Kapitel Zweiunddreißig

Der nächste Sprung – mit einer Kapazität von nur fünfzig Prozent  – trug die Mjollnir mehrere Hundert Lichtjahre weiter über die Kluft, die die Spiralarme voneinander trennte. Der Perseusarm wuchs und füllte einen größeren Teil des Himmels aus. Die ganze Zeit über arbeitete die Mannschaft fieberhaft daran, die Leistung der Fregatte über einem kritischen Niveau zu halten.

Wenn Ty schlief, träumte er immer häufiger, und die Träume wurden immer sonderbarer, nahmen gelegentlich fast den Charakter von Visionen an. Einmal träumte er, der Mos Hadroch, der nach wie vor in seinem Gerüst steckte, würde einen gewaltigen Sturm erzeugen, und das Artefakt erteilte ihm Befehle mit einer Stimme, die sich in Form von Donner und Wind ausdrückte.

Die Prognosen für Nancy sahen alles andere als gut aus; die Strahlung hatte in ihren Körperzellen tiefgehende und irreversible Schäden bewirkt. Er träumte auch von Nancy, wie sie in ihrem Raumanzug von ihm wegdriftete, bis sie sich in der Leere des interstellaren Raums verlor. Ein paarmal besuchte er sie in der Krankenstation und betrachtete sie durch den transparenten Deckel ihrer Med-Box; er wünschte sich, seine Sehnsucht nach ihr könnte irgendwie einen Genesungsprozess bei ihr einleiten.

Er studierte seine privaten Aufzeichnungen von den Tests, die er mit dem Artefakt durchgeführt hatte, und entdeckte darin unerklärliche Lücken. Dabei war er von Natur aus ein Pedant, der akribisch alles schriftlich festhielt; er ging sogar so weit, selbst seine eigenen Beobachtungen und Gedanken über die von ihm unternommenen Experimente mit Datum und Uhrzeit zu versehen. Und je tiefer er nachforschte, desto mehr Perioden entdeckte er, in denen die Logs und sein Erinnerungsvermögen eindeutig voneinander abwichen. An manchen Tagen fand er keine Einträge über gewisse Experimente, obwohl er hätte schwören können, dass er sie exakt zu diesen Zeiten durchgeführt hatte. Doch je intensiver er versuchte, sich an die spezifischen Einzelheiten dieser Vorgänge zu entsinnen, umso mehr ließ ihn sein Gedächtnis im Stich.

Ty spürte ein kaltes, enges Gefühl in der Brust, als ihm auffiel, dass diese unverständlichen Ausfälle vor allem zu der Zeit statgefunden hatten, als Olivarri ermordet wurde.

Eine lange Zeit saß er da, die rechte Hand flach auf eine ausgeschaltete Konsole gelegt; der Datenring an seinem Zeigefinger schimmerte matt in der gedämpften Beleuchtung des Labors. Dann aktivierte er die Konsole und ließ vom laboreigenen Fabrikator ein Dutzend Mikroüberwachungskameras mit Breitspektrumkapazität anfertigen. Die Order würde im Logbuch auftauchen, und wenn jemand nachfragte, wäre es sicher nicht ganz einfach, diese Anweisung zu erklären, doch auch dieses Risiko wollte er eingehen.

Binnen einer Stunde waren die Kameras fertig, und er verbrachte den Nachmittag damit, die winzigen Apparate in dunklen und abgelegenen Ecken des Labors zu positionieren, wo sie seiner Überzeugung nach bei flüchtigem Hinsehen nicht entdeckt werden konnten.

 

Kurze Zeit später befand sich Ty als Mitglied einer Reparatur-crew wieder draußen auf der Hülle. Er sah zu, wie Corso mit einem speziell für diese Aufgabe produzierten Werkzeug ein Loch in die Außenhülle bohrte. Ein Dutzend junger Sterne, eingehüllt in Nebel, die den nahen Rand des Perseusarms markierten, übergoss die Fregatte mit einem rubinroten Licht. Es war ein atemberaubender Anblick, doch nach fast zwölf Stunden pausenlosem Außenbordeinsatz war keiner in der Stimmung, Sterne zu beobachten.

Nachdem der tellerförmige Meridianische Energiefeldgenerator in die Hülle eingepasst war, trat Corso zurück, um für Lamoureaux Platz zu machen. Ted ging in die Hocke und legte eine behandschuhte Hand flach auf die leicht konvexe Oberfläche des Generators. Im nächsten Moment flammte rings um sie her eine Lichtkuppel auf, die einen Durchmesser von mindestens fünfzig Metern besaß.

»Okay, ich denke, für heute ist das der letzte Generator«, verkündete Lamoureaux über die gemeinsame Komm-Leitung; vor Müdigkeit klang seine Stimme monoton. Das Energiefeld schaltete sich ab, als er sich wieder aufrichtete.

»Wie lange dauert es noch, bis wir alle installiert haben?«, erkundigte sich Corso.

»Wenn wir unseren Plan beibehalten, wird der letzte in zwei Tagen auf die Hülle montiert«, antwortete Lamoureaux. »Da die Spinnen eine Menge der vorbereitenden Arbeiten übernehmen, können wir den Vorgang beschleunigen, aber wir benötigen trotzdem noch ein bisschen Zeit, um die Generatoren zu kalibrieren.«

»Und wie lange dauert das?«

»Ich denke, mit einem Tag kommen wir aus.« Lamoureaux drehte sich um und deutete auf den soeben installierten Generator. »Diese Dinger sind ungeheuer leistungsfähig. Um ganze Größenordnungen stärker als alles, was die Shoal uns überließen.«

Corso nickte. »Ted, ich muss noch ein paar Diagnosen mit Ihnen abchecken. Wenn Sie nichts dagegen haben, Nathan …« Corso tippte an die Seite seines Helms und zeigte dann auf Lamoureaux, um zu signalisieren, dass sie sich über einen privaten Kanal unterhalten würden.

»Keineswegs«, erwiderte Ty, außerstande, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen.«

Ty kochte innerlich, während die beiden Männer über etwas sprachen, das er nicht hören sollte. Er war überzeugt, dass er der Gegenstand ihrer Unterhaltung war, und fragte sich, ob sie nun doch seine Langstrecken-Tach-Net-Kommunikation mit dem Avatar entdeckt hatten.

Ein paar Minuten später wechselten die beiden Männer wieder in den öffentlichen Modus.

»Ich werde mir noch einmal die anderen Feldgeneratoren ansehen, die wir montiert haben«, verkündete Lamoureaux. »Vielleicht finde ich doch noch einen Weg, um ihre Kalibrierung zu beschleunigen.«

Hinter seinem Visier runzelte Ty die Stirn. »Das können Sie genauso gut von der Brücke aus erledigen.«

»Na ja, da ich schon mal hier draußen bin, möchte ich ganz gern die Gelegenheit nutzen, die Dinger persönlich in Augenschein zu nehmen«, entgegnete Lamoureaux. Er gab sich so viel Mühe, beiläufig zu klingen, dass Tys Argwohn noch weiter geschürt wurde.

Lamoureaux entfernte sich von ihnen, von den silbernen Haltetauen seines Raumanzugs über die Hülle getragen, einen kleinen Trupp Spinnen-Mechaniker im Schlepp.

»Ty.« Corso tippte gegen die Seite seines Helms. »Gehen Sie bitte auf einen privaten Kanal.«

Mit einigem Zögern wechselte Ty auf eine Eins-zu-Eins-Schaltung mit Corso über.

»Ich möchte mit Ihnen über Nancy reden, Ty. Ich habe erfahren, was mit Ihnen beiden los war.«

Ty klappte den Mund auf und schloss ihn wieder. Fast hätte er alles geleugnet, doch dann gab er nach. »Es begann lange vor unserer Ankunft in Redstone. Ich …«

»Vergessen Sie’s«, schnitt Corso ihm das Wort ab. »Das ist unwichtig. Als ich Ihnen sagte, Sie sollten sich vom Rest der Crew fernhalten, wusste ich nicht, dass Sie früher eine Beziehung mit ihr hatten.«

»Ist sie …?«

»Sie hat es nicht geschafft, Ty. Es tut mir leid.«

Ty nickte in seinem Helm, seine Kehle schnürte sich plötzlich zusammen. »Ich verstehe. Es gab wohl niemals eine reelle Chance, dass sie wieder genesen würde, oder?«

»Nein«, gab Corso zu. »Trotzdem mussten wir alles Menschenmögliche versuchen.«

Ty lauschte seinen eigenen Atemzügen, die sich in seinem Helm laut und nah anhörten. Corso machte eine Bewegung, als wolle er sich abwenden.

»Dann wird es eine Beisetzungsfeier geben?«, fragte Ty.

Corso hielt inne und blickte sich zu ihm um. »Nein. Jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Warum nicht?«, platzte Ty schockiert heraus.

»Momentan ist nicht der richtige Zeitpunkt, um noch mehr von unseren Toten zu begraben. Dazu sind wir zu nah am Ziel. Das Letzte, was die anderen brauchen, ist eine Erinnerung, wie gefährlich dieser Job ist. Es besteht die ganz konkrete Möglichkeit, dass keiner von uns lebend zurückkommt.«

»Aber Sie müssen eine Zeremonie abhalten!«, schrie Ty. »Für Olivarri gab es doch auch eine!«

»Das war etwas anderes!«, schnauzte Corso zurück. »Er wurde ermordet. Nancys Tod ist eine unmittelbare Folge unserer Mission. Wir werden ihr einen würdigen Abschied bereiten, aber erst, wenn das hier vorbei ist.«

»Und die anderen denken genauso?«

»Ich bin nicht hier, um über diese Frage mit Ihnen zu diskutieren. Ich stelle lediglich die Fakten fest.«

»Schön, dass Sie mich informieren«, erwiderte Ty sarkastisch.

»Sie hatte keine Ahnung, wer Sie in Wirklichkeit sind, oder?«

»Irgendwie kam das Thema nie zur Sprache«, versetzte er bissig.

»Ty, haben Sie niemals darüber nachgedacht, was Sie ihr antaten, indem Sie sie so täuschten? Glaubten Sie wirklich, ich hätte Ihnen den Umgang mit der Crew verboten, weil ich Sie bestrafen wollte? Ich habe Menschen hintergangen, die bereit waren, für mich und für diese Mission ihr Leben aufs Spiel zu setzen, indem ich ihnen die Wahrheit über Sie verschwieg. Ich wollte Sie von den anderen fernhalten, um diesen Betrug nicht noch schlimmer zu machen, als er ohnehin schon ist.«

»Ich dachte daran, es ihr zu erzählen«, gestand Ty, »konnte aber den Gedanken nicht ertragen, dass sie mich dann hassen würde.«

Corso gluckste in sich hinein. »Wenn Sie weiter so reden, unterstelle ich Ihnen eines Tages noch so was wie Menschlichkeit.«

 

Wieder an Bord, schlief Ty zehn Stunden lang durch, ehe er mit schmerzenden Muskeln aufwachte; seine Haut juckte fürchterlich von den Druckgeschwüren, die ihm das häufige Tragen des Raumanzugs beschert hatten. Er schleppte sich in die winzige Hygienezelle des Labors, drehte einen Kran auf und sah zu, wie sich am Ende des Hahns ein Ball aus Wasser formte. Nachdem die Kugel ungefähr die Größe einer Faust erreicht hatte, zog er sie vom Kran ab, stieß sein Gesicht hinein und schnappte nach Luft, als die eisige Kälte auf seine Haut traf. Er fühlte sich, als hätte er überhaupt nicht geschlafen.

Es wurde Zeit, sich anzusehen, was die im Labor verteilten Kameras aufgenommen hatten. Doch zuerst wollte er sich einen Drink beschaffen.

Ty konnte an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft er Alkohol zu sich genommen hatte, aber ein Drang, geboren aus Erschöpfung und Kummer, obendrein die Angst, was er entdecken mochte, wenn er die Videobänder prüfte, machten es ihm leichter, mit seiner Gewohnheit zu brechen und diese lebenslange Abstinenz aufzugeben. Er begab sich in ein leeres, hallendes Casino, das sich in der Nähe des Laborkomplexes befand, und frühstückte gefriergetrocknete Cracker und künstlichen Joghurt. Danach stromerte er durch die Küchenzone, bis er die Bar fand, die ihm bereits früher aufgefallen war, und griff aufs Geratewohl ein paar Spritzflaschen mit Wein von unbestimmter Sorte und Qualität heraus.

An einer Flasche brach er den Plastikverschluss auf, die übrigen verstaute er in einer Schultertasche. Er trank ein paar Schluck aus der offenen Spritzflasche, wobei er darauf achtete, den Daumen auf die Öffnung zu drücken, damit der Inhalt nicht in der Schwerelosigkeit herausquoll. Als er den Wein schmeckte, verzog er das Gesicht, aber er trank weiter, bis sich ein angenehm leichtes Gefühl in seinen müden Gliedmaßen und im Kopf ausbreitete.

Zurück im Labor, lud Ty die Videoaufnahmen hoch und ließ sie von Anfang an durchlaufen. Er sah sich selbst, wie er durch das Labor wanderte, um zu kontrollieren, ob die Kameras auch einwandfrei arbeiteten, ehe er sich an die Konsole setzte und anfing, irgendwelche Notizen zu tippen.

Ungefähr eine Stunde des Films spulte er im Schnelldurchgang ab, und danach sah er sich immer noch, wie er, ganz in Gedanken versunken, tippte oder Daten aus den Speichern abrief.

Dabei lagen noch weitere dreißig Stunden Videofilm vor ihm, die er sich anschauen musste.

Seufzend ging er abermals auf Vorlauf; er sah, wie er aufstand und zur anderen Seite des Labors driftete, wo ein spezielles Speichersystem Realzeit-Back-up-Kopien sämtlicher bisher gesammelter Daten beinhaltete.

Ty furchte die Stirn; an diese Handlung konnte er sich definitiv nicht erinnern. Diesen Back-up-Speicher benutzte man nur, wenn etwas mit dem Primärsystem schiefgelaufen war, und in dieser Hinsicht hatte es seiner Erinnerung nach keine Probleme gegeben.

Er änderte den Blickwinkel, damit die Aufzeichnungen einer anderen Kamera es ihm gestatteten, über seine Schulter auf den Monitor über der Back-up-Einheit zu schauen.

Als das Bild herangezoomt wurde, beugte er sich vor; auf der Stirn brach ihm der Schweiß aus, als er auf dem Schirm nichts sah außer scheinbar unverständlichem Müll. Er hatte nicht länger das Gefühl, dass er sich selbst beobachtete; jemand anders betrachtete die Umgebung durch seine eigenen Augen – ein Ungeheuer, das sich in seinem Kopf verbarg.

Er ließ das Videoband laufen und hetzte zu dem Back-up-Speicher, um eine schnelle Suche zu starten. Aber er entdeckte keinen Hinweis, worauf er gerade so angespannt gestarrt hatte; entweder waren die Daten gelöscht oder versteckt worden. Nichtsdestotrotz verbrachte er fast die ganze nächste Stunde damit, immer aggressivere Nachforschungen durchzuführen, die ihn jedoch keinen Schritt weiterbrachten.

Schließlich gab er auf und kehrte an die Konsole zurück, wo das Videoband immer noch lief – und erstarrte.

Sein eigenes Gesicht – das jedoch nichts Menschliches mehr an sich hatte, weil es keine erkennbaren menschlichen Emotionen ausdrückte – füllte den Schirm. Die Augen waren weit aufgerissen und leer, als stiere er auf einen unendlich fernen Horizont. Es schien, als hätte das Monster die Kamera gefunden, die er in einer Nische an der Seite des Speichersystems versteckt hatte, und sich gebückt, um sie näher zu inspizieren.

Im Vorlauf spulte Ty eine weitere Stunde ab. Nichts hatte sich geändert; das Monster kauerte immer noch neben der Speichereinheit und glotzte direkt ins Objektiv. Die erschlafften Gesichtsmuskeln ließen an einen wiederbelebten Leichnam denken. Er – nein, es – musste die ganze Zeit dort gehockt und nur in das Objektiv gestarrt haben.

Ty wusste, dass man ihm dadurch eine Botschaft übermittelte. Kein Wunder, dass er sich fühlte, als hätte er überhaupt nicht geschlafen; denn er war ja tatsächlich wach geblieben.

Er knallte die Handfläche so heftig auf die Konsole, dass es wehtat. Die Videoaufzeichnung verschwand, aber er konnte immer noch sein eigenes Gesicht sehen, diese Verrätervisage, die sich in dem glatten schwarzen Glas spiegelte.

Eilig wandte er den Blick ab. Schlagartig war er wieder nüchtern, beherrscht von einer entsetzlichen Furcht, die ihm eine Gänsehaut verursachte. Er schickte sich an, die verborgenen Kameras wieder einzusammeln, und merkte schnell, dass die meisten – wenn auch nicht alle – fehlten. Die, welche er fand, versteckte er an Stellen, wo sie hoffentlich schwerer zu entdecken waren, dann setzte er sich hin, öffnete noch eine Spritzflasche und begann mit grimmiger Entschlossenheit zu trinken.

 

Anfangs bemerkten die anderen nichts von seinem Zustand, als Ty für seine nächste Schicht auf der Außenhülle in der Luftschleusenbucht auftauchte.

Das war ihm nur recht, denn nachdem er sich die ganze Nacht in einen Vakuumschlauch erbrochen hatte und winzige Hämmer immer noch in einem steten Rhythmus im Inneren seines Schädels pochten, fühlte er sich total ausgelaugt. Nach Konversation stand ihm nicht der Sinn, aber wie es aussah, würde er wieder mit Corso und Lamoureaux arbeiten, die sich die meiste Zeit ohnehin nur miteinander unterhielten.

Die beiden Männer standen sich beinahe Kopf an Kopf gegenüber, schon in eine Diskussion vertieft. Am Eingang, wo sie ihn noch nicht sehen konnten, blieb Ty stehen und lauschte.

»Sie glauben also, wir können noch mehr Daten retten?«, fragte Corso.

»Es besteht die Chance, den Rest der verlorengegangenen Daten aus den Überwachungssystemen zu bergen«, erwiderte Lamoureaux.

»Sie meinen die Überlaufpuffer?«

»Nein.« Lamoureaux schüttelte den Kopf. »Die haben wir bereits gründlich durchkämmt. Aber ein paar der Kernspeicheranlagen können bei einem Notfall als virtuelle Puffer dienen. Also wäre es möglich, dass dort immer noch …«

Lamoureaux blickte zur Seite, entdeckte Ty und unterbrach sich. Corso drehte sich um, und als er ihn sah, runzelte er die Stirn.

Aber Ty war das egal. Er steuerte auf eine der Anzugstellagen zu, während seine Gedanken sich plötzlich überstürzten.

 

Während der nächsten Stunden bekam er ausreichend Gelegenheit, über die wenigen Gesprächsfetzen nachzugrübeln, die er zufällig aufgeschnappt hatte.

Überlaufpuffer.

Er vermutete, dass sie über die Daten sprachen, die während des katastrophalen Systemausfalls verlorengegangen waren; in der Zeit, als die Systeme abgestürzt waren, musste Olivarris Mörder zugeschlagen haben. Offensichtlich gab es einen Weg, wenigstens einen Teil dieser Daten zu rekonstruieren. Was mochte sich sonst noch in diesen Puffern verstecken?

Später, auf dem Rückweg zum Labor, legte Ty wieder einen Halt im Casino ein, als sich in seinem Kopf eine Idee zu formen begann. An einem Schott prangte eine auffallende Dekoration aus Zeremonialwaffen; ein Dutzend lange Messer, wie sie bei Duellen benutzt wurden, waren zu einem Kreis angeordnet, wobei ihre Spitzen nach innen wiesen.

Es kostete ein bisschen Mühe, aber es gelang ihm, ein Messer aus der Halterung zu lösen; dann versteckte er es in seiner Jacke und kehrte ins Labor zurück. Dort waren mehrere Nachrichten für ihn eingegangen, unter anderem ein neuer Schichtplan, zusammengestellt von Willis, der nach Nancys Tod diese besondere Aufgabe übernommen hatte.

Er aktivierte die Back-up-Speichersysteme und grub sich tief in ihre operativen Kerne ein. Ein Anflug von Triumph überkam ihn, als er die Dateien, die er auf dem Video gesehen hatte, zu einem virtuellen Puffer zurückverfolgte, der sich in einem vernetzten Speicher innerhalb eines völlig separaten Teils des Schiffs befand. Die Frage, was diese Dateien enthielten, konnte er noch nicht beantworten; aber jemand hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, sie an einer Stelle zu verstecken, wo weder er noch sonst jemand sie vermutet hätten.

Wieder dachte er an das Monster, das ihn aus seinen eigenen Augen angestarrt hatte, und empfand eine zweite Anwandlung von Triumph: Ich krieg dich noch!

Als Nächstes benutzte er ein Set aus Softwaretools, um den Inhalt der Dateien zu studieren. Er stellte fest, dass es sich um leicht verschlüsselte Kommandostrukturen eines Typs handelte, den er noch nie zuvor gesehen hatte; sie waren sorgfältig modifiziert, um sie an die Imager-Anlage anzupassen, in der der Mos Hadroch immer noch steckte.

Eine Weile betrachtete er das reglose Artefakt, und ihm wurde ein bisschen unheimlich zumute. So einfach konnte das doch nicht sein.

Er verbrachte mehrere Minuten damit, die Kommandostrukturen in die Imager-Anlage zu laden, stellte die Sonden auf Aufzeichnen ein und aktivierte sie.

Was dann geschah, übertraf seine kühnsten Erwartungen. Ein dunkler, stöhnender Laut erfüllte die Luft und modulierte alle paar Sekunden. Der Ton schien tief in seinen Körper und seinen Geist einzudringen, auf eine Weise, die alles andere als angenehm war.

Gleichzeitig schien das Artefakt auseinanderzubrechen – nein, es faltete sich auseinander, aber in einer Art, die seine menschlichen Augen nicht nachvollziehen konnten. Wie gebannt starrte er auf das Objekt, das während der nächsten Minuten größer zu werden schien, wobei seine Form sich nun konstant veränderte und bewegte. Ringsum erschienen juwelenähnliche Splitter, schwebten in der Luft, glitzerten und drehten sich wie ein dreidimensional projiziertes Kaleidoskop.

Ein Icon, das eine eingehende Nachricht anzeigte, blitzte auf, aber er kümmerte sich nicht darum.

Für das, was sich hier vor seinen Augen abspielte, fand er nur eine einzige Erklärung: Der Mos Hadroch musste in mehr als drei Raumdimensionen existieren. Was aussah wie einzelne, voneinander getrennte Splitter, waren vielleicht Komponenten dieses Geräts, die normalerweise nur in jenen anderen, höheren Dimensionen vorkamen, nun jedoch flüchtig zum Vorschein traten.

Das Dröhnen wurde intensiver, drängte sich tiefer in seinen Geist und erschwerte es ihm, klar zu denken. Ungewollt durchlebte er in Gedanken noch einmal wichtige Ereignisse in seinem Dasein, blitzartig und detailliert wie bei einer Halluzination, als zöge der Mos Hadroch sie aus seinem Unterbewusstsein, in dem Versuch, auf eine nicht menschliche Art zu begreifen, wen und was er darstellte.

Eine Maschine, die Urteile fällt. So hatte er damals in Ascension Lamoureaux und Willis das Artefakt beschrieben. Der Mos Hadroch wollte herausfinden, ob er seiner würdig war.

Er durchlebte noch einmal seine Zeit in dem geheimen Forschungs- und Entwicklungskomplex; die Feier, als der von der Legislatur unterstützte Angriff gegen die Uchidanischen Territorien fehlschlug; das Gefühl, verraten worden zu sein, als seine Uchidanischen Herren beschlossen, ihn an die Legislatur auszuliefern.

Trotz seines Entsetzens über das, was mit ihm passierte, lachte Ty. Die Situation entbehrte nicht der Ironie. Er selbst hatte sich unglaublich bemüht, das Artefakt zu verstehen, jedoch ohne Erfolg. Dafür verstand das Artefakt ihn umso besser.

 

Er atmete auf, als der Mos Hadroch sich schließlich wieder in etwas zurückverwandelte, das annähernd seiner normalen Form glich. Derweil hatte sich der fürchterliche Lärm, der die Verwandlung begleitete, ein wenig gelegt.

Ty erinnerte sich an das Zeremonialmesser. Er legte die rechte Hand flach und mit abgespreizten Fingern auf die Konsole und hielt mit der linken die Klinge über den Finger, an dem der Datenring steckte.

Wenn er nur schnell genug handelte, hatte der Ring vielleicht keine Gelegenheit mehr, ein Signal durch sein Nervensystem zu schicken. Er musste nur zuschlagen, ein einziger Hieb, und alles wäre vorbei …

Seine Hand zitterte, als eine Woge aus eiskalter Angst ihn überrollte. Er fing an zu schluchzen und ließ das Messer los, außerstande, diesen Akt der Selbstverstümmelung zu begehen, denn ihm war klar, dass dies seinen Tod bedeuten konnte.

Schließlich tastete er mit seinen bebenden Fingern über die Konsole und stellte sie auf Aufzeichnen, dann fing er an zu sprechen. Er gab sein Bestes, um seine Entdeckung zu schildern und zu erklären, womit sie es seiner Ansicht nach zu tun hatten. Immer wieder verhaspelte er sich, aber er sprach tapfer weiter, obwohl er wusste, dass er ins Plappern geriet, denn er befürchtete, sein Verstand könnte ihm gestohlen werden, ehe er mit seinem Bericht fertig war. Ihm war klar, dass das Monster in seinem Kopf jederzeit zurückkommen konnte.

Ty nahm die Kommandostruktur, die er aufgestöbert hatte, und fügte seine Nachricht und die Videoaufnahmen von der plötzlichen Verwandlung des Artefakts hinzu. Dann verteilte er zahlreiche Kopien über sämtliche Netzwerke des Schiffs. Währenddessen ließ er die Konsole weiter aufzeichnen.

Selbst wenn es dem Monster gelang, ein paar Kopien der Kommandostruktur aufzuspüren, konnte es niemals alle finden oder löschen. Jetzt musste Ty nur noch …

Unvermittelt blitzte ein Licht am Rande seines Blickfelds auf, wie ein Sonnenstrahl, der von Glas reflektiert wird.

Das Monster war aufgewacht.

Ty angelte nach dem Messer und legte wieder die rechte Hand mit abgespreizten Fingern auf die Konsole; in diesem Moment hörte er, wie die schwere Tür hinter ihm aufging. Er festigte den Griff um das Messer und rüstete sich, seinen Finger abzuhacken.

Etwas hinderte ihn daran, und er schrie auf. Er hatte das Gefühl, als hätte sich die Luft rings um ihn verfestigt und blockiere jede seiner Bewegungen.

Er hörte noch, wie jemand seinen Namen rief, doch da kroch das Monster auch schon in seinen Schädel zurück.