Kapitel Siebzehn
Selbst als sie sich in den sensorischen Datenraum der Mjollnir einsperrte, konnte Dakota noch hören, wie der Mos Hadroch ihr etwas zuraunte.
Dieses Wispern bewegte sich so hart an der Wahrnehmungsschwelle, dass sie es als Hirngespinst abgetan hätte, wäre sie nicht imstande gewesen, es durch das schnell zurückbleibende Schiff der Weisen zu filtern. Im Panzer des toten Atn ruhte etwas Lebendiges, das seinerseits sie, Dakota, spüren konnte.
Bis zu diesem ersten Augenblick der Kontaktaufnahme, die erfolgte, als sie den leeren Raum zwischen ihrem Schiff und der Fregatte durchquerte, hatte sie angenommen, der Mos Hadroch würde sich als ein indifferentes Gerät entpuppen, als irgendein Werkzeug, weiter nichts.
Doch stattdessen dämmerte ihr, dass der Mos Hadroch etwas sein musste, das den höchsten technologischen Errungenschaften der Weisen entsprach; diesem Ding lediglich Empfindungsfähigkeit zu unterstellen, wäre nicht nur grundverkehrt, sondern man täte ihm überdies bitter Unrecht. Was ihr nun durch ihre optimierten Sinne vermittelt wurde, deutete vielmehr darauf hin, dass der Mos Hadroch einer künstlichen Gottheit glich, auch wenn er nicht viel größer war als ein menschlicher Schädel und nur einem einzigen Zweck diente.
Dakota schloss fest die Augen und merkte, wie die Geister der Toten, die in dem Schiff der Weisen beheimatet waren, gleichsam fragend ihre mentalen Fühler nach ihr ausstreckten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie noch keine Ahnung hatten, welchen Verrat sie an ihnen begehen wollte. Früher hatte ihre Fähigkeit, ihre Gedanken lesen zu können, ihr große Sorgen bereitet, doch diese Zeit lag nun lange zurück. Seitdem hatte sie gelernt, ihre Gedankengänge vor ihnen abzuschirmen.
Wir haben erneut Feindberührung, hörte sie Perez mit einem Anflug von Panik sagen. Raketen. Nähern sich schnell und wurden von der Oberfläche abgeschossen. Noch hundertundachtzig Sekunden bis zum Einschlag.
Sie hatte die Raketen längst gesehen. Sie fühlte, wie sich ihre subjektive Zeitwahrnehmung veränderte, so dass Sekunden sich zu Minuten auszudehnen schienen, während sie sich vollständig in den Datenraum der Mjollnir einschloss.
Nach ihrer Wiedergeburt hatte sie bei jedem Versuch, mit dem Schiff der Weisen auf einem Niveau zu verschmelzen, das auch nur ein wenig höher lag als die allerniedrigste Stufe, an grauenhaften Schmerzen und einem Gefühl der Verwirrung gelitten. Nun jedoch ging alles glatt und unproblematisch vor sich. Der Datenraum der Fregatte war vergleichsweise bestürzend primitiv, aber er funktionierte.
Zu Hunderten waren die Meridianischen Drohnen aus dem Schiff der Weisen aufgetaucht, und einige von ihnen sausten jetzt auf die Raketen zu, die mit einer Beschleunigung von über zwanzig g auf die Fregatte zusausten. Die Drohnen begannen in einem ungeheuren Hitzeschub zu glühen, kurz bevor sie einen Impuls aus Feuer ausspien, dessen Gleißen man noch auf der Planetenoberfläche sehen konnte.
Alarmsirenen plärrten durch die gesamte Mjollnir, als dieser Energieausstoß die externen Sensoren überlastete. Drunten auf Redstone wurden Techniker und Offiziere der Freistaatler-Gemeinschaft wie der Uchidanischen Territorien in ihren unterirdischen Bunkern aus dem Schlaf gerissen, weil die Frühwarnsysteme diese Energieblitze als Angriff deuteten.
Währenddessen verwandelten sich die Raketen in Kleckse aus geschmolzenem Metall, die sich in dem Überkopf-Display auf der Brücke als verschwommene Farbspritzer darstellten und rasch von Grellweiß zu Orange verblassten.
Dakota öffnete die Augen und stieß gemächlich den Atem aus.
Sie hatte sie alle gerettet, und dazu hatte sie nicht das Schiff der Weisen gebraucht. Die Meridianischen Drohnen hatten auf ihre Befehle mit tödlicher Effizienz reagiert, indem sie ihr etwas von Offensive und Verteidigung, von Schlag und Gegenschlag zuflüsterten.
Zum ersten Mal fing sie ernsthaft an zu glauben, sie könnten es tatsächlich bis zu den Emissären schaffen.
Dakota.
Die Luft im Inneren der Paneele schmeckte warm und leicht metallisch. Reglos saß sie da, allein in der Dunkelheit, und genoss einen kurzen Moment der Stille.
Dakota, kannst du …
Sie atmete tief durch die Nase aus und wartete darauf, dass ihr Herz aufhörte, wie verrückt zu hämmern.
… mich hören?
»Dakota! Ich …«
Corso brach mitten im Satz ab, als die Paneele des Sessels wieder herunterklappten. Dakota betrachtete die Brücke, die angefüllt war mit Licht, Geräuschen und Bewegungen.
»Ich habe mich darum gekümmert«, erklärte sie, erhob sich langsam aus dem Interface-Sessel und stieg vorsichtig von dem Podest herunter. »Es gibt keine Raketen mehr.«
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Corso mit schweißüberströmtem Gesicht. »Ich meine, ich sah es in dem Überkopf-Display. Es war unglaublich. Aber … wie konnte das geschehen?«
Sie schaute an ihm vorbei auf einen unbekannten Mann, der an einer Konsole saß. Die übertrieben intensive Art, mit der er die sich vor ihm abspulenden Daten studierte, verriet ihr, dass er bewusst versuchte, nicht in ihre Richtung zu blicken.
»Ich sagte dir bereits«, antwortete sie, »dass ich in den Besitz einiger Waffen gelangte. Es handelt sich um uralte, sehr wirkungsvolle Waffen, die eine ausgestorbene Zivilisation zurückgelassen hat.«
»Wir werden von der Oberfläche gerufen, Senator.«
Corso wandte sich an den Mann vor der Konsole und nickte zerstreut. »Gibt’s was Neues?«
»Sie haben noch mehr Raketen abgeschossen. Sie sagen, sie ziehen sie erst zurück, wenn wir das Schiff stoppen und uns ergeben.«
Dakota ging an Corso vorbei zu dem Mann. »Wie ist Ihr Name?«, erkundigte sie sich.
»Dan Perez.«
Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Konsole. »Darf ich?«
Er zuckte die Achseln und machte ihr Platz. Sie studierte die dargestellten Daten und runzelte die Stirn.
»Das sind keine taktischen Raketen«, verkündete sie mit einem Blick auf Coso. »Dieser Typ von Artillerie könnte die Fregatte verdunsten lassen. Das ergibt keinen Sinn.«
»Warum nicht?«, fragte Perez, der neben ihr stehen geblieben war.
»Weil sie verloren haben. Sie erreichen nichts, indem sie die Fregatte zerstören.«
»Sie haben nicht viel Zeit mit Freistaatlern verbracht, nicht wahr, Ma’am?«, mutmaßte Perez. »Außer mit dem Senator hier.«
Sie drehte sich um und sah ihm voll ins Gesicht. »Was soll das heißen?«
»Nun, wenn Sie sich mit der Mentalität der Freistaatler auskennen würden, dann wüssten sie, dass sie das Schiff lieber vernichten werden, als es entkommen zu lassen. Die Konsequenzen sind ihnen egal. Bei diesen Leuten dreht sich alles nur um Ehre.«
Sie sah Corso an, der ergeben die Achseln zuckte. »Er hat Recht, Dakota.«
Gereizt schüttelte sie den Kopf. »Dann sind sie ein Haufen verdammter Idioten. Also gut, wir könnten noch länger hier herumlungern und all diese Raketen von den Drohnen zerstören lassen, doch dann würden wir nur wertvolle Zeit verlieren.« Sie steuerte wieder auf den Interface-Sessel zu. »Ich werde uns mit einem Sprung von hier wegbringen.«
»Die Antriebsaggregate sind noch nicht voll aufgeladen«, warnte Corso. »Die Energie reicht nicht einmal aus, um dieses System hinter uns zu lassen.«
»Wir werden nicht aus diesem System herausspringen«, beschied sie ihm und zog sich wieder in den Sessel hinein. »Sagte ich nicht etwas von einem frühzeitigen Sprung? Nun, wir machen einen kleinen Hüpfer, nur ein paar Millionen Kilometer weit. Wo wir herauskommen, spielt im Grunde keine Rolle, Hauptsache, wir entfernen uns ein gutes Stück von Redstone.«
Corso war ihr gefolgt, und Perez behielt sie beide wachsam im Auge, als Corso auf das Podest trat und sich seitlich am Sessel festhielt.
»Bist du dir auch ganz sicher, dass du das Richtige unternimmst?« , fragte er mit gesenkter Stimme. »Du warst verflucht lange weg, und ich kann dir gar nicht sagen, welche Schwierigkeiten ich dadurch bekam. Und was zum Teufel geschieht mit deinem eigenen Schiff?«
»Im Augenblick weiß ich oft selbst nicht genau, was ich tue, Lucas. Ich lebe nur von einer Minute zur nächsten. Und was mein Schiff angeht«, fügte sie hinzu, »so warte einfach mal ab.«
Sie schloss die Augen, schottete sich von der Brücke ab und tauchte von neuem in den Datenraum ein. Dieser neue Schwung Raketen – auf Höchstgeschwindigkeiten ausgelegt und bestückt mit Antimaterie-Sprengköpfen – würde sich frühestens in tausend Sekunden der Fregatte so weit genähert haben, um eine akute Gefahr darzustellen.
Voller Spannung blickte sie zur Überkopf-Projektion hinauf und sah, dass die Drohnen jetzt in einem Spiralkurs zum Schiff der Weisen zurückflogen. Einige der toten Seelen, die es bevölkerten, mussten mittlerweile ihre Absicht erkannt haben, denn das Schiff beschleunigte bereits und steuerte von Redstone weg – aber es war trotzdem nicht schnell genug.
Einige Drohnen erhitzten sich bis zum Weißglühen und bündelten diese Energie zu hoch destruktiven Strahlen, die über die Hülle des Schiffs flackerten. Mit vor Entsetzen offenem Mund beobachtete Corso, wie es sich unter dem konzentrierten Feuer aufzulösen begann.
Er packte Dakota an der Schulter und zerrte sie beinahe aus dem Interface-Sessel heraus. »Was zur Hölle tust du da?«,
»Ich beseitige ein Problem«, antwortete sie, ehe sie die Augen schloss und ihn nicht mehr beachtete.
Nun falteten sich die Paneele wieder über ihr zusammen; Corso blieb nichts anderes übrig, als fluchend zur Seite zu springen. Sie wusste, dass er nicht versuchen würde, ihr die Kontrolle über die Fregatte zu entziehen, denn dadurch hätte er sie nur zu einem leichten Ziel gemacht.
Nachdem die Paneele sie umschlossen, öffnete sie die Augen und sah, wie sich rings um sie her das Universum entfaltete.
Sie spürte die unterschiedlichen Elemente der Fregatte, als seien sie Bestandteile ihres eigenen Körpers. Der Wust aus Elektronik und Maschinen, der den Antriebskern des Schiffs mit den auf der Außenhülle sitzenden Antriebsdornen verband, glich einem verworrenen Alptraum, aber wenigstens funktionierte er.
Dakota gestattete sich einen letzten Blick auf das Schiff der Weisen. Es kreiselte jetzt unkontrolliert, die Antriebsdorne waren zerschmettert, und es war nicht mehr in der Lage, aus dem örtlichen System herauszuspringen. Versuchsweise stellte sie ihm eine Frage, aber es kam keine Antwort.
Die Drohnen schlugen noch einmal zu. Sie beendeten ihre Aufgabe, und das Schiff der Weisen sank auf die oberen Schichten von Redstones Atmosphäre zu, wo es letzten Endes verglühen würde. Heiße, salzige Tränen rannen ihre Wangen hinunter, und sie krallte die Hände so fest um die Armstützen, dass sie schon Angst hatte, sie könnten unter ihrem Griff zerbrechen.
Unterdessen rasten die Drohnen bereits zur Mjollnir zurück. Sie wartete, bis sie noch näher kamen, dann zog sie sie dicht an die Außenhülle heran und aktivierte den Antriebskern.
Augenblicklich verschwand Redstone aus dem Überkopf-Display. Im Bruchteil einer Sekunde hatten sie mehr als fünfundsechzig Millionen Kilometer überbrückt.
Es würde eine gewisse Zeit dauern, um den Antrieb für den nächsten, hoffentlich viel längeren Sprung hochzufahren, doch vorerst genügte diese Distanz, um sie in Sicherheit zu bringen.
Sie sorgte dafür, dass die Paneele wieder herunterklappten, und sackte vornüber im Sessel zusammen. Der Schweiß tropfte buchstäblich von ihrem Körper. Als Nächstes bemerkte sie Corso, der auf sie gewartet hatte; in seinen Zügen spiegelte sich Wut wider.
»Was ist da gerade passiert, verdammt nochmal?«, schnauzte er.
»Ich weiß ein paar Dinge, die dir nicht bekannt sind, aber ich bin noch nicht bereit, darüber zu sprechen«, erwiderte sie.
»Du zerstörst dein eigenes Schiff und hast keine Lust, einen Kommentar dazu abzugeben?«, regte er sich auf.
Perez saß mit verkniffenem Mund da und konnte sich ganz offenkundig keinen Reim auf die Vorkommnisse machen. Dakota erwiderte trotzig Corsos Blick. »Wir haben Redstone hinter uns gelassen und initiieren in ein paar Stunden den nächsten Sprung. Mehr brauchst du vorerst nicht zu wissen.«
»Und was passiert, wenn wir in Reichweite der Emissäre gelangen?« , zischte er durch zusammengebissene Zähne. »Ohne dein Schiff sind wir doch aufgeschmissen, verflucht nochmal! Wie sollen wir durch ihren Verteidigungsgürtel …«
»Die Waffen, die ich mitgebracht habe, reichen für unsere Zwecke völlig aus«, schnappte sie. »In dieser Hinsicht bin ich mir jedenfalls hundertprozentig sicher.«
Sie blickte ihm herausfordernd ins Gesicht, und zum ersten Mal erkannte sie, wie groß seine Angst war. Mit dem Kinn wies sie auf Perez.
»Wer befindet sich sonst noch auf der Fregatte?«
Corso spähte über die Schulter in Perez’ Richtung, ehe er antwortete. »Wir enterten das Schiff mit acht Personen, aber ein Mann wurde verwundet, als wir versuchten, die Brücke unter unsere Kontrolle zu bringen. Zurzeit liegt er in der Krankenstation. Wir brachten auch einen Atn-Spezialisten mit, der anscheinend etwas über den Mos Hadroch weiß. Er zog mit ein paar anderen los, um sich davon zu überzeugen, dass er noch an Bord ist. Und sie haben ihn tatsächlich gefunden.«
»Als ich hierherkam, sprach ich kurz mit Ted, aber was fehlt ihm? Zuerst war er voll da, aber von einer Sekunde auf die andere schien er das Bewusstsein zu verlieren. Ist er krank?«
»Er ist ebenfalls in der Krankenstation untergebracht. Diese seltsame Sache, die schon anderen Maschinenköpfen passiert ist, hat jetzt auch ihn erwischt.«
Als Corso sich anschickte, von dem Podest herunterzusteigen, streckte Dakota die Hand aus und berührte seinen Ellenbogen. Er blieb stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um.
»Selbst wenn ich gewollt hätte, ich wäre nicht mehr imstande gewesen, das Schiff der Weisen für uns einzusetzen, Lucas. Es ist nicht mehr so wie früher, als ich es tatsächlich steuern konnte. Diese Zeiten sind für mich endgültig vorbei, und das Gleiche gilt für Ted. Zum Schluss war ich auf diesem Schiff eher eine Gefangene, und nur indem ich es zerstörte, konnte ich mich davon befreien.«
Corso schüttelte ungläubig den Kopf und marschierte los in Richtung Brückeneingang.
»Ich denke, es wird höchste Zeit«, rief er, sich zu ihr umwendend, »in die Labors hinunterzugehen und uns anzusehen, wofür wir das alles riskieren. Aber zuerst schauen wir in der Krankenstation vorbei.«