Kapitel Sechsunddreißig
Als einige der Energiefeldgeneratoren schließlich ausfielen, stürzten sich Scouts auf die Hülle der Fregatte und begannen, mit ihren Klingen und Schneidewerkzeugen die mächtigen Panzerplatten zu zerlegen. Unterdessen starben die Meridianischen Drohnen, überwältigt von der Masse der Scouts.
Mit wachsender Frustration und Panik sah Dakota dem Geschehen zu. Allein ihretwegen attackierten die Scouts die Mjollnir, und Moss hatte es ihnen ermöglicht, sie überall aufzuspüren.
Es wurde Zeit, radikale Maßnahmen zu ergreifen.
Ein paar Minuten später fühlte sie, dass Lamoureaux die Brücke betrat. Unentschlossenheit ließ sie momentan erstarren, dann zwang sie sich zum Aufstehen, worauf die Paneele des Interface-Sessels herunterklappten und sich um den Sockel des Podestes legten.
Martinez war immer noch auf der Brücke; über eine Konsole gebeugt, unterhielt er sich via Komm-Link mit Perez. Er achtete weder auf Ted noch auf Dakota.
Sie stieg vom Podest herunter; als Lamoureaux sich ihr näherte, nahm sie ihn beim Arm und bugsierte ihn zum Ausgang. Als sie anfing zu sprechen, flüsterte sie beinahe.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Ted. Die Situation eskaliert.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie selbst.« Durch einen Link übermittelte sie ihm die Daten des Neutrinoflusses.
Sein Blick verschwamm vorübergehend, und sein Kinn klappte herunter. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, platzte er heraus, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte.
»Leise!«, zischte sie, mit einem Nicken auf Martinez deutend; doch der Commander beriet sich immer noch mit Perez und schien die beiden noch gar nicht wahrgenommen zu haben. »Wir haben vielleicht höchstens zwölf Stunden, ehe dieses ganze System vernichtet wird.«
Ted wirkte verstört; sein Blick huschte flüchtig zu Martinez, dann sah er wieder sie an. »Und das wollen Sie verheimlichen?«
»Nein. Warten Sie nur zwanzig Minuten, bis Sie die anderen einweihen.«
Er beäugte sie mit zunehmendem Argwohn. »Dakota, was zum Teufel haben Sie vor?«
»Ich gebe Ihnen etwas.« Abermals stellte sie eine Verbindung zu ihm her und transferierte die Kommandostruktur für die Meridianischen Drohnen. »Sie können sie genauso lenken wie ich.«
Über Lamoureaux’ Schulter sah sie, wie Martinez hochschaute, sie beide ein paar Sekunden lang musterte und dann den Blick wieder abwandte.
Sie nickte stumm in Richtung des Korridors außerhalb der Brücke. Er verstand den Wink und folgte ihr.
»Übernehmen Sie den Interface-Sessel und die Steuerung der Drohnen«, bat sie ihn, sobald sie draußen waren.
»Und warum wollen Sie das nicht selbst tun?«
Der Datenraum des Schiffs informierte sie, dass Corso und Perez den Hangar verlassen hatten und sich auf dem Weg zur Brücke befanden. Eines der Landungsschiffe war an eine Luftschleuse gekoppelt und startbereit.
»Wissen Sie noch, wie ich vor einiger Zeit sagte, dass es an Bord dieses Schiffs etwas gäbe, das die Emissäre direkt zu uns führt?«
Er nickte.
»Nun, dieses Etwas bin ich, Ted. Ich habe keine Ahnung, was es ist oder wie er es bewerkstelligte, aber ein Mann namens Hugh Moss implantierte mir eine Art Peilsender. Nicht einmal mein Schiff der Weisen hat etwas bemerkt. Während Sie die Drohnen steuern, gehe ich an Bord des Landungsschiffs und benutze es dazu, die Scouts von der Fregatte wegzulocken. Auf diese Weise erhöhen sich eure Überlebenschancen, und ich kann den Händler verfolgen. Außer mir muss ohnehin niemand da drunten bei dem Technologiehort sein.«
»Dakota, nein!«
»Um Gottes willen, Ted! Ich muss das tun. Ich muss dem Spuk ein Ende setzen.« Sie spürte, wie in ihren Augenwinkeln Tränen brannten.
»Wir sollten abwarten, bis die anderen hier eintreffen. Außerdem …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Wahnsinn! Selbst wenn Sie fest entschlossen sind, allein runterzugehen, wird keiner so verrückt sein und es Ihnen erlauben.«
Ihre Miene drückte eisige Ruhe aus. »Stehen Sie mir nicht im Weg, Ted, oder ich schalte die Drohnen ab. Dann kann die Fregatte sich überhaupt nicht mehr verteidigen.«
Er schluckte. »Ich würde sie neu aktivieren.«
»Aber es könnte zu lange dauern. Einige Scouts versuchen bereits, die Hülle zu durchdringen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie …«
»Reizen Sie mich nicht zum Äußersten, Ted.«
Sie merkte, wie er sie prüfend musterte; er schien sich nicht schlüssig zu sein, ob er ihre Drohung ernst nehmen sollte.
»Sie sind nicht ganz bei Sinnen«, meinte er schließlich. »Das sagt jeder über Sie, und ich habe Sie immer verteidigt. Aber die Leute haben Recht, Dakota. Sie haben Ihren Verstand verloren.«
»Lassen Sie es nicht zu, dass jemand mir folgt. Haben Sie kapiert?«
Schweigend starrte er sie an, voll ohnmächtiger Wut, als sie sich umdrehte und den Korridor hinunterrannte.
Die Yacht des Händlers hatte sich eines Maximum-Ausweichmusters bedient, während sie auf die Oberfläche der Hort-Welt zuraste, und dennoch war sie durch die auf dem Boden stationierten Abwehrsysteme stark beschädigt worden. Nachdem das Schiff in den Hauptschacht des Horts abgetaucht war und die Reise in die Tiefe begann, hörte der Beschuss jedoch auf.
Längs des gesamten Schachtes hatte man Tausende von Tunnel in den Fels gebohrt. Bald lenkte der Händler seine Yacht zu einem Landeplatz, der sich in einem bestimmten Tunnel befand; er wusste, dass er dort die Antriebsschmiede des Technologiehorts finden konnte. Nachdem er sein Schiff verlassen hatte, näherte er sich dem Rand des Tunnels, um in den darunterliegenden Abgrund zu spähen.
Reihen von Lichtern zogen sich die glatten Wände hinunter, wo sie zig Kilometer von seinem Aussichtspunkt entfernt zusammenzulaufen schienen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Schachts entdeckte er einen Fabrikkomplex von der Größe einer Stadt, der genauso verfallen und verlassen wirkte wie die Apparaturen auf der Oberfläche.
Die Wände rings um ihn her sahen halb geschmolzen aus, und noch mehr zerstörte Maschinen lagen herum. Es erforderte nicht viel Nachdenken, um zu dem Schluss zu gelangen, dass es schon sehr lange her sein musste, seit hier neue Antriebskerne fabriziert wurden.
Trotz der Vorwarnung hatten die Emissäre offenkundig nicht damit gerechnet, dass der Technologiehort selbst ein Ziel war. Dass sie sich dann dazu entschlossen, das gesamte System zu vernichten, deutete darauf hin, dass sie ihren Irrtum erkannt hatten, wenn auch viel zu spät.
Der Händler drehte sich in seiner Energiefeldblase, driftete dann tief in den leicht gekrümmten Tunnel hinein und lavierte sich an den geschwärzten, toten Wracks vorbei.
»Es ist mir scheißegal, was sie sagte!«, brüllte Coso. »Wir müssen hinterher!«
»Wollen Sie sie etwa daran hindern, mit dem Landungsschiff abzuhauen?«, fragte Lamouraux. »Damit gehen Sie ein verdammtes Risiko ein. Meiner Meinung nach hat sie nicht geblufft. Sie sah irre genug aus, um das durchzuziehen.«
»Es wäre ohnehin zu spät«, meldete sich Martinez von der anderen Seite der Brücke. »Sie befindet sich an Bord des Landungsschiffs und hat die Fregatte verlassen. Sie muss direkt an Ihnen und Dan vorbeigepirscht sein, als Sie unterwegs zur Brücke waren.«
»Wir erhielten einen Notruf«, erklärte Perez. »Deshalb kamen wir so schnell wie möglich hierher.«
»Lief der Notruf über Bord-Komm oder Ihre Helme?«, erkundigte sich Lamoureaux.
»Wir empfingen ihn direkt durch unsere Helme«, erwiderte Perez. »Und nicht über …« Mitten im Satz brach er ab.
Lamoureaux nickte. »Sie hat einen falschen Alarm ausgelöst.«
Perez rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und ließ sich in einen in der Nähe stehenden Sessel fallen. »Ich wusste, wir hätten bei dem Landungsschiff bleiben sollen.«
»Etwas an der Geschichte verstehe ich nicht«, knurrte Corso und ging näher an Lamoureaux heran. »Sie hätten uns warnen können, aber Sie unternahmen ja nicht einmal den Versuch, sie aufzuhalten. Wieso haben Sie nichts getan?«
Lamoureaux’ Nasenflügel bebten vor Zorn. »Das sagte ich Ihnen bereits. Sie hat damit gedroht, die Meridianischen Drohnen abzuschalten und uns schutzlos den Scouts auszuliefern. Wie hätte ich Ihrer Ansicht nach reagieren sollen?«
Corso schüttelte heftig den Kopf. »Ich weigere mich zu glauben, dass sie mit so etwas drohen, geschweige denn diese Drohung wahrmachen würde.«
»Sie hat es aber gesagt!«, schrie Lamoureaux. »Vielleicht, Lucas, kennen Sie sie doch nicht annähernd so gut, wie Sie sich einbilden.«
Corso verpasste ihm einen Boxhieb auf die Nase.
Lamoureaux taumelte nach hinten, stolperte und stürzte zu Boden. Corso baute sich mit wütender Miene vor ihm auf.
Kräftige Fäuste zerrten Corso von ihm weg. Man stieß ihn in einen Sessel, und dann stand Martinez vor ihm; der Commander drückte seine Hand fest gegen Corsos Brust.
»Ich war auf der Brücke, als das alles passierte«, begann Martinez. »Sicher, ich habe nicht mitgekriegt, worüber sich Dakota und Ted unterhielten, aber trotzdem trage ich die Verantwortung. Wenn Sie also Lust verspüren, jemanden zu schlagen, dann müssen Sie schon mich attackieren.«
Lamoureaux wischte sich Blut von der Nase und maß Corso mit einem hasserfüllten Blick. »Wollen Sie wissen, was sie mir noch erzählte, Lucas? An ihr liegt es, dass die Emissäre uns überall finden können.«
Corso glotzte ihn an. »Was?«
Lamoureaux lachte und fing dann an zu husten. »Ja, genau das hat sie mir gesagt. Die Emissäre haben die Möglichkeit, sie anzupeilen, nicht die Fregatte. Sie machen Jagd auf Dakota Merrick. Mehr kann ich Ihnen auch nicht dazu sagen.«
»Er spricht die Wahrheit.« Martinez deutete auf das Überkopf-Display, durch das man auch weiterhin den Fortgang der Schlacht verfolgen konnte. »Die Scouts lassen uns in Ruhe und nehmen Kurs auf das Landungsschiff.«
Bestürzt starrte Corso auf die Szene. »Sie wird es nie schaffen.«
Wankend kam Lamoureaux auf die Beine und zog sich wieder in den Interface-Sessel hinein.
Martinez ließ Corso los, ging zu Lamoureaux und reichte ihm ein Taschentuch. Mit einem gemurmelten Dank nahm Ted es an.
»Dan, Sie behalten Mr. Corso im Auge. Sollte er noch einmal handgreifl ich werden, sperren Sie ihn irgendwo ein. Von Ihnen, Mr. Lamoureaux, hätte ich gern ein paar Berechnungen. Stellen Sie fest, wie viel Zeit uns noch bis zur Explosion des Sterns bleibt, und wie viel Energie wir brauchen, um rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu springen.«
»Sie hat uns im Stich gelassen«, murmelte Corso vor sich hin, fast als führe er Selbstgespräche.
»Seien Sie sich da mal nicht so sicher«, entgegnete Martinez. »Ich finde, sie hat uns eine Atempause verschafft. Ted, legen Sie ihre derzeitige Flugbahn und den aktuellen Aufenthaltsort auf das Überkopf-Display.«
Über ihnen erschien ein Bild von der Hort-Welt und seinem Stern; ergänzt wurde es durch übergroße Darstellungen der Mjollnir und des Landungsschiffs, das sich bereits in hohem Tempo der Planetenoberfläche näherte.
Lamoureaux’ Antwort klang gedämpft, weil er sich das Taschentuch vor sein Gesicht presste. »Wenn sie lange genug am Leben bleibt, müsste sie in ungefähr fünfzehn Minuten den Technologiehort erreichen.«
Das Landungsschiff bekam einen Volltreffer ab und begann so heftig zu trudeln, dass Dakota um ein Haar aus ihren Sicherheitsgurten gerissen wurde. Ein jähes Donnern übertönte das Jaulen und Kreischen der Schotten, als die Atmosphäre entwich, während ihr Iso-Anzug sie augenblicklich einhüllte.
Vorher hatten Dutzende von direkten Treffern und Streifschüssen einen der beiden Energiefeldgeneratoren des Landungsschiffs lahmgelegt. Nur noch ihr Iso-Anzug und zwei Meridianische Drohnen, die sie aus dem Hauptkontingent gelöst und mitgenommen hatte, schützten sie vor dem sicheren Tod. Sie hatte befürchtet, Lamoureaux könnte ihr die Kontrolle über die beiden Drohnen verweigern, aber letzten Endes hatte er sie gewähren lassen.
Auf dem Schirm sah sie, wie der Hort größer wurde, als sie auf ihn zustürzte. Das Signal, das sie immer noch von der Yacht des Händlers auffing, verriet ihr, dass diese über dreißig Kilometer tief in dem Zugangsschacht steckte.
Die Vorstellung, in dieses bodenlose Loch hineinzufliegen, verursachte ihr eine Gänsehaut.
Es ging immer weiter nach unten, und der Eingang zum Hort reckte sich Dakota entgegen wie ein klaffender, gieriger Schlund.
Salven aus Impuls-Strahlen schossen aus den Abwehrsystemen, die rings um die Mündung des Horts verteilt waren. Das Landungsschiff kreiselte unter dem nächsten Volltreffer, und Alarmmeldungen flackerten über die Schirme.
Sie erhaschte einen kurzen Blick auf weite Flächen aus Schlacke und Trümmern, die den Schachteingang umgaben, ehe das Landungsschiff in die grenzenlose Dunkelheit hinabfiel. Ferne Lichter an den Seiten des Schachts beleuchteten verwaiste Städte oder stillgelegte Fabrikanlagen, die an den Wänden klebten.
Nahe der Oberfläche ließ sie die beiden Drohnen als Wächter zurück. Einem Frontalangriff würden sie nicht lange standhalten können, doch zumindest wäre sie gewarnt, wenn die Emissäre ihr in den Schacht hinein folgten.
Das Landungsschiff sank tiefer, während es aussah, als würde die Schachtmündung über ihr schrumpfen.
Händler, ich lasse Sie nicht mit dem Artefakt davonkommen. Hören Sie mich?
Schweigen.
Entweder war ihm etwas zugestoßen, oder er wollte nicht mit ihr sprechen.
Händler? Sind Sie da?
Alles war wunderbar glattgelaufen, bis er versucht hatte, den Mos Hadroch zu aktivieren.
Der Händler hatte ihn in die Öffnung der Antriebsschmiede gesteckt und danach auf die Kommandostruktur zugegriffen, die er vor sehr, sehr langer Zeit aus der Großen Magellanschen Wolke mitgebracht hatte. Das Aktivieren erfolgte über einen netzähnlichen Apparat, den er um zwei seiner Sekundär-Tentakel geschlungen hatte.
Die Wirkung war phänomenal gewesen.
Im Verlauf seiner ersten Experimente, die er durchgeführt hatte, indem er Whitecloud mental manipulierte, hatte es sich sehr schnell herausgestellt, dass das Artefakt sein Begriffsvermögen weiter überstieg, als er das für möglich gehalten hatte. Gewisse Aspekte seiner Funktionsweise deuteten darauf hin, dass sich irgendwo in seinem Inneren eine mächtige, beinahe schon gottgleiche Intelligenz verbarg.
Anfangs hatte es ausgesehen, als würde sich das Gerät auflösen; die äußere Schale öffnete sich und enthüllte interne Komponenten, die sich dem Verständnis entzogen. Die Form hatte sich rasch verändert, wobei sie sich weit über die Antriebsschmiede hinaus aufblähte; und zum ersten Mal spürte der Händler die Präsenz dieser überwältigenden Intelligenz, als sie die Bordsysteme seiner Yacht und zu seinem Entsetzen sogar seinen eigenen Geist durchforschte.
Er hatte kehrtgemacht, um zu fliehen, weil er erkannt hatte, dass er die Kontrolle über die Ereignisse längst verloren hatte. Aber es war zu spät. Das Artfakt hatte sich schon um ihn herum ausgedehnt und seine böse Absicht jählings und mit erschreckender Klarheit offenbart.