Kapitel Sechs
Als der Angriff erfolgte, war er schnell, brutal und beinahe tödlich.
Mit der Zeit erkannte Dakota, dass sie es versäumt hatte, den leichten Veränderungen, die in der geborgenen Schwarmkomponente stattfanden, die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen. Erst im Rückblick wurde ihr klar, dass es sich um ein Trojanisches Pferd handelte; die nach außen hin schlichte Struktur tarnte eine Technologie, die viel raffinierter war, als sie auch nur geahnt hatte.
Die Komponente hatte auf Dakotas vorsichtiges Sondieren ihrer Datenbanken reagiert, indem ihre eigenen, verborgenen Fühler tief in die Datenzentren des Sternenschiffs der Weisen eindrangen und sie umschlangen wie eine Hand, die ein lebendiges, schlagendes Herz umklammert. In dem Augenblick, in dem der Schwarm sich gegen Dakota wandte, startete die gekaperte Komponente ihre eigene, hauptsächlich informatorische Attacke von innen.
Dakota wirbelte durch die unendlichen virtuellen Tiefen des Sternenschiffs, entsetzt über den massiven Vandalismus, mit dem die Komponente die Femtotech-Anlagen ihres Schiffs verwüstete, bis sie auf Josefs Geist traf, der auf dem Balkon eines längst zu Staub und Ruinen verfallenen Bibliothek-Komplexes auf sie wartete.
»Sieh dir das an«, sagte er, auf den Himmel deutend.
Dakota legte die Hände auf die Balustrade und schaute in die Richtung, in die er wies. Eine schwarze Virenwolke verdunkelte das Firmament.
Sie spürte eine Anwandlung von Schwäche. »Es gab keine Anzeichen dafür, dass die Komponente auch nur entfernt imstande wäre, einen solchen Anschlag durchzuführen! Wir haben sie von innen und außen analysiert. Es ergibt einfach keinen Sinn!«
Sie wechselte in eine andere virtuelle Umgebung über und merkte, dass Josef sie begleitete. Als sie ihn das nächste Mal ansah, beobachtete sie erschrocken, wie seine Züge plötzlich verschwammen, ehe sie wieder fest umrissene Konturen annahmen.
»Jetzt wissen wir, dass der Schwarm sämtliche seiner Komponenten jederzeit für bestimmte Zwecke umfunktionieren kann«, erinnerte er sie. »Die Komponente, die wir eingefangen haben, stellte sich von dem Moment, in dem wir sie an Bord holten, auf eine neue Aufgabe ein. Wir hätten niemals zulassen dürfen, dass sie mit dem Rest des Schwarms in Verbindung blieb.«
»Aber warum hat sie so lange gewartet?«, wunderte sie sich. »Wieso wurden wir nicht gleich nach unserer Ankunft angegriffen?«
»Die einzig logische Antwort darauf ist, dass der Schwarm uns absichtlich die Daten über den Mos Hadroch übermittelte. Es ist doch auffällig, dass die Offensive erst erfolgte, nachdem Corso uns bestätigte, er hätte etwas entdeckt.«
»Der Schwarm hat uns benutzt, ihm zu helfen, den Mos Hadroch aufzuspüren«, vergegenwärtigte sich Dakota. »Er ist genauso erpicht darauf, ihn zu finden, wie wir.«
»Exakt. Und nun wird er dieses Schiff auseinandernehmen, bis er diese Koordinaten entdeckt.«
Josefs Gesicht begann zu schmelzen; bestürzt wandte Dakota sich ab. Sie fand sich in einer Gegend wieder, die sie noch nie zuvor aufgesucht hatte, und von Grauen gepackt sah sie zu, wie Viren diese Umgebung zerfetzten und sie in ein chaotisches Nichts stürzten, wo früher einmal Land und Himmel gewesen waren.
Sie begab sich in eine neue, stabilere Region, und nach einer Weile gesellte sich Josef abermals zu ihr, obwohl seine Gestalt nur teilweise wiederhergestellt war.
»Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis ich mich total auflöse«, warnte er sie, nun kaum mehr als eine Stimme umgeben von statischen Verzerrungen. Dann veränderte sich das unscharfe Zerrbild und nahm beinahe die Züge anderer Menschen an, die in ihrer Vergangenheit eine Rolle gespielt hatten: Sie erahnte Corso, Severn, sogar ihre Mutter, aus ihren Träumen und Erinnerungen heraufbeschworene Bilder. »Die Datenkerne beginnen sich zu reinigen; als allerletzte Maßnahme schotten sie sich ab. Der Schwarm ist schon fast in die Kommandoebenen des Schiffs eingedrungen. Du musst unbedingt …«
Dakota sah, wie Josef sich ein zweites Mal zu einer Wolke aus bedeutungslosem Rauschen verflüchtigte – und eine Sekunde später war er tot. Sie drang tiefer in die Netzwerke des Schiffs vor und versteckte sich in Bereichen, die vor der Zerstörungswut der Viren noch verschont geblieben waren.
Während der nächsten Tage tobte ein stiller Kampf. Gewaltige Teile der Nervenstruktur des Schiffs wurden vernichtet, doch schließlich veränderte sich das Gleichgewicht der Kräfte, und nach weiteren achtundvierzig Stunden waren die letzten überlebenden Viren isoliert und konnten endlich ausgerottet werden.
Sobald Dakota wieder die totale Kontrolle über ihr Schiff erlangt hatte, katapultierte sie die Schwarmkomponente ins All hinaus.
Sie hatte allenfalls einen Pyrrhussieg errungen. Der Schwarm hatte viel mehr über sie in Erfahrung gebracht als umgekehrt. Nun trieb ihr Schiff, stumm und verkrüppelt, ohne Fahrt durch den Raum, während die Mechanismen zur selbsttätigen Reparatur emsig dabei waren, die schlimmsten Schäden zu beheben.
Hilflos musste Dakota mitansehen, wie der Schwarm rings um sie her eine Phase erneuter Aktivität einleitete. Tausende seiner Komponenten wurden zu Waffen umgebaut, und schon bald näherten sich ihr die ersten in tödlicher Absicht.
Ein Dutzend Kampfjäger-Komponenten prallten gegen die Hülle ihres Schiffs und begannen, sich in das Innere hineinzubrennen und -bohren. Sie dehnte ihren Geist aus und deaktivierte sie, ehe sie zu tief eindringen konnten, aber eine ganze Armee hielt sich bereit, sie zu ersetzen. Ein weiteres Dutzend trennte sich vom Hauptkörper des Schwarms und bereitete den Todesstoß vor.
Sie konnte das Schiff nur durch einen Sprung retten, der es so weit weg wie möglich vom Schwarm brachte, aber die Schlacht um die Kontrolle des Schiffs hatte die Energiereserven aufgezehrt, die es brauchte, um auch nur einen wenige Lichtjahre weiten Sprung zu riskieren. Dann fiel ihr wieder ein, was sie zu Anfang beobachtet hatte: Der Schwarm behielt ständig eine gewisse Distanz zu dem Roten Riesen bei, als hütete er sich, diesem Giganten zu nahe zu kommen.
Für einen weiten Sprung reichte die Energie nicht aus, aber eine sehr kurze Entfernung ließ sich sicherlich überbrücken.
Ehe die nächste Angriffsfront aus Kampfjägern eintreffen konnte, hatte das Sternenschiff genügend Energie aufgebracht, um ein paar Astronomische Einheiten näher an den sterbenden Stern heranzuspringen. Das Sternfeld außerhalb des Schiffs blieb das Gleiche, aber der Rote Riese hatte sich gewaltig aufgebläht.
Ein Sturm aus Transmissionen flackerte durch das Vakuum, in dem das Schiff dümpelte. Dakota wusste, dass sie dem Schwarm nicht entkommen war, aber sie hatte es tatsächlich geschafft, sich eine mehrere Stunden dauernde Atempause zu verschaffen.
Erneut leitete ihr Schiff den Prozess ein, Energie aus dem Vakuum zu ziehen, um sich für den nächsten Sprung vorzubereiten. Derweil befanden sich weitere Kampfjäger-Komponenten im Anflug; krank vor Verzweiflung verfolgte Dakota ihr Näherrücken.
Dem Schiff gelang es, sie abzuwehren, doch erst nachdem seine Antriebsdorne schwere Schäden davongetragen hatten. Nichtsdestotrotz glückte ihm knapp eine Stunde später ein zweiter Sprung.
Dieses Mal nahm der Rote Riese das halbe Universum ein, und der Schwarm hatte sich merklich verkleinert.
Ein paar Millionen Kilometer entfernt orteten die Schiffssensoren eine Gruppe aus mehreren Hundert Schwarmkomponenten, die sich drastisch veränderten. Eine nähere Betrachtung ergab, dass an den Hüllen dieser Komponenten Antriebsdorne befestigt wurden.
Sie rüsteten sich zum nächsten Angriff. Dakota ließ ihr Schiff so dicht an den Roten Riesen heranspringen, bis es sich buchstäblich innerhalb des Sterns befand und ihn an der äußersten Grenze seiner Atmosphäre umkreiste: Ein ausgedünnter, mehrere Tausend Grad Kelvin heißer Nebel. Das Schiff konnte nicht ewig diesen extremen Belastungen standhalten, aber Dakota wusste keinen anderen Ausweg.
Hauptsache, diese Umgebung war für den Schwarm zu heiß, und die Attacken hörten auf.
Im äußeren Universum vergingen Stunden, die sich zu Tagen summierten, und Dakota beobachtete, wie die neu konstruierte transluminale Flotte des Schwarms en masse aus der Nachbarschaft des Roten Riesen heraussprang.
Sie zweifelte nicht daran, dass die Armada geradewegs auf die Koordinaten zusteuerte, die den Standort des Mos Hadroch angaben. Sie selbst hatte von dem Schwarm bekommen, was sie wollte, aber dieser Sieg wurde ihr vergällt durch einen sehr bitteren Nachgeschmack.
Dakota driftete weiter durch die Überreste toter Welten, ihre Gedanken angefüllt mit dem verworrenen Flüstern tödlich versehrter Geister der Weisen, deren Stimmen wie Gespenster durch den Äther irrten, ein kaum verständliches Gebrabbel, das sich im statischen Rauschen verlor.
Es bestand eine geringe Chance, dass sie sich immer noch durch einen weiten Sprung in Sicherheit bringen konnte, ehe der Stern explodierte. Aber da ihr Sternenschiff durch die geballten Angriffe des Schwarms massiv in Mitleidenschaft gezogen war, gab es keine Garantien, dass es den Versuch überstehen würde. In ihr nahm langsam eine Idee Gestalt an: Sie wollte die restlichen Energiereserven dazu benutzen, eine Warnung nach Ocean’s Deep zu schicken.
Es war eine der schwierigsten Entscheidungen, die Dakota je hatte treffen müssen, aber sie gelangte schnell zu einem Entschluss. Sie feuerte einen einzigen hochenergetischen Stoß aus kohärenten Daten über die gigantische Entfernung der Galaxie hinweg in Richtung Ocean’s Deep, ein Vorgang, der ihr Sternenschiff beinahe antriebslos durchs All driften ließ.
Und dann, im Verlauf der nächsten Stunden und Tage, passierte etwas höchst Seltsames. Dakota merkte, dass das Sternenschiff angesichts seiner unvermeidbaren Vernichtung spontan sämtliche Bemühungen einstellte, sich selbst zu reparieren. Aus Gründen, die sie noch nicht verstand, schickte es sich stattdessen an, die überall verstreuten Fragmente ihres Geistes, die durch den Vandalismus des Schwarms nicht beschädigt oder zerstört worden waren, zu reintegrieren.
Während dieser Zeit trat der Rote Riese in eine Periode erhöhter Aktivität ein und schleuderte gewaltige flammende Plasmafontänen ins All hinaus. Unterdessen registrierte ihr Schiff enorme Veränderungen bei den Hitzeströmen im Herzen des Sterns. Es blieben vielleicht nur noch wenige Stunden, bis der Stern endgültig kollabierte und schrumpfte, um dann seine äußeren Schichten abzusprengen. Für einen kurzen Sprung reichte die Energie des Schiffs aus, aber Dakota war sich bereits darüber im Klaren, dass sie vor dem Nova-Ausbruch nicht flüchten konnte.
In den letzten Augenblicken, ehe das Ende eintrat, fand Dakota sich in einem Raum volle Objekte wieder, die Spiegeln glichen – Spiegel, die das Licht aus mehr räumlichen Dimensionen auffangen konnten, als ihr Geist zu begreifen imstande war.
Sie sah Reflexionen von sich selbst, von anderen Leben, die sie hätte führen können, wenn sie an entscheidenden Wendepunkten eine bestimmte Wahl getroffen hätte. Diese Spiegelbilder waren bestenfalls nebulös, zeigten Utopien und nie Dagewesenes, gewährten Einblicke in Welten, die niemals so konkret wurden, um real zu erscheinen.
Dakotas Aufmerksamkeit richtete sich insbesondere auf eine dieser Visionen, die deutlicher war als alle anderen. Sie sah sich selbst, wie sie vor dem Angriff durch den Schwarm gewesen war, als die meisten ihrer Erinnerungen noch intakt waren.
Sie bekam keine Gelegenheit mehr herauszufinden, warum das Schiff sie mit diesen Bildern konfrontierte. Der Rote Riese suchte sich diesen Moment aus, um zu kollabieren und entlud seine gesamte Energie in einer ungeheuren Explosion, die irgendwann einmal in der ganzen Galaxis zu sehen sein würde.
In den letzten Momenten ihres wachen Bewusstseins, ehe die Wellenfront das Schiff zerfetzte, sah Dakota, wie die Milliarden Schwarmkomponenten, die der sich ausbreitenden Woge am nächsten waren, plötzlich fokussierten und die explosive Energie der Nova in einer Weise lenkten, die ihr Begriffsvermögen überstieg.
Ein paar Sekunden später war von Dakota oder dem Sternenschiff nichts mehr übrig. Es gab nur noch einen Wirbel aus ultraheißem Plasma, der sich immer weiter ausdehnte.