der mit Mattfolie bedeckt war, von der sie wusste, dass sie eine Art Force-Feedback-Material darstellte. Rings um den Stuhl befand sich ein verworrenes Geflecht aus Drähten und Schaltkreisen, und weitere Schaltkreise und Drähte waren um die Armstützen des Stuhls gewickelt.
»Was ist das?«, fragte Dakota verblüfft.
»Siehst du das Supraleiter-Kabel, das durch die Rückenlehne verläuft? Damit kann man direkt die Energiezufuhr des Reaktors anzapfen, ohne dass es in den Logs erfasst wird.«
Plötzlich erkannte Dakota das geordnete Schema in dem Chaos, und sie vergegenwärtigte sich, dass sie auf die selbst gebastelte Version eines Interface-Sessels blickte, wie er droben auf der Brücke stand.
Sie schob sich an Corsos Seite und betastete mit den Fingerspitzen einer Hand die Drähte. »Warum sollte jemand so was konstruieren?«, fragte sie.
»Um die Systeme stillzulegen«, erklärte Corso, »damit keiner erfährt, wer Olivarri umgebracht hat. Ein paar der Komponenten wurden im Fabrikator des Labors hergestellt. Dadurch könnte man Whitecloud im Grunde schon als überführt betrachten.«
»Mir ist vieles schleierhaft«, murmelte Dakota. »Können Uchidanische Implantate überhaupt mit einem Interface-Sessel arbeiten?«
»Seine offenbar schon. Ich habe ein bisschen nachgeforscht und mich damit beschäftigt, wie er überhaupt aus der Haft fliehen konnte. Seine Implantate sind maßgeschneidert – kein Wunder, wenn man darüber nachdenkt. Sämtliche Mitglieder der Einheit für Forschung und Entwicklung, der er zugeteilt war, experimentierten ständig mit ihrer eigenen neuronalen Hardware, um zu sehen, was dabei herauskam.«
»Du musst doch einen Grund haben, warum du mir das alles jetzt erzählst, nachdem du so lange geschwiegen hast.«
»Früher oder später wäre es ohnehin herausgekommen, und mir ist es lieber, du hörst es von mir. Nur wenn wir alle zu Kompromissen bereit sind, gibt es überhaupt noch Hoffnung, dieses Schlamassel zu überleben.«
»Von welcher Art Kompromisse sprichst du?«
»Ich brauche dich, weil ich möchte, dass du mit Whitecloud zusammenarbeitest.«
Entgeistert starrte sie ihn an. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«
»Wenn er dicht vor einem echten Durchbruch steht, musst du ihn notgedrungen unterstützen. Vielleicht erleichtert es dir die Situation ein bisschen, wenn ich dir jetzt erzähle, dass ich mit ihm über die Geschichte in Port Gabriel gesprochen habe. Er leugnet seine Mitschuld gar nicht, womit ich nicht andeuten will, dass ihn das entlastet. Aber ich glaube allmählich, dass er es aufrichtig bereut.«
Ein Gefühl der Übelkeit, ein Brennen, machte sich in ihrer Magengrube breit. »Na, dann ist ja alles in Ordnung«, schnappte sie. »Kein Problem. Die Vergangenheit soll man ruhen lassen, richtig?«
Corso wurde wütend. »So habe ich das nicht gemeint.«
Einen Moment lang starrte sie an seiner Schulter vorbei und dachte nach. »Lass uns dieses Thema vorläufig beenden, denn mir fällt da etwas völlig anderes auf. Falls er wirklich der Kontrolle des Händlers unterliegt, wieso hat er dir dann erzählt, dass ihm ein Durchbruch geglückt ist? Würde das den Interessen des Händlers nicht zuwiderlaufen?«
»Deine Aktionen hat der Händler doch auch nicht während jeder Sekunde gesteuert, oder?«
»Nein, da hast du Recht«, gab sie zu.
»Ich denke, zumindest gelegentlich ist Whitecloud sein eigner Herr.« Mit dem Kinn deutete er auf den behelfsmäßig zusammengeschusterten Interface-Sessel. »All das verrät uns, dass der Händler etwas im Schilde führt. Und was immer es sein mag, es dürfte uns kaum zum Vorteil gereichen.«