Kapitel Sechsundzwanzig

Im Laufe der nächsten Tage staunte Ty, wie schnell sich die üblichen Routinen wieder einstellten. Als Nancy ihn am Abend nach dem Auffinden von Olivarris Leiche unverhofft im Labor besuchte, hatte er ihr selbst dann noch Fragen gestellt, während er sie auszog, bis sie schließlich einen Finger auf seinen Mund drückte, um weitere Erkundigungen zu unterbinden.

Am darauffolgenden Abend lief auch das letzte der ausgefallenen Systeme wieder normal, und Ty wurde dem ersten einer Reihe von Außenbordeinsätzen zugeteilt, um Wartungsarbeiten an der Hülle zu verrichten; in seiner Schicht befanden sich auch Martinez und Perez. Sobald sie draußen waren, steuerte Ty, begleitet von einem halben Dutzend Spinnen-Mechnikern, einen defekten Antriebsdorn in Richtung Heck an.

Er stellte die Klammern auf »Einziehen« und wartete, bis sie sich von dem Dorn abgekoppelt hatten, ehe er die Spinnen aufforderte, diesen aus der Verankerung zu heben. Danach überließ er sie ihrer Arbeit und suchte eilig eine Notluftschleuse in der Nähe auf.

Er kletterte hinein und schloss hinter sich die Luke; kaum hatte sich die Kammer mit Atemluft gefüllt, riss er sich den Helm vom Kopf. Dann aktivierte er das in die Luftschleuse integrierte Komm-Terminal.

Ihm war völlig klar, dass er dabei das größte Risiko einging, ertappt zu werden. Obwohl er eigens eine Luftschleuse ausgewählt hatte, die mit einem Imager-fähigen Terminal ausgerüstet war, konnte das unplanmäßige Tach-Net-Link, das er im Begriff stand zu öffnen, ausreichend Energie abziehen, um einen Alarm auf der Brücke auszulösen. Und dieses Signal ließ sich wiederum bis zu seinem derzeitigen Aufenthaltsort zurückverfolgen. Dennoch war er bereit, dieses Wagnis auf sich zu nehmen.

Er streifte den rechten Handschuh ab und streckte die Hand nach dem Monitor aus, doch dann zögerte er. Er konnte sein Vorhaben abbrechen, wieder nach draußen gehen und mit der ihm zugeteilten Aufgabe weitermachen. Er konnte sein Gespräch mit Olivarri einfach vergessen.

Nein. Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf, wie um seine Ängste zu zerstreuen, und drückte die Handfläche gegen den Schirm, wobei er darauf achtete, dass der Ring, den der Avatar ihm aufgedrängt hatte, mit der Platte in Kontakt kam.

Der Monitor blitzte zweimal auf, um anzuzeigen, dass er den Ring als Imager-kompatibel erkannt hatte. Ty wartete, während das Terminal ein Datenpaket aus dem Ring zog und es in seinen eigenen Arbeitsspeicher eingab. Ein drittes Aufblitzen verriet ihm, dass das Gerät dabei war, eine Kommunikationsleitung zu öffnen.

Wer immer hinter dem Avatar steckte, hatte nicht gelogen, als er den hohen Grad der Verschlüsselung hervorhob. Dieselben Datenpakete hatte Ty schon in die Speicher-Stacks des Labors hochgeladen, ohne die Codierung knacken zu können, obwohl er sich mehrere Tage lang intensiv damit beschäftigte. Aber das war nicht annähernd so wichtig wie herauszufinden, was wirklich gespielt wurde.

Ein paar Minuten lang bewegte er sich in der Kammer, die eng war wie ein Sarg, nervös hin und her, während er angespannt darauf wartete, das das Terminal eine Verbindung herstellte. Ganz kurz öffnete er die Komm-Verbindung seines Raumanzugs, um sich zu überzeugen, was Martinez und Perez taten, doch die beiden diskutierten eifrig über Sport, deshalb kappte er die Leitung wieder und beschränkte sich aufs Warten.

Endlich gab das Terminal einen Glockenton von sich, und es erschien eine Bestätigungsanfrage. Ty tippte auf den Schirm, und im nächsten Moment tauchte derselbe Avater, den er in Unity gesehen hatte, vor ihm auf.

»Mr. Whitecloud«, grüßte ihn die Stimme hinter dem Avatar.

»Es gab noch einen Konsortium-Agenten auf der Mjollnir, und jetzt ist er tot«, schrie Ty übergangslos. »Was zum Teufel geht hier vor? Wie viele von Ihren Leuten befinden sich eigentlich auf diesem Schiff? Und … wie zum Teufel soll ich überhaupt glauben, dass Sie für das Konsortium arbeiten? Welchen Beweis haben Sie mir gegeben?«

Der Avatar sah ihn an, in gelassenem Schweigen und so eindeutig artifiziell, während die sich dahinter verbergende Person versuchte, eine Antwort zu formulieren.

»Wir wissen über Ihr Gespräch mit Leo Olivarri Bescheid«, antwortete die synthetisierte Stimme schließlich. »In Wirklichkeit war Olivarri ein Agent des Freistaatler-Senats, er gehörte nicht zum Konsortium.«

Bestürzt starrte Ty auf den Schirm. Wie konnte es geschehen, dass sie bereits von Olivarris Tod unterrichtet waren? Wie …?

»Quatsch!« Ty schüttelte mehrere Male den Kopf, erst langsam, dann immer heftiger. »Das ist ausgemachter Blödsinn. Ich habe mit ihm gesprochen! Er versicherte mir, er sei ein Konsortium-Agent, und ich fragte ihn, warum er mit mir reden wollte, da Sie mich ja schon kontaktiert hatten. Ihm war völlig schleierhaft, wovon ich sprach. Das war nicht gespielt, ich weiß, dass er mich nicht belogen hat. Er hatte keine Ahnung, wer Sie sein könnten … und dann wurde er ermordet!«

Die nächste längere Pause trat ein, und Ty stellte sich vor, wie die schattenhafte Gestalt, die hinter dem Avatar lauerte, nach einer plausiblen Entgegnung suchte.

»Es ist gut möglich«, äußerte sich der Avatar nach einer geraumen Weile, »dass Olivarris Mörder Sie als sein nächstes Opfer ins Visier nimmt.«

»Nichts von dem, was Sie sagen, ergibt einen Sinn!«, brüllte Ty dem winzigen Bildschirm entgegen. »Wenn er tatsächlich für die Freistaatler arbeitete, wer hat ihn dann umgebracht. Noch ein anderer Konsortium-Agent?«

Mit einer Faust schlug er auf den harten Plastikmonitor ein, und stechende Schmerzen, wie von glühenden Nadeln, zuckten durch seine Fingerknöchel. Sein Atem ging schnell, er hyperventilierte und verbrauchte rasch den begrenzten Luftvorrat in der Schleuse. Vor Frustration fing er an zu schluchzen und spürte, wie heiße, salzige Tränen seine Wangen herunterperlten.

»Hören Sie!«, spuckte er aus, mit beiden Händen die Seiten des Schirms packend, als umklammere er das Gesicht des Avatars. »Zeigen Sie sich! Können Sie mich hören? Sie sollen sich zeigen! Und verraten Sie mir, wer zum Teufel Olivarri getötet hat … und ob Ihr Kontakt mit mir der Grund für seine Ermordung war!«

»Nathan?«

Martinez meldete sich; seine Stimme klang blechern aus Tys abgelegtem Anzug-Helm. Er nahm den Helm und öffnete einen Kanal.

»Wo stecken Sie?«, fragte Martinez. »Ihre Spinnen können wir sehen, aber wir sehen Sie nicht. Sie müssen die ganze Zeit über mit uns in Sichtverbindung bleiben, Nathan.«

»Mir geht’s gut. Tut mir leid«, erwiderte er ein bisschen zu hastig. Er schluckte und zwang sich dazu, ruhig zu klingen, damit die anderen nicht misstrauisch wurden. »Ich bin … ich dachte, ein paar der Antriebsdorne am Heck seien stärker beschädigt worden, als wir zunächst glaubten. Deshalb wollte ich die Schäden lieber persönlich in Augenschein nehmen, nur für alle Fälle. Bin gleich wieder zurück.«

»Alles klar«, erwiderte Martinez, dessen Tonfall Zweifel ausdrückte. »Wir gehen jetzt zu einer Sektion im mittleren Teil der Hülle. Mr. Corso empfängt von dort gerade ein paar Ausfall-Signaturen, und wir sehen uns die Sache mal an. Sie stoßen dann zu uns in … sagen wir fünfhundert Sekunden. Verstanden?«

»Verstanden«, bestätigte Ty und schloss die Verbindung.

Der Avatar war fort, und der Schirm hatte sich schwarz verfärbt. Wenn er Antworten wollte, musst Ty sie sich anderswo besorgen. Er setzte seinen Helm auf, und während er sich in dem engen Raum umdrehte, murmelte er Verwünschungen. Doch dann, gerade als er im Begriff stand, seinen Handschuh wieder anzuziehen, hielt er inne.

Er ließ den Handschuh langsam in der Luft kreisen und streifte den anderen auch noch ab. Danach versuchte er, den Datenring vom Finger zu ziehen.

In dem Moment, in dem er ihn bis zum Knöchel gezerrt hatte, überrollte ihn eine tiefe, kreatürliche Angst wie eine schwarze Woge. Noch schlimmer, der Ring saß sogar noch fester, anstatt lockerer zu werden, was eigentlich der Fall sein sollte, wenn man ihn von der Hand entfernte.

Ty biss die Zähne zusammen und versuchte erneut, den Ring über den Fingerknöchel zu streifen. Schließlich konnte er nicht noch enger werden.

Ein Schlag wie von elektrischem Strom schoss sein Rückgrat hoch, ehe er in seinem Schädel explodierte. Er krümmte sich vor Schmerzen, sein Kopf fühlte sich an, als würde er brennen, und in der Schwerelosigkeit wand er sich wie ein gefangenes Tier.

Als der Schmerz endlich nachließ, drängte sich ihm die Erkenntnis auf, wie gründlich man ihn getäuscht hatte. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Avatar hatte er bereits geargwöhnt, dass man ihn hereinlegte, aber er hatte es so eilig gehabt, aus der Residenz und vor Rufus Weil zu entkommen, dass er nicht auf sein Bauchgefühl achtete.

Das Schlimmster war, dass er sich nun ziemlich genau vorstellen konnte, was sie mit ihm angestellt hatten.

Ty fiel es immer noch schwer, an die Zeit zu denken, als er Militärtechnologien für die Uchidaner entwickelt hatte; ob zwangsverpflichtet oder nicht, er hatte sich so in seine Arbeit hineinziehen lassen, dass es ihm gelang zu verdrängen, welche üblen Konsequenzen diese Forschungstätigkeit für Menschen haben mochte. Ohne große Bedenken hatte er den anderen Wissenschaftlern geholfen, eine Reihe von Instrumentarien zu entwickeln, mit denen man Nervenimplantate angreifen oder manipulieren konnte. Ein ganz spezielles Mittel benutzte das körpereigene bioelektrische Feld eines Menschen als Leiter für Signale, die den Fluss von Informationen in Implantaten steuern oder unterdrücken konnten; doch damit dieser Vorgang funktionierte, musste das Medium, welches das bioelektrische Feld beeinflusste, in ständigem Kontakt mit dem Körper der Zielperson sein. Dies wiederum führte zu der Entwicklung von auf Hardware basierenden neuronalen Feedback-Mechanismen, die das neurochemische Gleichgewicht im Gehirn der Zielperson zu verändern vermochten. Sie bewirkten starke negative Emotionen oder sogar sich steigernde Schmerzen und Verzweiflungsattacken, die letztlich zum Tod führen konnten.

So etwas wie ein billiger Datenring war imstande, all das zuwege zu bringen. Und wer immer hinter dem Avatar steckte, hatte es geschafft, Tys Forschungsergebnisse gegen ihn selbst zu richten.