Kapitel Vier

Beim nächsten Mal suchten ihn andere Befrager auf.

Der erste, der Tys Zelle betrat, war mittleren Alters, hatte eine Stirnglatze, und um seine Ohren kringelten sich ein paar schüttere Haarsträhnen. Ein jüngerer Mann, dessen Schädel kahlrasiert war, schloss hinter sich die Tür. In seinem streng geschnittenen Anzug mit dem Stehkragen sah der Ältere aus wie ein Staatsbeamter. Sein Begleiter war salopper gekleidet.

»Ich bin Rex Kosac«, stellte der Ältere sich vor, als Ty sich von der schmalen Plastikbank erhob, die ihm als Bett diente. »Und mein Kollege hier heißt Horace Bleys.«

Ty beäugte sie misstrauisch und versuchte, die dünne Papieruniform zu richten, die man ihm zum Anziehen gegeben hatte. »Sie gehören aber nicht zum Personal dieser Einrichtung, oder?«

Bleys blickte sich in der winzigen Zelle um und rümpfte die Nase; vielleicht bemerkte er den Gestank von Reinigungsmitteln und Urin, der an jeder Oberfläche haftete. Seine eingedrückte Nase, die dicken, muskulösen Hände und der generelle Eindruck von kaum unterdrückter Aggressivität ließen den Schluss zu, dass er Kosacs Bodyguard war.

»Ganz im Gegenteil, Mr. Whitecloude, ich leite diese Institution«, antwortete Kosac.

Ty setzte sich gerader hin. »Als man mich hierherbrachte, sagte man mir, ich würde binnen weniger Tage offiziell einem Richter vorgeführt.«

Kosac schüttelte traurig den Kopf. »Deshalb bin ich nicht hier, Mr. Whitecloud. Ich wollte nur die Chance nutzen, Ihnen noch einmal zu begegnen, bevor Sie …« Er schielte zu Bleys hinüber und lächelte, als hätte er im allerletzten Moment gemerkt, dass er im Begriff gestanden war, sich zu verplappern. »Nun ja, Sie sind in der Tat unser berühmtester Insasse.«

Ein Hubschrauber überflog das Gefängnis, und am Geräusch der Rotoren erkannte man, dass er auf dem nahe gelegenen Landeplatz niederging. Der Lärm, den Männer veranstalteten, die einander durch Zurufe verständigten, und das Rattern der draußen vorfahrenden Trucks drangen bei Tag wie bei Nacht gedämpft herüber.

»Wollen Sie wissen, wieso wir Sie so schnell gefunden haben?« , fragte Kosac, dessen Grinsen zunehmend hässlicher wurde.

Ty räusperte sich; sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, und das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich vermute, der Grund dafür war die Blutprobe.«

Kosac zog die Stirn kraus. »Blutprobe?«

»In der Klinik entnahm mir eine Ärztin eine Blutprobe. Ich dachte, man hätte routinemäßig ein Genprofil erstellt und es mit einer Probe verglichen, die man von mir genommen hat, ehe es dazu kam, dass die Uchidaner mich überstellten.«

Nun verstand Kosac; man sah förmlich, wie ihm ein Licht aufging. »Ah! Jetzt habe ich kapiert, was Sie meinen. Nein, es war alles ganz anders. Vor ein paar Monaten griffen wir eine Freundin von Ihnen auf. Ilsa Padel … Sie kennen sie doch, oder?«

Ty nickte; ein entsetzliches Gefühl der Ohnmacht überkam ihn.

»Zusammen mit einer Gruppe Flüchtlinge versuchte sie, das Kernschiff zu verlassen. Fast wäre sie an uns vorbeigeschlüpft, bevor wir ihre Identität ermitteln konnten. Sie erwies sich als sehr hilfreich, als man ihr anbot, uns für ein paar Hafterleichterungen die Namen von wichtigen Mitgliedern aus General Peraltas Führungsclique zu nennen. Selbst ohne diese Blutprobe, Mr. Whitecloud, wäre es so oder so nur eine Frage der Zeit gewesen, bis wir Sie dingfest machen konnten. Aber sich auch ausgerechnet in der Klinik zu verstecken! Tja«, Kosac schüttelte wie besorgt den Kopf, »damit haben Sie es uns ziemlich leichtgemacht, nicht wahr?«

Ty sackte mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich verstehe.«

Ilsa. Nur wenige andere Menschen hätten die Möglichkeit gehabt, ihn so gründlich zu denunzieren. Außer ihr kannte lediglich Peralta seine wahre Identität. Ty spürte, wie eine Welle der Bitterkeit und Melancholie in ihm aufstieg, als er daran dachte, wie verzweifelt er nach Ilsa gesucht hatte, nicht ahnend, dass sie bereits für eine bequemere Zelle oder einen kürzeren Haftaufenthalt Verrat an ihm begangen hatte.

 

Im Morgengrauen hatte er einen ersten Blick auf die Kasernen geworfen. Den blockförmigen Gefängnisbau hatte man in eine Ecke des großen, eingezäunten Komplexes gezwängt, in der das im Kernschiff ständig präsente militärische Kontingent des Konsortiums stationiert war. Mit schweren Waffen bestückte Rover-Einheiten umgaben das Lager, während Versorgungstrucks und Transporter pausenlos eintrafen und abfuhren. In den Korridoren wimmelte es von Soldaten in schwarzen Uniformen, die ihre Gesichter meistens nicht hinter Visieren verbargen.

In der ersten Nacht in seiner Zelle war er fest davon überzeugt, dass er den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Das einzige Fenster über der Toilettenschüssel ging auf einen Hof hinaus, der von einer hohen Betonmauer umgeben war. Ein automatischer Geschützturm, ausgerüstet mit Infrarotsensoren und Bewegungsmeldern, stand auf einem skelettartigen Dreifuß in einer Ecke des Hofs, der ansonsten vollgestopft war mit Paletten, die Notvorräte enthielten; zwischen diesen Stapeln hatte man schmale Durchgänge freigehalten.

Ty hatte beobachtet, wie Wachen drei zerlumpt aussehende Burschen an dem Labyrinth aus Paletten vorbeischleiften, bis sie das Ende der Mauer erreichten. Einer der Soldaten hielt in schneller Folge seine Pistole an die Hinterköpfe der Männer und erschoss sie mit brutaler Effizienz. Bei jedem Schuss gab die Waffe einen dumpfen, tiefen Knall von sich, den Ty mehr fühlen als hören konnte.

Kurz danach hatte er sich auf die Plastikbank fallen lassen und den Rest der Nacht darauf gewartet, dass er an die Reihe käme. Er stellte sich vor, wie der eisige Wind sein Gesicht peitschte, wie die Kabelbinder seine Handgelenke wundscheuerten, und dass das Letzte, was er sah, die rissige Betonmauer wäre, ehe ein einziger Schuss seinen Hinterkopf zerschmetterte. Doch stattdessen überlebte er den nächsten Tag, und desgleichen die darauf folgenden. Doch in jeder Nacht wiederholte sich dasselbe Drama: Eine oder mehrere Gestalten wurden in den hinteren Teil des Hofs bugsiert und hingerichtet. Aber niemand kam, um ihn abzuholen.

Bis jetzt.

 

Kosac trat ans Fenster und spähte hinaus. »Sagen Sie«, fragte er, »wie kam es dazu, dass Sie sich mit den Uchidanern eingelassen haben? Wuchsen Sie nicht in der Freien Demokratischen Gemeinschaft auf?«

»Ich wurde auf einer Farm groß, Mr. Kosac. Mein Vater wurde auf Befehl eines korrupten Senators ermordet, und ich musste tatenlos zusehen, wie eine komplette landwirtschaftliche Anlage und mehrere Tausend Morgen Land, alles, was ich einmal erben sollte, meiner Familie gestohlen wurden.« Er zuckte mit den Schultern. »Danach fiel es mir leicht, die Seiten zu wechseln.«

»Ich verstehe.« Kosac rückte vom Fenster ab. »Ursprünglich hatten Sie eine Ausbildung in Biotechnologie, aber dann wechselten Sie den Beruf. Warum?«

»Nachdem ich mich auf das Territorium der Uchidaner begeben hatte, fing ich an, mich für die Atn zu interessieren. Immerhin stellen sie eine Form von extremer Biotechnologie dar. Sie sind nicht das Produkt einer Evolution, sondern eine künstlich konstruierte Spezies, deshalb musste ich mich beruflich nicht groß umorientieren. Ich erhielt ein Forschungsstipendium, für das das Konsortium aufkam, und machte mir einen Namen, indem ich die Atn studierte. Meine Arbeit führte mich kreuz und quer durch den von Menschen bewohnten Teil des Weltraums, und ich verbrachte viele Jahre fernab von meiner Heimat. Doch als sich dann abzeichnete, dass sich ein Krieg mit den Freistaatlern nicht verhindern ließ, wurde ich in die Abteilung Territoriale Forschung und Verteidigung einberufen, als ich schließlich zurückkehrte.«

»Und wegen Ihres Glaubens an Gott erfüllten Sie Ihre Pflicht?«

Ty bedachte ihn mit einem müden Blick. »Der Uchidanismus hat nichts mit Glauben zu tun, Mr. Kosac. Er befasst sich vielmehr mit exakter Logik und unabänderlichen mathematischen Wahrheiten.«

»Na so was«, erwiderte Kosac gleichgültig. »Vielleicht könnten Sie mir das mal näher erklären.«

»Das möchte ich lieber nicht.«

Kosac nickte seinem Begleiter kurz zu. Bleys trat vor, krallte seine Finger in Tys Haar und knallte seinen Kopf gegen die Wand, an der er saß. Ty stöhnte und rutschte von der Bank auf den Boden. Er schmeckte Blut, weil er sich in die Zunge gebissen hatte.

»Tun Sie mir den Gefallen«, forderte Kosac ihn auf.

Die beiden Männer warteten, während Ty sich auf die Sitzbank zurückhievte. Aus seinem Mundwinkel tröpfelte Blut, und Bleys reichte ihm ein Taschentuch. Ty nahm es und presste es an die Lippen, bis er wieder sprechen konnte.

»Uchidanismus ist … also, Uchidanismus basiert auf objektiver Beobachtung und statistischer Wahrscheinlichkeit.«

»Was für Wahrscheinlichkeiten?«

»Dass das Leben, allein aufgrund seiner Beschaffenheit, immer danach trachtet, sich in einem Universum zu erhalten, das endlich ist, und dass das ultimative Ziel einer technologischen Entwicklung darin besteht, die grundlegendsten Gesetze, welche die Natur beherrschen, direkt zu manipulieren.«

Ty schluckte wieder. Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus; es war lange her, seit er sie auswendig gelernt hatte, doch er hatte nichts vergessen. »Es gibt gute Gründe zu glauben, dass wir nicht in dem ursprünglichen, dem Originaluniversum leben, sondern in einer Simulation, die womöglich nur eine von vielen ist. Auf das Wesentliche reduziert ist die Realität im Grunde nichts anderes als ein Ausdruck verschiedener mathematischer Formeln; und hat man erst einmal diese simple Wahrheit akzeptiert, leitet sich zwangsläufig daraus ab, dass unsere Welt ihre Existenz nur einem bewussten Schöpfungsakt verdankt.«

»Sie enttäuschen mich, Mr. Whitecloud.« Ty sah zu Kosac hinauf. »Ich weiß nicht viel über den Uchidanismus, aber ich habe meine ganz persönliche Vorstellung von Glauben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir für alles, was in dieser Welt geschieht, in der nächsten bezahlen müssen.«

Bleys hatte sich ein wenig abgewandt und hob eine Hand an seine Schläfe. Zum ersten Mal bemerkte Ty, dass der Mann einen Kommunikationsknopf im Ohr trug.

Ty richtete den Blick wieder auf Kosac. »Wieso stellen Sie mir diese Fragen?«

»Weil ich vermutlich die letzte Person bin, mit der Sie sprechen werden, und ich wollte wissen, was für ein Typ Mensch solche Sachen macht, wie Sie sie verbrochen haben.«

Finger aus Eis umklammerten Tys Herz. »Mir wurde zugesagt, dass ich eine ordentliche Gerichtsverhandlung bekomme. Man will mich aus dem Kernschiff wegbringen, damit ich unter Anklage gestellt werden kann.«

Kosac lächelte traurig. »In einer weniger unvollkommenen Welt hätte man Ihnen dies vielleicht sogar gewährt.«

»Sir?«, meldete sich Bleys, und Kosac wandte sich ihm zu. »Wir haben eine Nachricht erhalten, dass die Leute der Friedensbehörde hierher unterwegs sind. Ich denke, wir sollten uns beeilen.«

Die Eiseskälte breitete sich tief in Tys Eingeweiden aus. »Ich bin für Sie viel zu wertvoll, als dass Sie mich einfach erschießen könnten«, krächzte er.

»Oh nein, Mr. Whitecloud, eine zweite Chance zur Flucht werden wir Ihnen nicht gewähren.«

Ty starrte die beiden Männer abwechselnd an. »Flucht?«

Im nächsten Moment tauchten zwei Wächter an der Zellentür auf, bewaffnet und mit heruntergeklappten Helmvisieren. Und Ty begriff, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand.

 

Die beiden Wächter betraten die Zelle und schleiften Ty nach draußen auf den Korridor, wo einer ihm einen Elektroschocker in die Kniekehle rammte. Er brach zusammen und landete auf Händen und Füßen. Ein zweiter Schlag schickt ihn flach auf den Boden.

Dann verdrehte man seine Arme schmerzhaft hinter den Rücken, und er spürte, wie die Kabelbinder um seine Handgelenke befestigt wurden. Jemand riss ihn in die Höhe und stieß ihn zu einem Service-Aufzug am hinteren Ende des Ganges. Die Beine gaben unter ihm nach, doch die Wächter packten ihn von beiden Seiten und zerrten ihn einfach mit.

Sie schubsten ihn in den Lift hinein, zwangen ihn niederzuknien, und als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, schleiften sie ihn hinaus. Es gelang Ty, den Boden unter den Füßen wiederzufinden, während man ihn zu einer Stahltür beförderte, vor der dieser Korridor endete. Durch die Ritzen der Tür drang ein dünner, aber eiskalter Luftzug, der den Geruch nach eingeöltem Metall und Fäulnis mit sich brachte. Einer der Wächter trat vor und öffnete die Tür, die aufschwang und den Blick auf einen Stapel Paletten freigab.

Ty biss auf die Zähne, als der eisige Luftschwall ihn traf, und versuchte sich zusammenzukrümmen; seine Papieruniform bot ihm so wenig Schutz vor der Kälte, dass er genauso gut hätte nackt sein können.

Er merkte, dass er weinte, während sie ihn auf den Hof hinauszerrten und stießen. Alles schien ein wenig weiter wegzurücken, als sähe er die Welt aus einer gewissen Entfernung, wie jemand, der sich auf eine Zuschauerrolle beschränken muss, anstatt selbst handelnd eingreifen zu können.

Sie schleiften ihn zu der Mauer, die den Hof am äußersten Ende begrenzte. Mittlerweile war er nahe genug herangekommen, um auf dem Boden vor der Mauer die dunklen Flecken auszumachen. Zum ersten Mal gewahrte er zu seiner Rechten eine in die Mauer eingelassene Tür; von seinem Zellenfenster aus hatte er sie nicht sehen können, weil aufeinandergetürmte Kisten den Blick versperrten. Die Tür stand offen, und draußen auf der Straße parkte ein Militärtransporter. Neben der Tür stritt sich ein Wachposten, das Visier hochgeschoben, mit zwei Männern, die zu gesund und wohlgenährt aussahen, um aus Ascension zu stammen.

Einer hatte sich eine dicke Wollmütze über seinen stoppeligen Schädel gestülpt, aber Ty bemerkte trotzdem die unregelmäßigen Furchen und Höcker, die den Schädel entstellten und ihn als einen Maschinenkopf kennzeichneten. Er war groß und schlaksig, und seine Miene drückte Besorgnis aus; sein Begleiter hingegen war klein, aber von drahtiger, athletischer Statur. Dieser Mann fasste Ty ins Auge, sowie er ihn zu Gesicht bekam.

»Das ist er«, hörte Ty seine Stimme aus dem nie endenden Krach und Tumult heraus. Der Maschinenkopf blickte zuerst auf seinen Gefährten, dann auf Ty. Gleichzeitig drängten sie sich an dem Wachposten vorbei, mit dem sie diskutiert hatten, und steuerten geradewegs auf ihn zu.

»Hey!«, brüllte der Wachposten, riss sich das Gewehr von der Schulter und lief ihnen hinterher. »Was fällt Ihnen ein …«

»Sie können mich mal!«, schnauzte der Begleiter des Maschinenkopfs, blieb kurz stehen und funkelte den Wachposten wütend an. »Was passt Ihnen an unserer Legitimierung nicht? Haben Sie ein Verständnisproblem?«

Tys Bewacher waren bei dem Aufruhr stehen geblieben, doch dann schienen sie zu einem unausgesprochenen Konsens zu gelangen und fuhren fort, ihn in Richtung der Wand zu bugsieren.

»Hey, stehen bleiben!«, brüllte der kleine, muskulöse Mann. »Keinen einzigen Schritt weiter, verdammt nochmal! Haben Sie mich gehört?«

»Wir haben Befehle«, knurrte einer von Tys Bewachern. »Wenn Sie damit nicht klarkommen, beschweren Sie sich bei Direktor Kosac.«

»Oh, genau das haben wir vor«, entgegnete der andere Mann und kam näher. »Sie!«, Er schwenkte herum und wandte sich an den Wachposten, der versucht hatte, sie aufzuhalten. »Erklären Sie denen, wer ich bin.«

»Commander Willis, Sir«, erwiderte der Wachposten mit sichtlichem Zögern. »Der Sicherheitschef von Ocean’s Deep.«

»Und deshalb gehöre ich zu den Leuten, die für die gesamte Hilfsoperation hier draußen verantwortlich sind. Im Klartext heißt das«, fuhr er fort, dicht an die Männer heranrückend, die Ty exekutieren wollten, »dass Sie exakt das tun werden, was ich Ihnen sage. Und jetzt zur Sache«, fuhr er ruhiger fort, einen versöhnlichen Ton anschlagend, der signalisieren sollte, dass man sich hier ja unter Freunden befand. »Wir nehmen diesen Burschen zum Verhör mit.« Er streifte Ty mit einem flüchtigen Blick. »Sie sind doch Ty Whitecloud, ist das richtig?«

Ty brachte ein Nicken zustande.

»Unsere Befehle lauten anders, Sir«, beharrte einer von Tys Bewachern. »Man hat uns aufgetragen, ihn unverzüglich hinzurichten.«

»Wer hat Ihnen diese Order gegeben? Direktor Kosac?«

Ty schielte zur Seite und bekam gerade noch mit, wie der Mann mit dem Kopf nickte.

»Nun, Direktor Kosac kriegt einen deftigen Tritt in den Arsch, der ihn den ganzen weiten Weg aus Ascension hinausbefördern wird. Demnächst darf er dann an einem Ort Dienst schieben, der seinen Job hier wie einen Erholungsurlaub aussehen lässt.« Willis grinste breit. »Und wenn Sie mir jetzt nicht aufs Wort gehorchen, und damit meine ich, dass Sie meine sämtlichen Anweisungen buchstabengetreu befolgen, dann sorge ich dafür, dass Sie ihm an seiner neuen Stelle Gesellschaft leisten. Und nun«, fügte er hinzu, auf Ty deutend, »da Sie unsere Beglaubigungsschreiben bereits gesehen haben, schlage ich vor, dass Sie sich bedingungslos fügen, ehe Sie die Situation noch weiter verschärfen.«

Ty merkte, wie sich der Griff um seine Schultern ein paar Sekunden lang verstärkte, dann jedoch lockerer wurde.

»Sir«, äußerte einer seiner Wächter, ehe er ihn ganz losließ.

»Hier entlang«, kommandierte Willis, packte Tys Ellenbogen und führte ihn zu dem wartenden Fahrzeug.

Ty folgte ihm wie betäubt, während der Maschinenkopf ihn auf der anderen Seite flankierte.

»Mr. Whitecloud«, begann der Maschinenkopf und beugte sich ein wenig zu ihm vor, um mit ihm zu sprechen. »Ich bin Ted Lamoureaux, und Sie haben nochmal verdammtes Glück gehabt. Ich hoffe, allein schon aus Dankbarkeit werden Sie so kooperativ sein, wie wir es von Ihnen erwarten.«

Lamoureaux tippte auf eine Tafel an der Seite des Transporters, eine Tür glitt auf, und von drinnen schlug ihnen ein warmer Luftstrom entgegen. Ty atmete den Duft von eingefettetem Leder und billigem Kunststoff ein und spürte, wie in seinen Augenwinkeln Tränen brannten.

Mit einer Geste bedeutete ihm Lamoureaux, er solle einsteigen.

»Meine Hände«, erklärte Ty. »Bitte.«

»Scheiße«, hörte er Willis hinter sich murmeln, und einen Augenblick später fühlte er, wie die Kabelbinder von seinen Handgelenken abfielen. Er nahm die Arme wieder nach vorn, zuckte bei den Schmerzen in seinen Schultern zusammen und kletterte in den Transporter hinein.

Drinnen war es eng, und nach der klirrenden Kälte draußen kam ihm die Luft heiß und stickig vor. Es gab zwei gegenüberliegende Sitzbänke; auf einer nahm Ty Platz, auf der anderen Lamoureaux und Willis. Gleich darauf setzte sich das Vehikel in Bewegung.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte Ty.

»Tja, das hängt ganz davon ab, wie kooperativ Sie sein wollen«, erwiderte Lamoureaux.

»Es fiel so eine Andeutung, dass jemand mich abholen käme, aber Kosac sagte auch, dass er mir keine zweite Chance zu einer Flucht gewähren würde.«

Er sah, wie die beiden Männer Blicke tauschten.

»Na so was«, murmelte Willis. »Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, diesen schäbigen Dreckskerl bis zum Hals in Scheiße einzugraben.«

»Mr. Whitecloud«, hob Lamoureaux in sachlichem Ton an, »sagt der Ausdruck ›Mos Hadroch‹ Ihnen etwas?«

Ty nickte bedächtig. »Das ist ein Begriff der Atn. Eine Transkription, basierend auf einer Analyse uralter Audio-Aufzeichnungen dieser Rasse. Er bezeichnet eine Maschine, die Urteile spricht, also richtet.«

»Und Sie haben sich vor einigen Jahren den Namen ›Nathan Driscoll‹ zugelegt, stimmt’s?«, hakte Lamoureaux nach.

Wieder nickte Ty, unschlüssig, wie viel er zu diesem Zeitpunkt zugeben sollte.

»Vorläufig sollten Sie diese Identität beibehalten«, meinte Willis. »Beruflich scheinen Sie ja ein recht bewegtes Leben geführt zu haben. Sie betätigten sich auf mannigfachen Gebieten, ist es nicht so?«

Ty zuckte unbehaglich mit den Schultern, behielt jedoch sein Schweigen bei.

Lamoureaux’ Blick verschwamm vorübergehend. Er nimmt Zugriff auf irgendwelche Daten, vergegenwärtigte sich Ty.

Dann blinzelte er und fixierte Ty. »Sie haben ein Implantat«, bemerkte er.

»Das können Sie erkennen?«, wunderte sich Ty.

Lamoureaux schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl mich das nicht an dem Versuch hindern würde, es herauszufinden. Aber der Vermerk steht in Ihren Akten. Ist es noch aktiv?«

»Nein«, gab Ty zu. »Die Uchidanischen Behörden legten seine höheren Funktionen lahm, bevor man mich an die Legislatur ausliefern wollte. Eigentlich müssten Sie wissen, dass die Uchidanischen Implantate anders programmiert sind als die der Maschinenköpfe. Sie sind nicht für eine spontane Vernetzung konzipiert.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Mr. Whitecloud.«

»Warum stellen Sie mir Fragen bezüglich der Atn? Bis auf ein paar wenige unterfinanzierte Universitätsabteilungen interessiert sich doch keiner für sie.«

Lamoureaux reagierte darauf, indem er unter dem Sitz neben ihm einen Koffer hervorzog. Er öffnete ihn, zog ein Bündel Ausdrucke heraus und gab sie Ty.

»Können Sie damit was anfangen?«, fragte er.

Ty studierte die Dokumente ein, zwei Minuten lang, ehe er wieder hochblickte. »Das hier sind die Spiralformen der Wandglyphen, die man in fast jeder Zweigwelt der Atn gefunden hat«, erklärte er. Ein Satz Glyphen – eine Sichel neben einem Kreis, beide mitten im Zentrum einer engen Spirale aus Linien und Schnörkeln – war ihm auf Anhieb vertraut. »Wenn Sie bloß darauf aus waren, diese spezielle Atn-Zweigfamilie zu identifizieren, dann hätte ich Ihnen weiterhelfen können, sowie Sie nur den Begriff ›Mos Hadroch‹ aussprachen.« Mit dem Finger tippte er auf die Sichel und den Kreis. »Das ist das Kennzeichen für Crescent-over-Moon. Der einzige Zweig, mit dem dieser Terminus assoziiert wird.«

Gespannt beugte sich Willis vor. »Was genau ist ein ›Zweig‹?«

»Die Atn bilden Clans oder Zweige, die man anhand geringer Abweichungen in ihren Schriftsprachen bestimmen kann. Dabei scheinen sich die einzelnen Clans stark voneinander zu unterscheiden, und eine Kontaktaufnahme zwischen ihnen kommt nur sehr selten vor.«

Lamoureaux starrte ihn wie gebannt an. »Uns interessiert, ob der Mos Hadrock ein konkretes Artefakt ist, Ty. Können Sie uns mehr darüber verraten?«

Eine Welle aus Müdigkeit schwappte über Ty hinweg. Er hatte festgestellt, dass ein Leben in ständiger Angst einen ungeheuren Kräfteverschleiß bewirkte. »Hören Sie, Mr. …«

»Lamoureaux.«

»Mr. Lamoureaux, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mich vorhin gerettet haben. Aber was passiert, nachdem ich Ihre Fragen beantwortet habe? Wenn Sie alles aus mir rausgeholt haben, was Sie wissen wollen … bringen Sie mich dann wieder zurück, damit ich hingerichtet werde?«

»Nein«, betonte Willis. »Jetzt unterstehen Sie unserer Jurisdiktion, aber wir müssen Sie trotzdem aus Ascension herausbringen, bevor Kosac oder seinesgleichen einen Weg finden, das zu verhindern. Als Gegenleistung verlangen wir von Ihnen Ihre volle und bereitwillige Kooperation. Sollten wir den Eindruck gewinnen, dass Sie uns hinhalten oder auch nur ein einziges Mal belügen – nun ja, dann verfrachten wir Sie umgehend wieder dorthin, wo wir Sie hergeholt haben.«

»Warum ist es denn so wichtig für Sie, Informationen über den Mos Hadroch zu bekommen?«

»Lassen Sie uns doch damit anfangen, dass Sie uns ganz genau erklären, was es mit diesem Ding Ihrer Ansicht nach auf sich hat.«

Der Transporter fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch eine Reihe von Kurven, und die drei Männer wurden hin und her geschleudert. Wer immer auf dem Fahrersitz saß – vorausgesetzt, das Vehikel wurde nicht automatisch gesteuert –, hatte es eilig, ans Ziel zu gelangen.

»Ich sagte, es handele sich um eine Maschine, die Urteile fällt, aber das Bestimmungswort ›Mos‹ kann ebenso gut ›Waffe‹ als auch ›Maschine‹ bedeuten. Die Atn sind dafür berüchtigt, dass sie alles andere als mitteilungsfreudig sind, und leider hat das zur Folge, dass wir zumeist auf Spekulationen angewiesen sind.«

»Es gibt wissenschaftliche Referate, in denen die Vermutung geäußert wird, der Mos Hadroch sei eine Art Gottheit.«

Ty gab einen verächtlichen Laut von sich. »Das ist Laroques Idee. Der Mann spinnt. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass die Atn unser Konzept von Göttlichkeit überhaupt kennen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich empfindungsfähig sind, jedenfalls nicht einer Weise, die wir verstehen können. Allerdings stimme ich mit Laroque darin überein, dass sie eine Art künstliche Spezies sein müssen, aber ob sie aus einem bestimmten Grund erschaffen wurden, ist nicht mehr nachvollziehbar. Entweder ging das Wissen darum im Laufe der Zeit verloren, oder sie wollen es einfach vor uns verheimlichen. Sämtliche Anzeichen deuten darauf hin, dass sie sich seit Millionen von Jahren nicht weiterentwickelt oder signifikant verändert haben. Sie gleichen mehr intelligenten, Raumfahrt betreibenden Termiten als jeder anderen bekannten Spezies.«

Mit einem jähen Ruck kam der Transporter zum stehen, und Ty rutschte beinahe von seinem Sitz. Klappernd öffnete sich die Ausstiegsluke, und Lamoureaux stieg als Erster aus. Willis bedeutete Ty, dem Maschinenkopf nach draußen zu folgen, wo eine hektische Betriebsamkeit herrschte.

Sie befanden sich auf einem Flugplatz, und die Kälte schlug ihm entgegen, als sei er gegen eine massive Wand geprallt. Helikopter parkten in geordneten Reihen, bewacht von Rover-Einheiten, deren elektronische Augen unentwegt die Dächer der umliegenden Gebäude scannten. Ganz in der Nähe ragte eine Weltsäule in die Höhe und ließ die Bauten, die sich um ihren Sockel scharten, wie Spielzeug aussehen. Unweit der Helikopter standen mehrere schwere Lufttransporter, aus deren offen stehenden Ladeluken Kisten und Pakete auf wartende Trucks heruntergehievt wurden. Er entdeckte sogar ein paar Landungsschiffe, und ihm fiel auf, dass die Betonfläche unter ihnen schwarz und von Rissen durchzogen war.

Der Fahrer entpuppte sich als ein Wachposten, der die Uniform eines Soldaten der Legislatur trug. Er kletterte aus der vorderen Kabine heraus und umklammerte Tys rechten Arm.

Willis ging vorweg, und bald wurde klar, dass sie auf eines der Landungsschiffe zusteuerten.

Lamoureaux hielt Schritt mit Ty und seinem Bewacher. »Denken Sie daran, dass Sie für alle anderen immer noch Nathan Driscoll sind.«

»Ich brauche frische Sachen zum Anziehen«, keuchte Ty. Seine Zähne klapperten so heftig, dass er kaum sprechen konnte.

Lamoureaux und Willis tauschten einen Blick. »Ich hätte daran denken müssen«, murmelte Willis, als gäbe er dem Maschinenkopf die Schuld für das Versäumnis.

»Okay«, erwidert Lamoureaux mit ärgerlicher Miene. »An Bord des Landungsschiffs gibt es sicher überzählige Monteur-Overalls. Wenn ich einen auftreiben kann, können Sie ihn haben.«

Ty nickte benommen, halb davon überzeugt, dass man ihm einen unglaublich grausamen Streich spielte.

Entweder war es das, oder er würde Ascension bald wirklich für immer verlassen.