Kapitel Zweiundzwanzig

»Genau hier befinden wir uns jetzt«, erklärte Lamoureaux.

Dakota lehnte sich an ihrem Platz auf der Brücke zurück und spähte hinauf zu der Überkopf-Simulation – ein Bild von der Milchstraße, wie man sie von einem Ort aus hätte sehen können, der sich rund zwanzigtausend Lichtjahre über ihrer Ekliptikalebene befand. Ein winziger Lichtpunkt, der die Mjollnir darstellte, blinkte beständig tief im Inneren des Orionarms.

Aus der von Lamoureaux gewählten Perspektive ging klar hervor, dass der Orionarm weniger ein eigenständiger Spiralarm war, sondern eher ein breiter Streifen aus Sternen in der Mitte zwischen dem Sagittarius- und dem Perseusarm.

»Und hier«, fuhr Lamoureaux von dem Interface-Sessel aus fort, »findet unser erster Stopp statt. Danach haben wir die wirklich lange Strecke vor uns.«

Von dem Icon, das die Mjollnir symbolisierte, führte eine Linie zu einem Stern, der von ihrer derzeitigen Position fünfzehnhundert Lichtjahre entfernt lag. Von dort aus zog sich eine zweite Linie quer über eine Lücke, in der es kaum Sterne gab, zu einer bestimmten Stelle in den Tiefen des Perseusarms.

Dakota musterte Lamoureaux, der den Interface-Sessel in einem Winkel von fünfundvierzig Grad nach hinten gekippt hatte, so dass er beinahe senkrecht zu der Simulation hochschauen konnte. Er wirkte immer noch nicht vollständig genesen, und als er sie anschaute, merkte sie ihm an, wie sehr ihm der Schmerz über den erlittenen Verlust zu schaffen machte. Bald würde sie ihm erklären müssen, warum sie ihr Schiff zerstört hatte.

Corso saß dicht hinter Dakota, während Nancy, Ray und Nathan draußen mit den Reparaturen an den Antriebsdornen beschäftigt waren. Martinez konnte vermutlich erst in zwei Tagen die Krankenstation verlassen, Olivarri schlief in seinem Quartier, und Perez steckte irgendwo mitten im Schiff, kontrollierte die Plasma-Leitungssysteme und bereitete die Bord-Fabrikatoren darauf vor, neue Antriebsdorne zu produzieren, um die zu stark beschädigten zu ersetzen.

»Ted, könnten Sie die Information aufrufen, die ich Ihnen bezüglich unseres ersten Zielsystems gab?«, bat Dakota.

»Nein«, ließ sich Corso hinter ihr in feindseligem Ton vernehmen. Seit sie ihm von dem Händler erzählt hatte, hatte er kaum ein Wort mit ihr gesprochen. »Das kann noch eine Minute warten. Ted, Sie sagten, Sie hätten ein paar neue Informationen über den Krieg beschaffen können.«

Ted streifte Dakota mit einem um Entschuldigung heischenden Blick, ehe er Corso bestätigend zunickte. Gleich darauf erschienen Dutzende von leuchtenden roten Punkten, zu Gruppen zusammengeballt, am Rande des Orionarms, und ein paar vereinzelte sah man tiefer darin verstreut.

»Das sind die derzeit bestätigten Sichtungen von Streitkräften der Emissäre«, erklärte Lamoureaux. Ein paar Dutzend weitere Punkte tauchten auf, doch diese waren gelb gefärbt. »Und das hier«, fuhr er fort, »sind Sterne, die sich zu Novae entwickelt haben, seit der Krieg eskalierte. Wie man sieht, konzentrieren sich die meisten auf die Zone des Langen Kriegs, aber es hat auch Detonationen im Inneren unseres Galaxisarms gegeben, näher am Territorium des Konsortiums.«

»Irgendwelche Nachrichten von Ocean’s Deep?«, fragte Corso.

»Die Zustände dort sind sehr verworren, Senator, alles geht drunter und drüber. Die Legislatur hat ein großes militärisches Kontingent zur Orbitalstation gebracht und viele der wichtigsten Behördenmitarbeiter festgenommen, um sie zu verhören. Die meisten Informationen stammen von Bandati-Kontakten und nicht von unseren eigenen Leuten. In Tierra ist es das Gleiche  – man erhält keine Nachrichten und kann selbst keine dorthin schicken.«

»Ich denke«, erklärte Corso, »dass jeder hier aufhören sollte, mich mit ›Senator‹ anzureden. Ab jetzt dürfte ›Lucas‹ genügen, recht so?«

»Und ich bin dann nur noch ›Eduard‹.«

Alle drehten sich um und sahen Martinez im Eingang zur Brücke stehen. Corso wollte sich von seinem Platz erheben, aber Martinez gebot ihm mit einem Wink, er möge sich wieder hinsetzen.

»Es geht mir gut. Nur keine Umstände meinetwegen«, beharrte Martinez, vorwärtsschlurfend. Dakota sah, dass er sich auf einen Stock stützte. Als er sie bemerkte, blieb er stehen und starrte sie an, als sähe er ein Gespenst.

»Sir, sind Sie sich auch wirklich sicher, dass Sie die medizinische Behandlung abbrechen können?«

»Natürlich bin ich mir sicher, Lucas«, erwiderte Martinez, ohne jedoch den Blick von Dakota abzuwenden. »Ich muss es nur langsam angehen lassen. Vielleicht verbringe ich noch eine Nacht in der Med-Box, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.«

Er trat näher an sie heran. »Sie sind also Dakota Merrick. Wann zum Teufel kamen Sie an Bord? Und wo zum Teufel haben Sie gesteckt, als wir uns darauf vorbereiteten …«

»Commander«, fiel Corso ihm ins Wort. Er war neben Martinez getreten und legte eine Hand auf dessen Schulter. »Sobald wir hier fertig sind, begeben wir uns in Ihr Quartier, und ich werde Ihnen alles erklären.« Er deutete auf eine Couch. »Bitte.«

Martinez sah aus, als kämpfte er darum, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich hoffe, Sie können mit ein paar guten Gründen aufwarten«, versetzte er brüsk und steuerte auf die Sitzgelegenheit zu.

Das Icon, das eine Dringlichkeitsmeldung signalisierte, blitzte auf und schwebte an einer Seite der Galaxie-Simulation. Corso hob eine Hand an sein Ohr und sprach leise ein paar Worte in die leere Luft.

»Gerade hat sich Nancy zurückgemeldet«, erklärte er, als die knappe Unterredung beendet war. »Falls wir während der nächsten paar Tage einen größeren Sprung machen, müssen wir bis zu einem Viertel der Antriebsdorne offline lassen.«

»Das wäre verdammt schlecht«, kommentierte Martinez.

Corso zuckte die Achseln. »Aber wir können nicht viel dagegen unternehmen. Als wir an Bord gingen, waren die Ingenieure noch nicht mit den Arbeiten an der Außenhülle fertig. Dan bereitet sich darauf vor, Ersatz-Antriebsdorne zu produzieren, sobald er die Fabrikatoren wieder online geschaltet hat.«

Er schwieg eine Weile, dann drehte er sich um und sah Dakota mit spürbarem Widerstreben an. »Wie viele Sprünge sind nötig, um unser erstes Ziel zu erreichen?«

Martinez runzelte die Stirn, und sein Blick flackerte zwischen den beiden hin und her. »Erstes Ziel?«

Natürlich wundert er sich, ging es Dakota durch den Kopf. Er ist ja noch nicht über den Händler im Bilde.

»Wir legen einen Abstecher ein«, erläuterte Dakota, »um Waffensysteme zu bergen, die eine ausgestorbene Rasse von Aliens zurückgelassen hat. Das bedeutet, dass wir auf unserem Weg einen Stopp in einem anderen Sternsystem einplanen müssen.«

Martinez ließ seinen Blick argwöhnisch auf ihr ruhen, ehe er sich wieder an Corso wandte. »Und Sie billigen das?«

»Wir haben nur dieses eine Schiff, deshalb müssen wir jeden Vorteil nutzen. Ein Umweg von wenigen Tagen dürfte letzten Endes nicht viel ausmachen.«

Martinez nickte müde und sah erneut Dakota an. »Lucas fragte, wie viele Sprünge erforderlich sind, um dorthin zu gelangen.«

»Mindestens drei. Möglicherweise mehr, wenn so viele Antriebsdorne ausfallen.« Sie stand auf und nickte Lamoureaux zu. »Ted, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich den nächsten Teil gern selbst übernehmen.«

»Kein Problem.« Lamoureaux verließ den Interface-Sessel und trat von dem Sockel herunter, wobei er sich mit äußerster Vorsicht bewegte. Dakota spürte, wie seine durch Implantate veränderten Sinne die ihren streiften.

»Okay.« Sie kletterte in den Sessel und loggte sich in den Datenraum des Schiffs ein. Im nächsten Moment verblasste der riesige Wirbel der Galaxie und wurde durch ein Modell eines Einzelsternsystems ersetzt.

»Dieses Ziel steuern wir als Nächstes an«, begann sie. »Sie sehen hier einen Stern, der am kühlen Ende der Hauptreihe einzuordnen ist. Insgesamt besitzt er elf Planeten, aber unser eigentliches Interesse gilt einem Ort, den ich Ihnen gleich zeigen werde.«

Das System dehnte sich rasch aus, bis sie auf eine leblose Welt von nur wenigen Tausend Kilometern Durchmesser schauten, deren Oberfläche von alten Einschlagkratern übersät war. Eine weite, künstlich planierte Ebene, die in krassem Gegensatz zu der sie umgebenden Landschaft stand, enthielt in ihrem Zentrum etwas, das auf den ersten Blick nur ein weiterer Krater zu sein schien.

»Was Sie hier sehen, ist der Eingang zu dem Technologiehort«, erklärte Dakota. Ein Schnittbild von dem Planetoiden erschien nun neben dessen fotorealistischer Darstellung. »Der Grundriss entspricht dem des Tierra-Horts, und genau wie dieser befindet er sich auf einem Zwergplaneten, der zu klein ist, um geologisch aktiv zu sein. Im Übrigen trifft dies, soweit ich weiß, auch auf jeden anderen existierenden Technologiehort zu.«

Das Schnittbild zeigte, dass der Hort hauptsächlich aus einem Bohrloch bestand, das über dreißig Kilometer in die Tiefe führte; von diesem zentralen Schacht ausgehend führten Hunderte von unterschiedlich langen Tunneln durch den Planetoiden.

»Woher zum Teufel beziehen Sie dieses Wissen?«, fragte Martinez, dessen Blicke zwischen Dakota und Corso hin- und herirrten.

»Diese Informationen stammen von einem abtrünnigen Shoal-Mitglied …«

»Einem abtrünnigen Was?«, brüllte Martinez und erweckte den Eindruck, als könnte er jeden Augenblick seinen Gehstock nach ihr werfen.

»Eduard«, schritt Corso ein, »sowie wir hier fertig sind, rede ich mit Ihnen. Das schwöre ich.« Er nickte Dakota zu, sie solle fortfahren.

Martinez verzog unwirsch das Gesicht, aber er hielt den Mund.

»Es ist ein toter Technologiehort«, sprach Dakota weiter. »Ich erfuhr, dass er von einer Rasse namens Meridianer entdeckt wurde, die es aber seit langem nicht mehr gibt. Die Meridianer gründeten dort eine Kolonie, aber in den Kämpfen, die um diesen Hort entbrannten, löschten sie sich selbst aus. Die Struktur des Horts blieb erhalten, doch der gesamte Inhalt wurde zerstört. Wenn wir die Gelegenheit und die Zeit haben, halte ich es für eine gute Idee, das Innere des Horts zu erforschen. Nicht nur, dass ich selbst gern sehen möchte, wie er beschaffen ist, wir erhielten dadurch auch eine konkrete Vorstellung, was uns an unserem endgültigen Bestimmungsort erwartet.«

»Und diese Waffen, nach denen wir suchen«, warf Corso ein. »Befinden die sich innerhalb dieses Horts?«

Dakota kippte den Interface-Sessel um wenige Grad nach vorn, damit sie ihm besser ins Gesicht sehen konnte. »Nein, aber anscheinend sind sie in der Nähe des Eingangs deponiert. Und genaugenommen handelt es sich nicht um Waffen. Wir haben es hierbei mit einer Form von Energiefeldtechnologie zu tun; sie funktioniert ähnlich wie unsere eigenen Feldgeneratoren, ist aber wesentlich leistungsstärker, behauptet …« Behauptet der Händler, hätte sie um ein Haar gesagt, ehe sie Corsos warnenden Blick auffing.

»Auf den Punkt gebracht«, griff Corso den Faden auf, »befindet sich dort etwas, das uns im Falle eines Kampfes einen Vorteil über die Emissäre verschafft.«

»Wer behauptet das?«, hakte Martinez nach. »Irgendein … Shoal-Mitglied?«

»Ich denke, wir beide ziehen uns jetzt zurück und führen ein Gespräch«, meinte Corso, wobei er nicht gerade glücklich wirkte. »Vielleicht bei einem guten steifen Drink, sofern die Krankenstation es Ihnen nicht ausdrücklich verbietet.«