Kapitel Fünfzehn
Für Ty gestaltete sich der Rückflug auf der Mjollnir äußerst problematisch. Kaum hatten er und Nancy sich in die Sicherheit der Fregatte geflüchtet, da sprang das Schiff auch schon an einen mehrere Hundert Lichtjahre entfernten Ort, während die Überreste des Atn in den Laborkomplex verbracht und dort weggeschlossen wurden. Als Ty die Laboratorien betreten wollte, wies man ihn zurück und teilte ihm kurz und bündig mit, dass er für den Rest der Reise keinen Zugriff mehr auf den Leichnam des Alien bekäme.
Sehr bald zeigte es sich, dass weit außerhalb der Fregatte politische Ränkespiele im Gange waren, über deren Natur Ty nur Mutmaßungen anstellen konnte. Martinez verschwand von der Brücke, und ohne Nancy hätte er vielleicht nie erfahren, dass man den Commander in seinem Quartier eingesperrt hatte, während sein Stellvertreter Simenon das Kommando übernahm. Weitere Mitglieder aus Martinez’ Stab wurden ebenfalls aus der Zentrifuge verbannt und durch eilig beförderte Crewangehörige ersetzt. Als Ty Simenon darauf ansprach, er möge ihm Zugriff auf die Leiche des Atn gewähren, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, die damit endete, dass man Ty endgültig verbot, die Brücke auch nur zu betreten. Er hatte sein Leben riskiert, um dieses Ding zu bergen, und jetzt schmetterte man jeden seiner Wünsche bezüglich seiner Entdeckung rundweg ab.
Nachdem sie nach Redstone zurückgekehrt waren, kamen Trupps von bewaffneten Soldaten an Bord und trennten Ty unverzüglich und ohne ein Wort der Erklärung vom Rest der Crew. Mit einem Shuttle beförderte man ihn nach unten in einen Raumhafen, wo man ihn in das fensterlose Heck eines Robot-Trucks verfrachtete, der sofort losbrauste.
Er hatte immer noch keine Ahnung, wohin man ihn brachte und ob er verhaftet war oder nicht.
Das Vehikel war über eine Stunde unterwegs, ehe es endlich anhielt und die Türen entriegelt wurden. Ty stieg aus und fand sich in einer Halle wieder, die eine unterirdische Garage zu sein schien. Ein Mann mit unglaublich breiten Schultern und einem wie aus Granit gemeißelten Gesicht nahm ihn in Empfang.
Ty entging nicht, dass die hellgrauen Augen des Mannes sich in dem Moment weiteten, als er ihn sah. Jawohl, dachte Ty, in dem sich zunehmend ein mulmiges Gefühl breitmachte. Jetzt ist es passiert. Der Mann versuchte sich eindeutig zu erinnern, woher er ihn kannte.
»Mr. … Driscoll«, brummte der Freistaatler. »Willkommen auf Redstone.«
Ty nickte und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Bei einem plötzlichen Geräusch zuckte er zusammen, bis er merkte, dass es nur das Rattern des Trucks war, der im Rückwärtsgang eine Rampe hochfuhr, die in eine Luftschleuse von Industriegröße führte.
»Ich bin Rufus Weil«, fuhr der Freistaatler fort. »Sie werden ein paar Tage hierbleiben.« Weil legte eine Pause ein, und wieder wanderte der Blick aus diesen blassgrauen Augen über Tys Gesicht, als überlege er, wie er ihn einordnen sollte. »Sollten Sie während Ihres Aufenthaltes etwas benötigen, geben Sie mir Bescheid.«
»Alles klar«, erwiderte Ty und beobachtete, wie die Innentür der Luftschleuse sich hinter dem Truck schloss. »Wo genau befinde ich mich? Und wieso bin ich überhaupt hier? Auf meine Fragen wollte mir keiner antworten.«
»Sie befinden sich in Unity, der Hauptstadt der Freistaatler-Gemeinschaft. Und man hat Sie aus Gründen der Sicherheit hierhergebracht. Es muss geklärt werden, wer die Jurisdiktion über die Mjollnir hat, und bis zu einer verbindlichen Entscheidung sollen Sie auf Wunsch des Senats hierbleiben.«
»Wie lange wird das dauern?« Ty war empört. »Und was ist mit dem … Fund, den ich geborgen habe?«
»Diese Dinge unterliegen der höchsten Geheimhaltungsstufe, Mr. Driscoll, und ich darf nicht darüber reden. Ich kann lediglich dafür sorgen, dass Sie es für die Dauer Ihres Aufenthaltes möglichst bequem haben, und Ihnen versichern, wie sehr wir es bedauern, Ihnen etwaige Unannehmlichkeiten zumuten zu müssen.« Mit einem Wink deutete er auf eine Reihe von Aufzügen in der Nähe. »Hier entlang, bitte.«
Ty rührte sich nicht vom Fleck. Es behagte ihm nicht, sich zusammen mit dem Freistaatler in einen kleinen, beengten Lift zu zwängen. Er wollte nicht länger als unbedingt nötig dem Blick aus diesen starren grauen Augen ausgesetzt sein, in denen ein stummer Vorwurf lag. »Was ist das für ein Gebäude? Bin ich ein Gefangener?«
»Nein, Sir, Sie sind ein Gast. Hier, in dieser Residenz, werden offizielle Besucher aus anderen Siedlungen untergebracht, wenn sie im Senat vorsprechen wollen. Ihnen steht eine ganze Suite zu Ihrer persönlichen Verfügung.« Abermals zeigte Weil auf den bereitstehenden Lift. »Bitte, kommen Sie jetzt. Sie werden nur wenige Tage hier sein.«
Ty dachte über einen Ausweg aus dieses Situation nach und gestand sich ein, dass es keinen gab. Er schluckte nervös und setzte sich auf die Reihe silbern glänzender Türen zu in Bewegung.
Als der Lift sie nach oben trug, schwiegen beide. Ty spürte, wie ihm auf der Stirn der Schweiß ausbrach. Das Innere des Aufzugs war verspiegelt, so dass er keine Möglichkeit hatte, Weils beharrlichem, vorwurfsvollem Starren auszuweichen. Und wenn Ty sich vorher noch hatte einreden können, seine Paranoia habe vielleicht die Oberhand gewonnen und er bilde sich alles nur ein, so verschwand auch noch der letzte Rest von Zweifel, als der Freistaatler fortfuhr, ihn beharrlich zu fixieren.
Mehrere Minuten später stand Ty zu seiner großen Erleichterung allein in einer Suite von wahrhaftig luxuriösen Ausmaßen, deren Panoramafenster Ausblick auf die Stadt boten. Er lauschte Weils Schritten, die draußen im Korridor verhallten, dann lehnte er seinen Kopf gegen die Tür und schöpfte ein paarmal tief Luft, bis er spürte, dass seine Nerven sich allmählich wieder beruhigten.
Er machte sich keine Illusionen; Weil wusste, wer er war – oder hegte zumindest einen starken Verdacht. Ty schätzte den Freistaatler auf Mitte bis Ende dreißig, gerade das richtige Alter, um an dem misslungenen, vom Konsortium unterstützten Schlag gegen die Uchidanischen Territorien vor mehr als einem Jahrzehnt teilgenommen zu haben. Obendrein schien er genau der Typ zu sein, der sich fragte, ob er Tys Gesicht nicht in irgendeiner lange zurückliegenden Nachrichtensendung gesehen hatte.
Doch selbst die jäh aufgebrochene Angst vor Enttarnung verdrängte nicht gänzlich seine Frustration, weil man ihn daran hinderte, den Atn zu studieren, den er unter Lebensgefahr aus der verlassenen Zweigwelt herausgeholt hatte. Er war fest davon überzeugt, dass innerhalb der staubigen Hülle eine Offenbarung wartete, die den Höhepunkt seiner gesamten beruflichen Laufbahn darstellen konnte – eine Entdeckung, die alle seine vergangenen Fehler und Irrtümer wiedergutmachte.
Ein Sessel war so platziert, dass er einen Blick durch ein Fenster gewährte. Erschöpft ließ er sich darauf fallen und starrte durch das Glas nach draußen. Ein Aufkleber warnte vor den tödlichen Konsequenzen, falls man das Fenster öffnete oder zerbrach, ohne eine Atemmaske zur Hand zu haben. Als Einheimischer von Redstone wusste er sehr wohl, wie schnell einen die Atmosphäre dieses Planeten umbringen konnte. Sollte es zum Schlimmsten kommen, blieb ihm immer noch die Möglichkeit …
Nein. Mit der Faust schlug er auf die Armstütze des Sessels, beugte sich nach vorn und fing an, auf einem Handknöchel zu kauen. Selbstmord kam für ihn nicht infrage. Er hatte gedacht, es sei das Ende, als die Territorien beschlossen, ihn an das Konsortium auszuliefern, und selbst dann war ihm die Flucht geglückt. Egal, wie die Dinge sich zuspitzten, es fand sich immer eine Lösung.
Ty brütete noch eine Weile vor sich hin, dann stand er auf und ging zur Tür. Zu seiner Erleichterung war sie nicht verriegelt, aber in einem Sessel am hinteren Ende des Korridors, neben dem Aufzug, saß ein Mann, der von seiner Statur und Ausstrahlung her ganz entschieden Rufus Weil glich.
»Sir«, sagte der Mann, während er sich erhob, »kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ty schüttelte den Kopf und zwang sich zu lächeln. »Nein, Danke.«
Er verdrückte sich wieder in die Suite, machte die Tür zu und lauschte dem Klicken, als das Schloss einrastete. Man hatte ihn nicht eingesperrt, und die Suite mochte noch so komfortabel sein – trotzdem war sie eindeutig auch ein Gefängnis.
Ein zweites Mal ließ er sich in dem Sessel vor dem Fenster nieder, sah zu, wie die Sonne ihre Bahn über den Himmel zog, und dachte nur nach.
Viel später wachte Ty auf und stellte fest, dass es dunkel geworden war.
Er schüttelte den Kopf, fuhr sich müde mit den Händen durch das Haar und wankte ins Badezimmer. Als er in einen Bademantel gehüllt die Dusche verließ, zeigte sich hinter der Fensterscheibe zögernd das erste Licht der Morgendämmerung.
Er warf sich aufs Bett und döste bald wieder ein.
Später am Morgen brachte derselbe Mann, dem man in der Nacht zuvor als seinen Bewacher abkommandiert hatte, ein Tablett mit einem Frühstück in die Suite. Er setzte es auf einem Tisch neben dem Sessel ab und legte noch ein in Folie gewickeltes Bündel dazu.
»Wer sind Sie?«, erkundigte sich Ty schlaftrunken.
»Hibbert, Mr. Driscoll.« Mit dem Kinn deutete er auf das Päckchen. »Da drin ist saubere Bekleidung zum Wechseln. Wenn die Sachen nicht passen, sagen Sie mir Bescheid.«
»Wo ist Weil geblieben?«
Der Freistaatler betrachtete Ty mit betont ausdrucksloser Miene. »Mr. Weil ist einer anderen Schicht zugeteilt, Mr. Driscoll. Lassen Sie sich das Frühstück gut schmecken.«
Trotz seiner unguten Gefühle aß Ty heißhungrig, begeistert, nach der einseitigen Schiffskost endlich wieder richtiges Essen zu sich nehmen zu können. Nachdem er fertig war, stellte er sich ans Fenster und beobachtete die Passanten, die tief drunten durch die Straßen der Stadt marschierten.
Natürlich gab es hier gewisse Ähnlichkeiten mit den Siedlungen der Uchidaner; auch in Unity verbanden unterirdische Tunnel die meisten Gebäude miteinander, und um ihre normalen Alltagsgeschäfte zu betreiben, brauchten die Bürger manchmal monatelang nicht ins Freie zu gehen. Die meisten Leute, die sich draußen aufhielten, waren Wartungsarbeiter.
Als er sich fit genug fühlte, aktivierte er das Komm-System der Suite, nur um festzustellen, dass es lahmgelegt war; er konnte keine Mitteilung verschicken. Er versuchte, Zugriff auf die lokalen Nachrichtendienste zu erlangen, doch sie waren samt und sonders blockiert bis auf einen, der ausschließlich über den laufenden Krieg mit den Uchidanischen Territorien berichtete.
Er zog sich an, ging abermals in den Korridor hinaus und entdeckte Hibbert, der wieder seinen Platz neben dem Aufzug eingenommen hatte.
»Meine Komm-Einheit funktioniert nicht«, erklärte Ty. »Ich kann keine Mitteilungen verschicken. Wie zum Teufel soll ich mit jemandem Kontakt aufnehmen, solange ich hier festsitze?«
»Es handelt sich um eine Schutzmaßnahme, Sir, und es könnte ein paar Wochen dauern, den Fall zu klären. Ich fürchte, Sie werden sich …«
»Ein paar Wochen?«, brüllte Ty und trat dicht an den Mann heran. »Weil sprach von ein paar Tagen!«
Hibbert schraubte seine imposante Gestalt in die Höhe und türmte sich vor ihm auf. »Bitte, Mr. Driscoll. Begeben Sie sich wieder in Ihre …«
Ty schob sich an Hibbert vorbei in Richtung des Lifts. Flugs presste Hibbert ihm etwas in die Seite, und dann lag Ty zusammengekrümmt auf dem Boden, während krampfartige Schmerzen seinen ganzen Körper durchzuckten. Nur vage bekam er mit, wie Hibbert ihn bei den Füßen packte und ihn in die Suite zurückschleifte.
Am nächsten Morgen servierte Weil ihm das Frühstück, desgleichen die Mittags- und Abendmahlzeit. Über das, was sich tags zuvor ereignet hatte, verlor er kein Wort, und Ty hütete sich zu riskieren, ein zweites Mal ausgeschaltet zu werden, versuchte nicht einmal, Weil in ein Gespräch zu verwickeln. Stattdessen ertrug er jedes Mal schweigend die spannungsgeladene Atmosphäre, bis Weil aus der Suite stakste und die Tür hinter sich schloss.
Der folgende Tag verlief ähnlich, desgleichen der Tag danach. Ty fand heraus, wenn er sich gegen das Fenster lehnte und senkrecht nach unten blickte, konnte er fast direkt unter sich einen Teil der Rampe sehen, die in die Tiefgarage führte. Er sah zu, wie unbemannte Versorgungsfahrzeuge durch die Luftschleuse hinein- und hinausfuhren. Aber die meiste Zeit hockte er in seinem Sessel und grübelte, den Blick auf die sich unten ausdehnende Stadt gerichtet.
Es dauerte ein Weilchen, ehe Ty begriff, dass die Komm-Einheit tatsächlich eine eingehende Nachricht anzeigte.
Mit hängenden Schultern lümmelte er sich im Sessel, schlürfte seinen Morgenkaffee und stierte auf das halbtransparente Fenster. Es war sein fünfter Tag in Gefangenschaft, die Reste seines Frühstücks lagen auf dem Tisch und warteten darauf, von Hibbert abgeholt zu werden.
Ungläubig glotzte er die Komm-Einheit an. Eine Nachricht? Wussten Lamoureaux und Willis, dass er hier war? Bemühten Sie sich, ihn rauszuholen?
Abrupt ging die Tür auf; er schnellte hoch, plötzlich überquellend vor nervöser Energie. Hibbert streifte ihn mit einem argwöhnischen Blick, bevor er sich dem Tisch näherte. Offensichtlich hatte er das leuchtende Message-Icon nicht gesehen, das über der Bildplatte der Komm-Einheit schwebte.
Schnell stellte sich Ty so hin, dass er Hibbert die Sicht auf die Komm-Einheit auch dann versperrte, wenn er sich bückte, um das Tablett hochzuheben.
Prompt erstarrte Hibbert und funkelte Ty drohend an; seine Gewaltbereitschaft war ihm deutlich anzusehen.
»Schöner Morgen«, platzte Ty heraus.
Hibbert setzte eine verächtliche Miene auf. »Sir«, gab er bloß zurück, schnappte sich das Tablett und verließ den Raum.
Als die Tür hinter Hibbert ins Schloss fiel, sackte Ty ein wenig in sich zusammen; dann wandte er sich der Komm-Einheit zu und öffnete die Nachricht.
Sie bestand aus einer chiffrierten Anweisung, versteckt in einem simplen Text. Die Mitteilung selbst schien einem uralten Spionagefilm zu entstammen.
Diese Nachricht löscht sich selbst binnen 300 Sekunden, nachdem sie geöffnet wurde. Wenn Sie die Residenz des Senats verlassen wollen, stellen Sie sich an das Fenster Ihrer Suite, mit dem Gesicht nach draußen, und winken Sie mit der linken Hand.
Die Reaktion erfolgt spätestens eine halbe Stunde danach. Bitte halten Sie sich bereit zur Flucht.
Tys Blick schweifte wieder über die Stadt, und ihm wurde bewusst, dass er sich einer ganzen Metropole präsentierte. Jeder beliebige konnte ihn aus irgendeinem der vielen tausend Fenster beobachten. Am liebsten hätte er sofort mit der Hand gewedelt, doch etwas hinderte ihn daran.
Er sagte sich, wenn Lamoureaux oder Willis hinter der Botschaft steckten, hätten sie doch bestimmt einen Weg gefunden, sich ihm als Absender zu erkennen zu geben. Wie konnte er sicher sein, dass die Nachricht nicht eine Falle war – dass nicht irgendein Killer, bewaffnet mit einem Gewehr und im Bunde mit Weil, versuchen würde, ihn mit einem Schuss aus großer Distanz umzulegen?
Er fühlte sich als Gefangener seiner eigenen Unschlüssigkeit.
Als er sich dann endlich wieder der Nachricht zuwandte, die wie eine Fata Morgana in der dunklen, flachen Vertiefung des Bilderzeugers hing, bekam er nur noch mit, wie sie sich selbst löschte.
Spätnachts öffnete Ty die Augen und merkte, dass ihm jemand eine scharfe Klinge gegen den Hals presste. Dann legte sich eine Hand schwer auf seinen Mund.
»Keinen verdammten Mucks!«, grollte Weil, der sich über ihn beugte. »Hast du gehört? Ein Piepser, und ich ziehe dir bei lebendigem Leib die Haut ab, ehe ich dir die Kehle durchschneide.«
Ty nickte; ihm wurde schwindelig, als die Klinge sich in sein Fleisch drückte. Er hatte nicht einmal geschlafen, sondern mit geschlossenen Augen auf dem Bett geruht. Weil hatte sich ins Zimmer geschlichen und ihm das Messer an die Kehle gesetzt, ohne das geringste Geräusch zu verursachen.
»Ich weiß, wer du bist«, zischte Weil. »Ich wusste es in der Sekunde, in der ich dich zu Gesicht kriegte. Ich gehörte zu dem Sondertrupp, der losgeschickt wurde, um dich im Zuge der Auslieferung von den Territorien abzuholen, aber du entkamst, bevor wir dich in Gewahrsam nehmen konnten.«
Ty keuchte; pfeifend entwich sein Atem durch die Nasenlöcher. Seine Blase stand kurz davor, sich in einem Schwall von Urin zu entleeren.
»Du und diese anderen Uchidanischen Gottesficker sind schuld daran, dass ich einen Bruder verlor. Er war nicht mal ein Soldat, bloß ein Lehrer – eine ganze Schule wurde weggebombt. Wir hatten nicht mal eine Leiche, die wir begraben konnten. Wegen dir!«
Ty spürte den feuchten, warmen Atem des Mannes auf seinem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wie lange sie dich hier festhalten werden«, fuhr Weil fort, »aber es kotzt mich an, dass ich dich bedienen muss. Am liebsten würde ich dich jetzt gleich töten«, fügte er hinzu, während er das Messer noch ein bisschen näher an Tys Halsschlagader heranbrachte. Der Druck der Klinge brannte wie Feuer auf seiner Haut. »Verstehst du, was ich dir sage?«
Ty vergegenwärtigte sich, dass der Mann auf eine Antwort wartete, und er nickte unter dem Gewicht der Hand, die auf seinen Mund drückte.
»Ich habe meine Vorgesetzten gewarnt. Ich sagte ihnen, wer du bist, aber sie wollten nicht, dass ich dich umbringe. Nur wegen irgendetwas an Bord dieser Fregatte.« Weil führte sein Gesicht noch dichter an das seine heran. »Aber ich scheiß drauf! Sowie ich den Eindruck kriege, dass du dich von hier wegmachst, komme ich zurück. Ich und mein Freund hier«, legte er nach, die Klinge leicht bewegend. »Hast du Angst? Du hast verdammt Grund, dir vor lauter Angst in die Hose zu scheißen, Whitecloud. Denn mit dir bin ich noch nicht fertig!«
Plötzlich war der Druck gegen seine Kehle weg; Ty setzte sich aufrecht hin, fing an zu hyperventilieren und umklammert noch mit beiden Händen seinen Hals, als Weil durch die Tür huschte und sie hinter sich zuknallte.
Auf wackeligen Beinen erhob sich Ty vom Bett und taumelte zum Sessel; er ließ sich hineinfallen, krümmte sich zusammen und stöhnte vor Entsetzen.
Nach und nach heftete sich sein Blick auf die dunkle Stadt hinter dem Fenster. Es war töricht von ihm gewesen, so lange zu zögern; alles war besser, als hier noch eine Sekunde länger als nötig auszuharren.
Mit der rechten Hand stützte er sich an der Fensterscheibe ab und blickte nach unten; er konnte gerade noch die Rampe direkt unter sich ausmachen. Selbst wenn es ihm gelänge, das Glas zu zertrümmern, sogar wenn er eine Atemmaske zur Hand hätte, würde er durch den Aufprall am Boden sterben.
Stattdessen reckte er seine linke Hand in die Höhe und schwenkte sie mehrere Male in einem Bogen von links nach rechts.
Ob sie ihn auch jetzt noch beobachteten, mitten in der Nacht. Vielleicht nicht.
Doch wenn ja, dann gab es nur eine Möglichkeit, um sich zu vergewissern.
Kurze Zeit später – er schätzte, dass nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen waren – bemerkte Ty Fahrzeugscheinwerfer, die sich auf einer langen Straße der Residenz näherten, bevor sie die Luftschleusen-Rampe hinabtauchten. Bei genauerer Betrachtung entpuppte sich das Vehikel nur als einer der üblichen unbemannten Versorgungstrucks.
Er setzte sich wieder hin und fühlte sich seltsam enttäuscht. Dann hörte er ein fernes, gedämpftes Scheppern, als die Luftschleusentür sich öffnete und wieder schloss. Er schluckte und fuhr fort, auf die in der Schwärze glänzenden Lichter der Stadt zu starren, während er sich fragte, wer außer ihm noch aus irgendeinem Fenster sah, und was diese Leute wohl dachten.
Ein irrsinniger Lärm ließ das Gebäude erbeben. Drinnen wie draußen schrillten Alarmsirenen.
Im Korridor erklangen polternde Schritte und Gebrüll, und zu seinem Schreck bemerkte er, dass das Fenster seiner Suite jede Menge sternförmige Risse aufwies. Schon driftete Rauch daran vorbei.
Ty sprang hoch und hetzte zur Tür. In der Botschaft hatte man ihn aufgefordert, er solle sich zur Flucht bereithalten. Aber bedeutete das, dass er hier einfach abwarten sollte, oder musste er auf eigene Faust versuchen, aus dem beschädigten Gebäude herauszukommen?
Ihm fiel Weils Drohung wieder ein, und er beschloss, nicht zu warten.
Er öffnete leise die Tür und riskierte einen Blick nach draußen, in Richtung der Aufzüge. Weil saß nicht mehr auf seinem Posten. Sehnsüchtig schielte er zu den Lifts, fand jedoch, es sei viel zu gefährlich, einen zu benutzen.
Also trat er auf den Korridor hinaus und schlug eilig den entgegengesetzten Weg ein, eine Tür ansteuernd, die in einen Treppenschacht führte. Aus tiefer liegenden Etagen quoll Rauch nach oben.
Er sauste hinunter, mit jedem Schritt drei bis vier Stufen auf einmal nehmend, und je tiefer er kam, umso mehr Qualm verpestete die Luft. Es stank eindeutig nach brennendem Kunststoff, doch er nahm noch einen anderen Geruch wahr, den er nicht so recht identifizieren konnte.
Nach einer Weile erkannte er, dass es sich um den unverwechselbaren Gestank von Redstones Luft war, was bedeutete, dass die atmosphärische Abdichtung des Gebäudes ein oder vermutlich sogar mehrere Lecks bekommen hatte.
Er flitzte noch ein paar Stockwerke weiter hinab, bis er zu einem Kasten mit Glasscheibe gelangte, der an der Wand hing und billige Not-Atemmasken enthielt. Ty schlug die Scheibe ein und streifte sich hastig eine Maske über.
Von oben näherten sich schwere Schritte.
Ty beugte sich über das Geländer, spähte hinauf und entdeckte Weil, der sich mehrere Etagen über ihm befand und mit hasserfüllten Blicken auf ihn hinunterstarrte.
Ty nahm die letzten Stufen in Angriff und rannte durch eine Tür, die in ein ebenerdiges Foyer im Atriumstil führte; an einem Ende der Halle befand sich die Rezeption. In die gegenüberliegende Wand waren Aufzüge eingebaut, und die Tür eines Lifts stand halb offen, vermutlich war sie blockiert. Aus der Kabine wälzten sich dichte, schwarze Rauchschwaden und krochen nach oben zur Decke.
Verzweifelt nach rechts und links blickend lief er in die Mitte der Halle, doch außer ihm schien sich niemand im Foyer aufzuhalten.
Irgendwo in seiner Nähe erklangen Stimmen, just als seine Atemmaske Pieptöne von sich gab, um ihn zu warnen, dass der Qualm die Filter verstopfte. Quer durch das Foyer rannte er zu einer Stelle, an der mehrere wandhohe Fenster zertrümmert waren; unter seinen Stiefeln knirschte das Glas. Als er durch ein zersplittertes Fenster nach draußen schlüpfte, hörte er in der Ferne das Jaulen von Sirenen.
Unschlüssig blieb er stehen, während der bitterkalte Wind wie ein Messer in seine Haut schnitt. Wohin sollte er sich wenden?
Unversehens hielt vor ihm ein kleines, unbemanntes Taxi. Ty starrte das Vehikel skeptisch an, dann kletterte er hinein.
Das Taxi vollführte eine Wende um hundertachtzig Grad und brauste den Weg zurück, den es gekommen war. Als Ty durch die Heckscheibe schaute, sah er, wie Weil auf die Straße trat. Rasch zog er den Kopf ein und betete, der Kerl möge ihn nicht entdeckt haben.
Der Wagen flitzte in Richtung Stadtzentrum, wo die Bauwerke höher waren und denselben klotzigen, strengen Stil aufwiesen, den man in jeder Freistaatler-Siedlung antraf. Ungefähr zehn Minuten nachdem das Taxi ihn vor der Residenz aufgenommen hatte, schoss das Gefährt die Rampe einer Tiefgarage hinunter, die zu einem der einheitlichen Hochhäuser gehörte, die sich wie eine Kette aus gigantischen Kästen aneinanderreihten.
Eilig stieg er aus und zog die behelfsmäßige Atemmaske von seinem Gesicht; im selben Moment gab ein Aufzug einen leisen Klingelton von sich. Er fasste das als Aufforderung auf, die Kabine zu betreten.
Eine Minute später landete Ty ein paar Stockwerke höher in einer anscheinend leeren Etage. Die Wände bestanden aus kahlem Zement, und dort, wo noch elektrische Leitungen und Kommunikationssysteme installiert werden mussten, klafften Löcher. Er wanderte einen langen Flur entlang und spähte durch jede Tür, bis er schließlich einen Büroraum fand, der ein paar Einrichtungsgegenstände aufwies: einen wuchtigen Ledersessel und eine teuer aussehende Kombination aus Imager und Tach-Net-Anlage. Überall lag noch haufenweise Verpackungsmaterial herum.
Der Imager aktivierte sich, als Ty zum Sessel ging. Das Gerät zeigte kurz das Hersteller-Logo in irisierendem 3D-Format, ehe der Kopf und die Schultern eines offensichtlich computergenerierten Avatars erschienen.
»Mr. Whitecloud«, begann der Avatar. »Danke, dass Sie gekommen sind. Nehmen Sie bitte Platz.«
Auch die Stimme war künstlich erzeugt, das verrieten die deutlich erkennbaren Pausen zwischen den einzelnen Worten; als würde derjenige, der zu ihm sprach, seine Botschaft lieber in eine Tastatur eintippen als sein eigenes Organ von den in die Maschine integrierten Stimmenwandlern verzerren zu lassen.
»Ich repräsentiere den Geheimdienst der Konsortium-Legislatur«, fuhr der Avatar fort. »Wir brachten Sie hierher, um über das Artefakt zu sprechen, das Sie geborgen haben.«
Ty setzte sich. »Woher soll ich wissen, dass Sie die Wahrheit sagen?«, gab er unverblümt zurück. Aus irgendeinem Grund überraschte es ihn nicht, dass sein anonymer Gesprächspartner seine wahre Identität kannte. »Und wieso schicken Sie nicht einfach einen echten Menschen zu mir?«
Der Avatar ignorierte seine Fragen. »Wir glauben, dass Dakota Merrick und Lucas Corso eine neue Expedition planen, und dass sie beabsichtigen, tief in das Territorium der Emissäre einzudringen.«
Verdattert starrte Ty das Bild an. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Man wird Sie für diese Expedition anwerben. Wir wollen, dass Sie auf den Vorschlag eingehen und uns Bericht erstatten, wenn wir Sie dazu auffordern.«
Ty fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und schaute sich um. »Warum zum Teufel sollte ich mich als Spitzel zur Verfügung stellen? Ist das der einzige Grund, weshalb Sie mich hierherschleppten?«
»Wenn es Ihnen lieber ist, dann bin ich gern bereit, den Freistaatler-Behörden Ihren derzeitigen Aufenthaltsort mitzuteilen, zusammen mit den Details über Ihre wahre Identität.«
»Warten Sie!«, Ty erhob sich halb aus dem Sessel. »Warten Sie nur eine Minute.« Er legte eine zitternde Hand auf seine Stirn. »Also gut. Aber wie soll ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen?«
»Wir können mit Ihnen über ein codiertes Tach-Net-Link in Verbindung bleiben. Die Einzelheiten sind auf dem Datenring gespeichert, der vor Ihnen auf dem Imager liegt.«
Ty blickte auf die Imager-Scheibe und bemerkte erst jetzt, dass ein silberner Datenring darauf lag; er traf jedoch keine Anstalten, danach zu greifen. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, hart am Rand eines steilen Abgrunds entlangzutaumeln.
»Mr. Whitecloud«, insistierte der Avatar. »Bitte nehmen Sie den Ring an sich. Die darin enthaltenen Daten bedienen sich einer extrem robusten Form von Verschlüsselung, mit deren Hilfe sich ein sicheres Kommunikations-Link einrichten lässt, während die eigenen Aktivitäten unentdeckt bleiben.«
Ty rührte sich immer noch nicht. »Stimmt das wirklich? Dass Merrick und Corso eine Expedition zu den … Emissären planen?«
Der Avatar gab keine Antwort.
Ty stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich aus meinem Gefängnis raugesholt haben, aber jetzt wird man nach mir suchen. Wohin soll ich gehen?«
»Kehren Sie in die Residenz zurück. Sagen Sie, Sie seien geflüchtet, weil Sie dachten, das Gebäude würde angegriffen; dieser Teil entspricht sogar der Wahrheit. Der Sprengstoff, der benutzt wurde, wird die Ermittler auf die Spur einer im Untergrund tätigen Einheit der Uchidaner führen, die momentan eine Zelle in Unity unterhält und von der Hauptstadt aus ihre Anschläge inszeniert. Kopflos vor Angst, sprangen Sie in das erste Fahrzeug, das Sie sahen. Aber«, legte der Avatar nach, »Sie müssen den Ring mitnehmen. Das ist unumgänglich.«
Ty beäugte den Ring. »In der Residenz bin ich nicht sicher«, klagte er. »Zu meinen Bewachern gehörte ein gewisser Rufus Weil. Er behauptete mich zu kennen und drohte, eher würde er mich umbringen als zuzulassen, dass ich mich aus dem Staub mache.«
Der Avatar blickte ihn so lange schweigend an, dass Ty sich schon fragte, ob sein Gesprächspartner überhaupt noch anwesend war.
»Begeben Sie sich auf direktem Weg nach unten zu dem Taxi, das Sie hierherbrachte. Es wird Sie zu einer nahe gelegenen Polizeistation fahren«, erwiderte der Avatar schließlich. »Dort erzählen Sie, Sie seien vor der Residenz in das Taxi gestiegen und hätten es um Hilfe gebeten, worauf es Sie an diesem Polizeiposten ablieferte. Kein Wort davon, dass Sie hier waren, Mr. Whitecloud. Und selbstverständlich werden Sie unter dem Namen Nathan Driscoll auftreten.«
»Und was ist mit Weil?«, beharrte Ty.
»Mit etwas Glück, brauchen Sie sich wegen dieses Mannes keine Sorgen mehr zu machen.«
»Aber …«
Halt die Klappe und sei froh, dass du noch am Leben bist, ermahnte sich Ty. Alles war besser, als in dem Gebäude gefangen zu sein, in dem dieser messerschwingende Irre herumspukte.
Er starrte auf den Ring, der immer noch auf der Imager-Scheibe lag, und streckte spontan die Hand danach aus.
Exakt in dem Moment, indem seine Finger den Ring berührten, spürte Ty einen stechenden Schmerz in einer Schläfe; er kniff die Lider zusammen und gewahrte in einem Augenwinkel einen winzigen Lichtfunken.
Panik übermannte ihn. Wie hatte er nur so dumm sein können? Warum hatte er sich so leicht übertölpeln lassen …
Dann wusste er nur noch, dass er immer noch in dem Sessel saß; der Avatar war verschwunden, und die Komm-Einheit hatte sich abgeschaltet.
Da war etwas gewesen, das ihm große Sorgen bereitete, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, worin das Problem bestand.
Wie benebelt glotzte er auf den Ring in seiner Hand, dann schob er ihn über einen Finger. Er fühlte, wie sich der Ring leicht zusammenzog, bis er sich eng an das Fleisch schmiegte.
Als Nächstes wanderte er auf demselben Weg, den er gekommen war, durch die leeren Büroräume zurück, zermürbt von der wie er wusste völlig irrationalen Angst, Weil könnte plötzlich um irgendeine Ecke auftauchen und ihn mit dem Messer attackieren. Er unterdrückt die Furcht und dachte: Ich habe einen weiteren Tag überlebt. Ich werde auch morgen noch am Leben sein, und übermorgen und überübermorgen … Es war, als würde man einen Fuß vor den anderen setzen oder atmen, indem man Zug für Zug die Luft einsog und wieder ausstieß. Man tat, was man tun musste, um zu überleben und seinen Feinden stets einen Schritt voraus zu sein.
Auf diese Weise schaffte er es bis in den Aufzug und zu dem wartenden Taxi zurück.