Kapitel Einundzwanzig
Nicht lange nach dem Rendezvousmanöver mit der Yacht des Händlers stattete Corso dem Labor einen Besuch ab.
»Finden Sie heraus, wie zum Teufel das Ding funktioniert, Whitecloud. Oder zumindest, wie es funktionieren könnte. Das ist Ihr Job, solange Sie sich an Bord der Mjollnir aufhalten. Und Sie werden auch hier im Labor essen und schlafen. Ist das klar?«
Es war ihr erstes privates Gespräch miteinander, und Corso hatte sich eindeutig nicht in der Stimmung befunden, Freundschaft zu schließen oder Zeit mit Pseudonymen zu verschwenden, wenn sonst niemand zugegen war. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und Ty war nicht entgangen, welch hektische Aktivitäten nach ihrem Abflug von Redstone ausbrachen, während er selbst an Bord sicher eingekapselt war in der mittlerweile vertrauten Umgebung des Laborkomplexes.
Ty sah sich in dem schwach beleuchteten Labor um, als könne er dort die richtige Antwort entdecken. »Aber werden sich die anderen nicht fragen, warum ich nicht mit ihnen zusammen untergebracht bin? Ich meine, in der Zentrifuge gibt es doch Platz genug …«
»Nein!« Corso stach mit dem Zeigefinger auf Tys Brust ein. »Ich will nicht, dass Sie sich unter meine Leute mischen.«
»Na schön, aber was ist mit den Reparaturen an der Außenhülle? Wir sind nur neun Personen – den Alien nicht mitgerechnet –, und durch lange Sprünge werden Antriebsdorne stark in Mitleidenschaft gezogen. Wenn ich mich nicht an den Arbeiten beteilige, weil der Dienstplan meinen Einsatz nicht vorsieht, werden sich die anderen doch notgedrungen fragen, warum man mich ausgrenzt.«
Corso passte es ganz und gar nicht, in dieser Hinsicht nachgeben zu müssen. »Also gut. Ich lasse Sie turnusmäßig für die Schichten einteilen, damit keiner Fragen stellt. Aber den Rest der Zeit verbringen Sie hier. Wenn jemand Sie aushorcht, tun Sie so, als seien Sie ein selbstloser Wissenschaftler, der sich einfach nicht von seiner Arbeit losreißen kann. Vergessen Sie nie, Mr. Whitecloud, dass Sie nur noch am Leben sind, weil sich meine Leute in Ascension für Sie einsetzten. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Sie keine Kugel in den Hinterkopf verdienen. Solange Sie mit mir auf diesem Schiff weilen, tun Sie genau das, was ich Ihnen sage, oder ich mache Ihnen das Leben zur Hölle. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?«
Abermals blickte Ty im Labor in die Runde. »Und was ist, wenn ich nicht herauskriege, wie der Mos Hadroch funktioniert?« , stotterte er. »Was passiert dann?«
Corso trat näher an ihn heran und krallte seine Faust in Tys Hemd.
»Sehen Sie das Ganze mal so, Ty. Hier bekommen Sie die Chance, sich zu bewähren. Sich zu rehabilitieren. Tatsache ist, wir alle hier sind Flüchtlinge, und es ist sehr gut möglich, dass keiner von uns seine Heimat jemals wiedersehen wird. Aber wenn wir Erfolg haben und mit heiler Haut hier herauskommen …« Corso ließ das Hemd los, legte eine Hand auf Tys Brust und stieß ihn von sich weg. »Wenn dieser Fall eintritt, dann werden Sie immer noch Nathan Driscoll sein.«
»Mit anderen Worten, Sie würden mich dann ungehindert gehen lassen?«
»Ich gebe Ihnen die Gelegenheit zu verschwinden. Aber Gott möge Ihnen beistehen, sollten Dakota oder einer von den anderen vor diesem Zeitpunkt erfahren, wer Sie in Wirklichkeit sind.«
Corso stemmte sich ab, driftete in Richtung Luftschleuse und packte einen dort befindlichen Handgriff. »Eines dürfte wohl klar sein«, fügte er hinzu, während er sich nach Ty umblickte. »Wenn sie es herauskriegen, können Sie sich nirgendwo verstecken.«
Ty lachte, und Corso starrte ihn verblüfft an.
»Wissen Sie nicht, dass ich zwangsweise eingezogen wurde, Mr. Corso? Die Uchidaner steckten mich in eine militärische Einrichtung für Forschung und Entwicklung und ließen mich an einem winzigen Teil eines Projekts arbeiten, das Dutzende von Forschern beschäftigte. Ich streite nicht ab, dass ich zumindest ein wenig für das verantwortlich war, was damals auf Redstone passierte; man konnte leicht erraten, dass die Strategen etwas Großes planten, bevor die Streitkräfte des Konsortiums eintrafen. Aber mein Rang war viel zu niedrig, um mir mehr als nur das Allernotwendigste zu erzählen. Die Leute, die tatsächlich das Konzept für den Gegenangriff austüftelten und ihn dann in die Tat umsetzten, kamen nie vor ein Legislatur-Tribunal, sondern nur der technische Stab. Wir waren die Sündenböcke, weiter nichts.«
Corso stieß sich ab und schwebte zu ihm zurück. Ty zuckte zusammen, doch ein paar Meter von ihm entfernt kam der Senator zum Stehen, indem er eine Hand gegen ein Schott legte.
»Ich habe Ihre Akte gelesen, Ty. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nur Befehlen gehorchten. Das ist keine Entschuldigung, Befehlsnotstand war schon immer eine faule Ausrede. Hunderte von Menschen kamen ums Leben.«
»Wenn ich die Zeit zurückdrehen und alles anders machen könnte, würde ich es tun. Früher hing ich Fantasien nach, wie sich mein Leben hätte gestalten können, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte. Sie sagten, ich bekäme die Chance, mich zu bewähren, und mehr habe ich all die Jahre nicht gewollt. Ich bin kein Monster, Mr. Corso. Das sollten Sie wissen.«
Ty atmete tief durch und wartete. Corsos Miene blieb unergründlich.
»Taten zählen mehr als Worte«, meinte Corso schließlich und drehte sich um, bis er wieder die Luftschleuse im Blick hatte. »Finden Sie heraus, wie der Mos Hadroch funktioniert, und Sie tragen dazu bei, viele Leben zu retten. Vielleicht verschafft das Ihnen den Frieden, nach dem Sie sich sehnen.«
Das hoffe ich auch, dachte Ty und sah zu, wie sich Corso entfernte.
Die nächsten Stunden lenkte Ty sich von dieser Begegnung ab, indem er sich mit der nachgerüsteten Laborausstattung vertraut machte, ehe er den Mos Hadroch aus der Isolationskammer holte und in das Hauptlabor brachte. Das leichte Glühen des Artefakts war längst erloschen, und es erzeugte auch keine auralen Halluzinationen mehr, die nur Menschen mit irgendeiner Form von Gehirnimplantaten heimzusuchen schienen. Nun war der Mos Hadroch von einer Anzahl technischer Apparaturen umgeben, die weitaus bessere Analysen erstellen konnten als die Geräte in der Isolationskammer.
Das Artefakt steckte in einem Gerüst, das wiederum in eine riesige Multiphasen-Imager-Einheit montiert war. Dieser Imager war imstande, nahezu sämtliche erdenklichen Materialanalysen zu erstellen, die das wissenschaftliche und technische Personal der Mjollnir ausknobeln konnte. Auf einige Methoden musste man zumindest vorläufig verzichten; zum Beispiel hätte man den Mos Hadroch für eine Ultraschall-Spektroskopie mit einem Laser beschießen müssen, und Ty befürchtete, das Artefakt könnte dies als eine Art Angriff deuten und dementsprechend aggressiv reagieren.
Das Labor enthielt sogar eine Fabrikationseinheit, um weitere Geräte herzustellen, sollte dies erforderlich werden, und die Datenspeicher dieser Anlage waren angefüllt mit Tausenden von Konstruktionsplänen, die es ermöglichten, bestimmte Apparate binnen Stunden oder allenfalls wenigen Tagen anzufertigen.
Und dennoch zögerte Ty; er war sich nicht einmal sicher, wo er anfangen sollte. Er zog sich zurück, setzte sich auf einen Sessel und verbrachte fast eine volle Stunde damit, still vor sich hinzubrüten, während er den Mos Hadroch anstarrte.
Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich tun soll, gestand er sich letztendlich ein.
Laut Dakota Merrick war der Mos Hadroch lebendig; ganz gewiss war er mehr als nur eine Maschine, und im Inneren seines starren Gehäuses lauerte eindeutig etwas Intelligentes. Doch trotz all der ihm zur Verfügung stehenden Hightech-Instrumente beschlich Ty der Eindruck, diese Werkzeuge seien genauso nutzlos, als würde er versuchen, Stapel-Schaltungen umzupolen, indem er mit einem Brocken Feuerstein darauf einschlug.
Also hockte er nur da, dachte nach und fragte sich, ob diese fremdartige Intelligenz sich ein zweites Mal zu erkennen geben würde. Er lehnte sich zurück, als er merkte, dass der Adrenalinschub, der ihn während der letzten Tage wach gehalten hatte, allmählich abebbte.
Ihm wurde erst bewusst, dass er eingenickt war, als er ein paar Stunden später von dem hartnäckigen Summen einer Komm-Einheit geweckt wurde.
Der Laborkomplex war ausgestattet mit einer kleinen Kochnische, und aus einem der riesigen, hallenden Casinos der Fregatte hatte Ty sich einen Vorrat an Fertigmahlzeiten besorgt, die so verpackt waren, dass sie sich bei Bedarf selbst erhitzten. Während er darauf wartete, dass eine Portion warm wurde, trank er Wasser. Nachdem er das Essen hastig verschlungen hatte, begab er sich zum Luftschleusenhangar, wo Nancy Schiller und Ray Willis schon dabei waren, die Raumanzüge anzulegen.
»Du kommst zu spät«, kommentierte Nancy, die aussah, als hätte sie nicht mehr geschlafen, seit sie den Orbit um Redstone verlassen hatten. Außerdem bemerkte er, dass sie sich bemühte, ihm nicht in die Augen zu sehen. »Wo hast du während der letzten Tage gesteckt? In der Zentrifuge hast du dich gar nicht mehr blickenlassen.«
Ty hatte sich bereits gefragt, wann dieser Moment eintreten würde. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass mit dem Ende ihrer letzten gemeinsamen Reise auch ihre Affäre vorbei wäre. Er war nicht wenig betroffen gewesen, als er Nancy dann in dem konspirativen Haus wiederbegegnet war, nachdem er sich damit abgefunden hatte, sie nie mehr zu sehen.
»Im Labor«, erwiderte er, ging zu dem Gestell mit den Anzügen und nahm einen herunter. »Ich hatte viel zu tun.«
Nancy und Ray waren bald fertig angezogen; mit den Helmen in der Hand standen sie da, während Ty sich abmühte, sich in den unteren Teil des Anzugs zu zwängen.
»Worin genau besteht denn Ihre Arbeit?«, erkundigte sich Ray. »In Hinsicht auf den Mos Hadroch, meine ich.«
Sowie Tys Anzug erkannte, dass jemand ihn anlegte, begann er sich automatisch an seinen Körper anzupassen; an einigen Stellen straffte sich die Schulterpartie, und die Beinröhren streckten sich um ein paar Zoll in die Länge.
»Nun ja«, antwortete Ty, »wir vermuten, dass er irgendein Signal von sich gibt. Er könnte sogar lesbare Daten enthalten, ich müsste nur herausfinden, wie man sie entschlüsselt. Aber bei dem Mos Hadroch handelt es sich eindeutig nicht um ein totes Objekt. Als wir ihn aus dem Körper des Atn herausholten, erwachte er kurz zum Leben.«
»Ich entsinne mich, dass du dies bei der Besprechung erwähntest«, entgegnete Nancy. »Aber was konkret passiert ist, hast du uns nicht erzählt.«
Er zuckte die Achseln. »Hauptsächlich … glühte er ein bisschen. Und Merrick schien imstande zu sein, über ihre Implantate eine Art Signal aufzufangen, das er aussandte.«
Als der Name Merrick fiel, tauschten Nancy und Ray einen vielsagenden Blick. »Eine seltsame Person«, fand Ray. »Was wissen Sie über sie?«
»Ich weiß, dass sie in diese … äh … Sache verwickelt war, die auf Redstone passierte«, entgegnete er, wobei er sich anstrengte, einen möglichst beiläufigen Ton anzuschlagen. »Aber müssen wir jetzt nicht rausgehen?«, fragte er, auf die Reihe von Drucktüren in ihrer Nähe deutend.
»Noch nicht«, erwiderte Nancy. »Wir werden …«
Ein dröhnendes Alarmsignal schnitt ihr das Wort ab, drei rasch aufeinanderfolgende Huptöne, die sich anhörten, als würde jemand in ein Horn stoßen; das bedeutete, dass ein Transluminal-Sprung kurz bevorstand.
»In einer Minute springen«, beendete Nancy grinsend ihren Satz. »Danach können wir raus.«
Ty nickte, erleichtert, dass das Gespräch durch diesen glücklichen Umstand eine andere Wendung genommen hatte.
Als sie schließlich in das Vakuum des Alls hinaustraten, warteten mehrere spezialisierte Spinnen-Mechaniker bereits auf sie; ausgerüstet mit Werkzeugkästen schwebten sie ein paar Meter über der Außenhülle. Der Hyaden-Cluster hing nun weit hinter der Fregatte im leeren Raum, ein Bild wie von einem fernen Feuerwerk, festgehalten in einem ewig währenden Augenblick.
Ty stellte fest, dass er nicht so nervös war, wie er befürchtet hatte. Dieser Außeneinsatz war im Grunde nicht schlimmer, als sich auf der Oberfläche irgendeiner Zweigwelt der Atn zu bewegen. Er durfte nur nicht den Fehler begehen, sich das Schiff als einen gigantischen Metallturm vorzustellen, an dessen Wand er klebte …
Hoppla. Ein Schwindel packte ihn, und er konzentrierte sich darauf, nur auf die Außenhülle zu starren. Um sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen, atmete er ein paarmal tief durch und hielt dann kurz die Luft an.
Flacher Boden. Unter dir befindet sich nichts weiter als ein flacher Boden, sagte er sich pausenlos vor.
Nachdem der Anfall abgeklungen war, blickte er wieder den Schiffsrumpf entlang auf die flache Kuppel eines Energiefeldgenerators, der sich nur wenige Meter von ihm entfernt befand. Diese Vorrichtungen dienten nicht nur der Verteidigung, sondern waren in erster Linie dazu da, um interstellaren Schutt abzulenken, der sonst die Bordwand hätte durchschlagen können. Aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, nahm er sogar das schwache Funkeln der miteinander verbundenen Energiefelder wahr, die die gesamte Fregatte umgaben.
Direkt hinter dem Energiefeldgenerator ragte der erste von vielen Antriebsdornen auf, der sich in einer Krümmung von der Außenhülle wegreckte.
»Seht euch das an«, verlautbarte Willis, dessen Stimme in Tys Helm monoton klang und so nah wirkte, als spräche er dicht an seinem Ohr. »In nicht mal einer Sekunde haben wir diese gewaltige Strecke zurückgelegt.«
»So was Besonderes ist das doch gar nicht«, meinte Nancy. »Kernschiffe vollführten schon immer solche weiten Sprünge.«
»Ja, sicher, aber trotzdem …«
Ty wusste, worauf es Ray ankam. Im Inneren eines Kernschiffs sah und spürte man überhaupt nichts; man schaute immer auf denselben felsigen, von Stützpfeilern getragenen Himmel, ganz gleich, an welchem Ort der Galaxis man sich tatsächlich befand. Doch nach draußen zu gehen und mit eigenen Augen zu sehen, wo man gerade war, konnte in der Tat ein Ehrfurcht einflößendes Erlebnis sein.
»Dann wollen wir mal«, hob Nancy an, plötzlich voller Tatendrang. »Beim letzten Außeneinsatz musste ich ein paar Reparaturteams leiten, deshalb schlage ich vor, ihr macht einfach das, was ich euch sage, und alles wird laufen wie geschmiert.«
»Was ist mit den Spinnen?«, erkundigte sich Willis. »Könnten wir sie nicht vom Inneren der Fregatte aus steuern und ihnen den Job überlassen?«
»Das haben wir versucht«, erklärte Nancy, »doch es gibt immer ein paar knifflige Probleme, die man nur in Handarbeit lösen kann. Aber mit etwas Glück übernehmen die Spinnen die meiste Arbeit. Und jetzt kontrolliert eure Einsatzpläne.«
Pflichtgetreu schaltete Ty das Display in seinem Anzug ein, auf dem eine Liste erschien, in der die auszuführenden Reparaturen nach dem Rang der Dringlichkeit geordnet waren.
»Drei Antriebsdorne müssen sofort repariert werden, und sie alle befinden sich auf dieser Sektion des Rumpfs«, verlautbarte Nancy. »Mir nach.«
Ty benutzte Taue, auf Spulen gerollte silberne Kabel, die gleich unter den auf dem Rücken getragenen Lufttanks aus dem Anzug schossen und sich an der Bordwand verankerten. Er brauchte sich lediglich in die eine oder andere Richtung zu lehnen, und die Taue trugen ihn mit einer Geschwindigkeit von mehreren Stundenkilometern dorthin, indem sie sich in einer steten Wellenbewegung rasch zusammenzogen oder vorschnellten, um sich an die Außenhülle zu heften. Als er Willis und Nancy bei dieser Art von Fortbewegung beobachtete, fiel ihm auf, wie drollig diese Taue wirkten; es sah aus, als seien ihren Anzügen plötzlich spindeldürre Cartoon-Beine gewachsen.
Nancy hatte die Spinnen an ihren eigenen Anzug gekoppelt, so dass sie ihr in kurzem Abstand folgten, angetrieben von winzigen Gasschüben.
Schon bald erreichten sie den ersten Antriebsdorn. Während dieses kurzen, kaum messbaren Moments, in dem ein Raumschiff den Transluminalraum passierte, fielen oftmals elektrische Systeme aus, und die molekularen Bindungen der Außenhülle begannen sich an deren äußersten Enden aufzulösen. Niemand wusste, was mit einem Schiff passieren würde, wenn es auch nur wenige Sekunden länger im Transluminalraum bliebe, doch Ty vermutete stark, dass es dann gänzlich auseinanderfallen würde.
Am Fuß des ersten Antriebsdorns befand sich ein Gewirr von Stromkabeln, die in das Innere der Hülle führten und letzten Endes an einer der Plasmaleitungen mündeten. Ein paar Kabel hatten sich gelockert, und dieser Schaden ließ sich leicht beheben.
Der sich über ihnen wölbende Antriebsdorn sah an der Spitze grau und staubig aus, wie stark von Korrosion zerfressen. Ty erkannte, dass sich ungefähr in der Mitte eine Abdeckplatte gelöst und die darunterliegenden Schaltungen freigelegt hatte.
»Ray, könnten Sie schon mal vorgehen und die anderen Dorne inspizieren?«, schlug Nancy vor. »Um diesen hier zu reparieren reichen zwei Paar Hände völlig aus, und wir kommen vielleicht schneller voran, wenn wir wissen, was uns sonst noch erwartet, okay?«
»Äh … geht klar«, erwiderte Willis nach kurzem Zögen. »Sind Sie sicher, dass es nicht besser wäre, wenn …«
»Ja, ich bin mir sicher«, versetzte sie eine Spur zu scharf. »Außerdem müssen Nathan und ich noch über ein paar … technische Einzelheiten sprechen.«
Ah-ha, dachte Ty.
»Okay«, antwortete Willis, der alles andere als erfreut klang. »Okay, wird gemacht.«
»Danke«, erwiderte Nancy.
»Keine Ursache. Dann mal viel Spaß, Kinder«, grummelte Willis.
Ty sah ihm hinterher, wie er sich über die Außenhülle bewegte, gezogen von den intelligenten Tauen seines Anzugs, die in stetem Rhythmus vor- und zurückpeitschten.
Im nächsten Moment empfing Ty eine Anfrage nach einem Eins-zu-eins-Kanal, die er mit einem mulmigen Gefühl im Bauch akzeptierte.
»Das ist schon toll, findest du nicht auch?«, fragte Nancy. »Die Aussicht, meine ich.«
»Ja, einfach super«, stimmte Ty zu. »Wie ist es dir so ergangen, Nancy?«
In dem konspirativen Haus hatte eine herzliche Atmosphäre geherrscht, trotzdem hielt er es für das Beste, diese Beziehung im Keim zu ersticken. Corso hatte ihm befohlen, sich vom Rest der Crew fernzuhalten, und er konnte sich ziemlich gut vorstellen, wie der Senator reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Ty früher mit der Sicherheitschefin der Mjollnir geschlafen hatte.
»Nicht schlecht. Ist schon irgendwie verrückt, dass wir beide hier gelandet sind, nicht wahr?«
»Doch, kommt mir auch so vor«, entgegnete er lahm, weil ihm auf einmal die Worte fehlten.
Dann trat eine Stille ein, die ihm tiefer und leerer vorkam als das Vakuum rings um sie her. Er verspürte den starken Drang, etwas zu sagen. »Ich denke, wir waren beide sehr überrascht«, äußerte er und lachte ein bisschen.
Nancy stimmte ein, auch ihr Lachen klang reichlich gekünstelt. »Ja, da hast du allerdings Recht. Die ganze Sache war eine ziemliche Überraschung.«
»Was für eine Sache? Wovon sprichst du?« Würden sie überhaupt noch dazu kommen, die Reparaturen auszuführen?
»Von uns. Von dem, was … auf der letzten Reise passierte.«
»Schon gut, Nancy. Ich glaube, wir beide wollten uns nur ein bisschen …«
»Nein, das ist es nicht. Ich meine, eigentlich sollte ich das doch sagen, oder? Keiner erwartet was vom anderen, denn weder du noch ich hatten wohl damit gerechnet, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden.«
»Du hast Recht. Das kam völlig unverhofft.«
»Aber … jetzt sind wir nun mal wieder zusammen, und vielleicht kehren wir von dieser Reise nie mehr zurück. Und trotzdem glaube ich, dass keiner von uns allen bereut, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben.«
Nur dass du immer noch eine Wahl hast, hätte Ty beinahe gesagt. Jeder Schritt, den er unternommen hatte, war entweder auf eine glückliche Fügung des Schicksals zurückzuführen oder darauf, dass er sich so verzweifelt ans Leben klammerte. Für ihn hatte es nur zwei Alternativen gegeben: Er konnte entweder in Unity bleiben und Gefahr laufen, exekutiert zu werden, oder auf der Mjollnir mitfliegen und sich auf Gedeih und Verderb den Emissären ausliefern. Deshalb befand er sich jetzt an Bord der Fregatte.
»Das denke ich auch«, pflichtete er ihr bei. »Ich werde dich nicht belästigen, Nancy, wenn du in diese Hinsicht Befürchtungen hegst.«
Sie rückte näher an ihn heran. »Das hatte ich nicht gemeint.«
Etwas in ihrem Tonfall verriet ihm, dass sie darum rang, die richtigen Worte zu finden. Ty hatte gemerkt, dass Nancy keine Frau war, die ihre Gefühle offen zum Ausdruck brachte; nur in den intimsten Momenten ging sie aus sich heraus.
»Ich weiß nicht, was uns hier draußen erwartet.« Mit einer behandschuhten Hand winkte sie in Richtung der Sterne. »Und … wenn mir dann diese Gedanken kommen, möchte ich nicht gern allein sein.«
Einem jähen Impuls folgend, legte er eine Hand auf den Ärmel ihres Anzugs. Er blickte auf seine gespreizten Finger und sinnierte darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass sein eigener Körper ihn so verraten hatte.
»Du bist nicht allein«, äußerte er schließlich.
»Ich bin froh darüber, Nathan.« Sie wich ein Stück von ihm zurück, und als sie dann sprach, machte sie wieder einen beherrschteren Eindruck. »Ich … du weißt, wo du mich findest. Schau einfach irgendwann mal vorbei.«
»Mach ich«, hörte er sich antworten.
Sie setzte sich in Bewegung, plötzlich wieder ganz die Nancy, die er kannte – tüchtig und resolut.
Eigentlich hatte er nicht lange fackeln und mit ihr Schluss machen wollen; das war der einfachste Weg, um derlei Dinge zu handhaben. Doch jedes Mal, wenn er den Mund öffnete, um etwas in dieser Hinsicht zu sagen, war etwas völlig anderes herausgekommen.
Er rief eine der Spinnen zu sich, und während er anfing, in deren Werkzeugbox herumzukramen, dachte er fieberhaft nach. Auf welche Weise konnte Corso ihn überhaupt bestrafen, überlegte er. Vermutlich gab es nur sehr wenig, womit er ihn unter Druck setzen konnte.
Ty rief das Menü seines Anzugs auf, meldete sich bei Nancy, und erhielt prompt eine Antwort.
»Heute Nacht«, sagte er. »Bordzeit. Komm runter ins Labor.«
»Äh … brauchst du bei irgendwas Hilfe?«
»Allerdings«, bestätigte er grinsend. »So könnte man es nennen.«