Kapitel Sechzehn
Die Mjollnir besaß einen runden, stumpfen Bug, und im ersten Drittel des Rumpfes befand sich ein dicker Wulst, in dem sich eine Innenzentrifuge verbarg, die durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugte. Zum Heck hin verjüngte sich das Schiff ein wenig, ehe es wieder breiter wurde; die hier untergebrachten Fusionstriebwerke waren so leistungsstark, dass sie die Fregatte bei maximaler Zündung in wenigen Tagen durch ein halbes Sonnensystem befördern konnten. Zurzeit jedoch schwebte die Mjollnir friedlich im Orbit über Redstone, eingesponnen in ein Netz aus Wartungsbuchten, in denen Druckausgleich herrschte. Sowie die Arbeitstrupps die Reparaturen an der Außenhülle beendet hatten, würde man das Gerüst wieder abbauen.
»Brücke der Mjollnir an die im Anflug befindlichen Shuttles«, meldete sich eine Stimme in Corsos Ohr. »Wir müssen die Details Ihrer Ladeliste bestätigen. Mit wem spreche ich?«
Corso blickte auf die drei anderen Personen, die hinter ihm in dem Versorgungsshuttle saßen. Genau wie er trugen auch sie unförmige, gepanzerte Raumanzüge, obwohl sie die Helme vorläufig noch nicht aufgesetzt hatten. Er sah Leo Olivarri, Eduard Martinez und Dan Perez. Perez war auf der Mjollnir technischer Leiter gewesen, bis er wie Nancy Schiller von seinem Posten abgesetzt wurde, weil er loyal zu Martinez stand.
Olivarris Boss, Ray Willis, befand sich in einem zweiten Shuttle, der parallel zu ihrem Schiff flog; bei ihm waren noch Ted Lamoureaux, Nancy und Ty Whitecloud. Die drei Crewmitglieder der Fregatte hatten nicht die geringste Ahnung, dass der Mann, den sie als Nathan Driscoll kannten, in Wahrheit jemand anders war.
Perez gab ihm ein Handzeichen, und Corso schaltete das Link zur Mjollnir auf Standby.
»Ihr Name lautet Herera«, instruierte Perez Corso. »Victor Herera.«
»Wieso zum Teufel fragt er nach?«
Perez hob und senkte die Schultern. »Es wird nur eine der üblichen Sicherheitsmaßnahmen sein. Wahrscheinlich haben wir nur Pech, dass sie uns ausgesucht haben.«
Corso öffnete wieder die Komm-Verbindung. »Entschuldigung, Brücke, wir haben im Moment Systemstörungen. Sie sprechen mit Captain Herera, Ladeliste Fünf Alpha Zero.« Dann fügte er hinzu: »Gibt’s Probleme da oben?«
»Keine Probleme«, antwortete eine gelangweilt klingende Stimme am anderen Ende. »Heute früh wurde die Sicherheit nur ein paar Stufen hochgefahren.«
»Haben Sie eine Vorstellung, warum?«, fragte Corso betont lässig.
»Nicht die geringste, aber docken Sie bitte an Bucht Drei an und nicht an Vier. Tut mir leid. Over and out.«
Corso drehte sich um und fasste die Männer hinter ihm ins Auge. »Halten Sie es für möglich, dass die spitzgekriegt haben, wer wir sind?«
Perez’ Antwort war kurz und bündig. »In diesem Fall, Senator, wären wir bereits tot.«
Corso nickte und wandte sich wieder den Monitoren zu, während er sich bemühte, seine wachsende innere Anspannung zu ignorieren.
Die letzten Zweifel, die Corso bezüglich der Absichten des Senats gehegt haben mochte, waren ein paar Nächte zuvor verflogen, als Marcus Kenley in einem gestohlenen Taxi bei ihm auftauchte; das elektronische Gehirn des Vehikels hatte er manipuliert, damit es weder seinen Passagier noch dessen Verbleib verraten konnte. Kenley überbrachte die Neuigkeiten, dass mehrere Personen, die Corso im Senat unterstützten, während der letzten Stunde verhaftet worden waren.
Corso zog sich eilig an, und dann bemerkte er, dass Kenley ebenfalls den Geschwindigkeitsbegrenzer des Taxis manipuliert hatte, denn das kleine Gefährt beschleunigte mit einem erschreckenden Tempo und wäre in einer scharfen Kurve beinahe umgekippt.
Nachdem Jarret den Zweikampf verloren hatte, hatte Kenley sich eifrig bemüht, in der Umgebung von Unity konspirative Häuser einzurichten, und bald erreichten sie am Stadtrand ein Gebäude im Kolonialstil. Es handelte sich um eine Zusammenballung von altmodischen Druckausgleichskuppeln wie aus einem historischen Film.
Griffith und Velardo befanden sich bereits dort und organisierten mit Hilfe sicherer Daten-Netz-Verbindungen weitere Rettungsaktionen. Olivarri und Willis trafen frühmorgens ein, zusammen mit ein paar Nachzüglern, die ebenfalls Geschichten erzählen konnten, wie sie nur mit knapper Not der Senatspolizei entwischt waren.
Zuerst berichteten die öffentlichen Nachrichtensender von Chaos in den Straßen rund um den Senat, doch als die Sender dann offline gingen, wusste Corso, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatten und ein Gegencoup im Gange war. In den kommenden Nächten hielt er sich mit einer Mischung aus Kaffee und Amphetaminen wach und stürzte sich darauf, die letzten Einzelheiten eines Plans auszutüfteln, wie sie die Kontrolle über die Mjollnir erlangen konnten, ehe man sie aus dem Orbitalraum um Redstone entfernte.
Kenley verschwand und kehrte ein paar Stunden später mit Dan Perez im Schlepptau zurück; beide Männer machten sich wieder auf den Weg, dieses Mal begleitet von Ray Willis, um den Kommandanten der Mjollnir zu befreien. Stunden vergingen, bis sie endlich Martinez in den Unterschlupf brachten. Die Männer sahen verdreckt und erschöpft aus, und Willis’ Gesicht war mit Blut verschmiert, das offensichtlich nicht von ihm stammte.
Unterdessen hatte man Whitecloud in einem gesicherten Regierungsgebäude aufgespürt, doch ehe jemand dort eintreffen und ihn herausholen konnte, war in dieser Residenz eine Bombe explodiert, und Whitecloud war verschwunden.
Sein späteres Wiederauftauchen in einer Polizeistation der Stadt, Kilometer von der Residenz entfernt, warf Fragen auf, mit denen Corso sich aus Zeitmangel nicht beschäftigen konnte. Sympathisanten innerhalb des senatseigenen Sicherheitsdienstes deichselten es, dass man Whitecloud in eine weniger streng bewachte Einrichtung überführte. Dann genügten gefälschte Papiere, um ihn dort herauszuholen und zu den anderen in das Versteck zu bringen.
Weit mehr Kopfzerbrechen bereitete Corso der Umstand, dass Dakota sich nicht blickenließ; sie tauchte nicht einmal auf, als der Aufbruch zur Mjollnir näher rückte. Ihre Abwesenheit quälte ihn wie ein schmerzhaftes Magengeschwür, denn ohne sie wäre alles, was er so akribisch geplant hatte, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Seine Stimmung schwankte zwischen Wut und tiefer Niedergeschlagenheit, aber es war ihm nicht möglich, sie zu kontaktieren, nicht einmal durch Lamoureaux, nachdem dieser in dem konspirativen Haus eingetrudelt war.
Es kam der Punkt, an dem Corso aus schierer Übermüdung vor einem Bildschirm einschlief; als er aufwachte, rechnete er nach, dass zweiundsiebzig Stunden vergangen waren, seit er sich nur um Haaresbreite einer Verhaftung hatte entziehen können. Er blickte auf die Leute, die entweder vor Monitoren saßen, sich leise über abhörsichere Leitungen unterhielten oder auf Matten auf dem Fußboden schliefen.
Im Verlauf der nächsten vierundzwanzig Stunden würden die meisten von ihnen sich durch Kenleys Untergrund-Netzwerk in alle Richtungen zerstreuen und sich auf andere Verstecke verteilen. Einige wenige jedoch, ihn selbst eingeschlossen, würden anstelle des Techniker-Teams, das abkommandiert war, um die abschließenden Reparaturen an der Mjolllnir zu prüfen, zwei Shuttles besteigen.
Jedenfalls sah das sein Plan vor. Aber ohne Dakota ließ sich nichts von alledem verwirklichen, worauf sie hingearbeitet hatten.
Corso aktivierte das Interface des Shuttles und sah, dass ihnen bis zum Andocken an die Fregatte nur noch ein paar Minuten blieben. Er tippte auf einen Schirm, ehe er sich zu Martinez umdrehte. »Ich teile dem anderen Shuttle unseren neuen Kurs mit. Aber es wird nicht der sein, den die Mjollnir erwartet.«
»Senator?«
»Wenn man am Boden bereits Verdacht geschöpft hat, könnten sie uns in eine Falle locken. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein bewaffnetes Empfangskomitee. Gehe ich recht in der Annahme, dass jede Andockbucht mit einer Notschleuse versehen ist, die durch ein Signal von außen geöffnet werden kann?«
»Ja, mit dem richtigen Code geht das«, bestätigte Martinez, »aber dann merken sie sofort, dass wir etwas im Schilde führen.«
»Vielleicht ist ohnehin alles zu spät. Geben Sie mir trotzdem den Code.«
Martinez übermittelte ihm den Code durch ihre miteinander vernetzten Anzug-Komm-Systeme, während Corso auf den Bildschirm vor sich starrte und beobachtete, wie die Fregatte von Sekunde zu Sekunde größer wurde.
Er gab die Kurskorrektur ein. »Wir steuern Bucht Fünf an.« Sonnenlicht brach über den Rand des unter ihnen schwebenden Planeten und wurde von den externen Sensoren des Shuttles zu einem milden Glühen herabgedämpft. Ein Bildschirm zeigte Wolken, die über die Mount-Mor-Halbinsel drifteten, und der breite, geschwungene Küstenstreifen, an dem Port Gabriel lag, schimmerte im Westen. Warnleuchten begannen zu blinken, als die beiden Shuttles sich den Andockportalen dicht am Bug der Mjollnir näherten.
»Mjollnir an den führenden Shuttle«, meldete sich die Stimme von der Brücke. »Sie fliegen in die falsche Richtung. Bitte gehen Sie auf Ihren ursprünglichen Kurs zurück.«
»Wir haben Probleme mit unseren automatischen Leitsystemen«, improvisierte Corso. »Sie reagieren nicht auf Ihr Andocksignal. Wir versuchen zu kompensieren, aber es ist verdammt knifflig.«
Er hörte, wie sich der Offizier am anderen Ende der Verbindung vom Mikrofon abwandte, um mit jemand zu sprechen, aber die gemurmelten Worte konnte er nicht verstehen. Dann war die Stimme wieder online. »Wir haben soeben die Bordsysteme Ihres Shuttles gecheckt, und sie scheinen einwandfrei zu funktionieren. Dies ist die letzte Warnung, Captain Herera. Steuern Sie umgehend Bucht Drei an.«
Corso unterbrach den Link, drehte sich um und sah seine Mitpassagiere an. »Hat jemand eine Idee?«
Martinez zuckte mit den Schultern. »Verdammter Mist, es sind nur noch dreißig Sekunden bis zum Andocken. Benutzen Sie die Override-Befehle, um die Schleuse zu öffnen, und geben Sie sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. Falls sie jetzt noch nicht wissen sollten, wer wir sind, werden Sie ziemlich schnell merken, dass sie es nicht mit der erwarteten Techniker-Crew zu tun haben.«
Corso nickte und tippte die Override-Sequenz ein. Im nächsten Moment meldete sich wieder die Brücke der Mjollnir.
»Brücke an Shuttle, docken Sie an, ohne an Bord zu kommen. Wiederhole: Docken Sie an, ohne an Bord zu kommen, Captain Herera. Haben Sie verstanden? Docken Sie an den äußeren Wartungsbuchten an, nicht an der Mjollnir selbst. Wenn Sie an Bord kommen, betrachten wir dies als eine feindliche Handlung.«
Corso streckte die Hand aus und kappte die Verbindung. Die Mjollnir schien auf sie zuzurasen und sperrte die dahinter funkelnden Sterne aus. Auf den Displays sah er nur noch eine Wand aus grauem Metall, die sich ausdehnte.
Direkt vor ihnen erschien eine dünne Linie aus Licht, die sich rasch vergrößerte, als massive Stahltore aufgingen und das grell ausgeleuchtete Innere von Bucht Fünf enthüllten.
Corso spürte, wie sein Körper nach hinten in den Sitz gepresst wurde, als das Shuttle hart abbremste, und fragte sich, ob sie zu viel riskiert hatten. Doch bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, waren sie schon drin; automatische Greifer packten das winzige Schiff und senkten es in ein Eindockgerüst hinunter.
Der nächste Schritt war kritisch; sie mussten das Shuttle verlassen und in die Fregatte selbst eindringen, ehe die Crew auf der Brücke Gelegenheit bekam zu reagieren. Lange, kostbare Sekunden verstrichen, während sich eine Luftschleuse mit der Ausstiegsluke in der Unterseite des Shuttles verband. Sie verbrachten die Zeit damit, ihre Helme überzustülpen und an den Anzügen zu befestigen.
Corso befürchtete, Simenon könnte sich dazu entschließen, die innere Atmosphäre der Bucht entweichen zu lassen und sie alle ins Weltall hinauszuschleudern. Trotz dieser Gefahr klappten sie die Visiere noch nicht herunter. Das erleichterte die Kommunikation, und außerdem waren die Helme so konstruiert, dass sie sich im Fall eines Druckverlusts von selbst abdichteten.
Corso trat als Letzter durch die Luftschleuse. In der Schwerelosigkeit fiel er nur langsam nach unten und landete schließlich in einer Ausstiegs-Lounge gleich neben den Buchten. Hinter ihm rasselten und bebten die Schotts, als das zweite Shuttle andockte.
Martinez und die anderen waren schon dabei, gegenseitig die Dichtungen ihrer Anzüge zu kontrollieren. Corso checkte Perez’ Anzug und umgekehrt. In der Nähe erklangen klirrende Geräusche, als nacheinander die vier Passagiere des zweiten Shuttles durch eine separate Luftschleuse in die Lounge fielen.
Währenddessen deponierte Olivarri einen länglichen Kasten auf das Sims, das sich an der Wand entlangzog. Als er ihn öffnete, sah man, dass er mehrere leichte Impuls-Gewehre enthielt. Er verteilte die Waffen an alle außer an Lamoureaux und Whitecloud.
Das Gewehr in der Hand, trat Martinez auf Corso zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie haben gute Arbeit geleistet, dass Sie uns so weit brachten, Senator. Aber ich denke, ab hier übernehme ich das Kommando.«
Dann drehte er sich um und bat um allgemeine Aufmerksamkeit.
»Als Erstes möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, was wir erwarten können. Zurzeit werden an der Mjollnir abschließende Checks durchgeführt, bevor sie, von jetzt an gerechnet in einem Tag, mit einer vollzähligen Besatzung zum Sol-System aufbricht. In spätestens drei Stunden soll die komplette Crew hier eintreffen. Bis dahin befindet sich lediglich eine minimale Mannschaft an Bord – ich schätze, eine Rumpfbesatzung von nicht mehr als einem Dutzend Leute.«
»Warum so wenige?«, erkundigte sich Lamoureaux.
»Weil das Hauptsicherheitskontingent, das mit der Bewachung der Fregatte betraut war, vor knapp einer Stunde zur Oberfläche zurückflog. Uns bleibt also ein ziemlich schmales Zeitfenster, um die Kontrolle zu übernehmen und den Orbit zu verlassen. Mr. Driscoll«, wandte er sich an Whitecloud, »Sie begeben sich schnurstracks zu den Labors. Leo, Sie begleiten ihn und halten die Augen offen. Sollten Sie unterwegs jemandem begegnen, beginnen Sie nach Möglichkeit keinen Kampf. Keine Gewaltanwendung, sofern es sich irgendwie vermeiden lässt. Zuallererst überzeugen Sie sich davon, dass das Artefakt dort ist, wo es sein sollte, und erstatten Sie Bericht, falls Probleme oder Verzögerungen auftreten.«
Corso sah den beiden Männern hinterher und presste missbilligend die Lippen zusammen. Es gefiel ihm nicht, dass er die Täuschung bezüglich Whitecloud aufrechterhalten musste, er hatte nicht einmal Lust, höflich zu ihm zu sein; doch nachdem er sich gründlich mit dessen beruflicher Karriere befasst hatte, kam er nicht umhin zuzugeben, dass dieser Mann ein Genie war. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass ein so brillanter Geist seinen Verstand dazu benutzt hatte, um derart unmenschliche Verbrechen zu begehen, aber in der Geschichte wimmelte es von solchen Menschen.
Danach verließen auch die andere die Lounge und schwebten paarweise einen langen Schacht hinunter. Dan Perez und Nancy Schiller vorneweg, während Ray Willis als Letzter für Rückendeckung sorgte. Das Schiff lief nur mit minimaler Energie, deshalb herrschte ein eigentümliches Dämmerlicht, in dem ihre Schatten vor ihnen herhuschten wie schwarze Gespenster, wann immer sie einen matt schimmernden Leuchtkörper passierten.
Corso schluckte und versuchte die Anfälle von Benommenheit zu ignorieren, die manchmal seinen Blick verschwimmen ließen. Er hielt sich immer noch mit Medikamenten wach, und die letzte Gelegenheit, bei der er richtig geschlafen hatte, kam ihm vor wie ein Ereignis aus einem anderen Leben.
Viele Details ihres Planes hingen von Vermutungen ab, vor allen Dingen, dass die Override-Befehle für die Sicherheitsstandards der Fregatte nach Martinez’ Verhaftung nicht geändert worden waren. Hatte man neue Kommandos gewählt, mussten sie mehrere Eingänge entweder aufschweißen oder sprengen; dann bekamen auch die Sicherheitsdienste mehr Zeit, eine ernsthafte Gegenwehr zu organisieren.
Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als sie ein Transport-Terminal erreichten und in einen zylindrischen, fensterlosen Wagen stiegen; das Gefährt sauste in hohem Tempo durch einen Tunnel, der die gesamte Fregatte der Länge nach durchzog, und steuerte auf das Zentrum der Zentrifuge zu.
Sie hatten es geschafft, so weit zu kommen. Das Schicksal konnte doch nicht so grausam sein, sinnierte Corso, und noch im letzten Moment verhindern, dass sie die Brücke erreichten.
Kurz danach stieg die Gruppe aus und fand sich in einer zylindrischen Kammer wieder, die sechs Meter breit und doppelt so lang war. Der Raum lag in der Achse des Zentrifugenrads, das konstant rotierte, um auf der Brücke der Mjollnir und in den Mannschaftsquartieren künstliche Schwerkraft zu erzeugen.
Vier farbcodierte Türen waren in das mittlere Drittel der Kammer eingelassen, das sich unabhängig von den beiden anderen Segmenten drehte. Diese Türen führten in nach außen strebende Schächte, die allesamt im Innenrand der Zentrifuge endeten. Es wunderte niemanden, dass sämtliche vier Türen verriegelt waren.
Corsa sah zu, wie Nancy Schiller nach vorn schwebte, sich an einem Handgriff neben einer Tür festhielt und sich dicht heranzog, während sie von dem Segment mitgeschleift wurde. Mit den Zähnen zog sie einen ihrer Handschuhe aus, dann berührte sie einen in der Tür eingelassenen Bildschirm.
»Verdammt, das Ding reagiert nicht«, fluchte sie. »Meine Codes sind wertlos.«
Finger aus Eis wühlten in Corsos Eingeweiden.
»Ich werd’s mal versuchen«, meinte Martinez.
Er packte einen Griff neben einer anderen Tür, als er vorbeiglitt, und tippte auf den Schirm dieser Tür. Nach einer Weile erschien der Umriss einer Hand, gegen die Martinez seine Handfläche drückte, worauf sich die Tür mit einem Zischen öffnete.
Wir sind drin, dachte Corso; erst jetzt merkte er, dass er die ganze Zeit lang den Atem angehalten hatte. Die anderen seufzten erleichtert auf oder flüsterten Gebete.
Er driftete vorwärts, klammerte sich an einen anderen Griff neben der Tür, die Martinez geöffnet hatte, und plötzlich war es die Station, die sich drehte, während er stillstand.
»Ich dachte, hier gäbe es Aufzüge«, wandte er sich knurrig an Martinez. Nun konnte er den leichten Sog spüren, der von der Rotationsgravitation ausging, und der Zug würde sich verstärken, je näher sie dem Außenrand der Zentrifuge kamen, der sich siebzig Meter vor ihnen befand.
»Dass es jetzt anstrengend wird, haben wir unseren Freunden auf der Brücke zu verdanken«, erwiderte Martinez. »Es sieht ganz danach aus, als müssten wir den ganzen Weg nach unten klettern.«
Martinez ließ den Griff los, stieß sich ab und schwebte zu der Tür, die Nancy zu öffnen versucht hatte. Zwanzig Sekunden später glitt auch diese Tür auf und gewährte Einlass in einen zweiten Schacht.
»Dan, Sie benutzen den anderen Schacht«, befahl Martinez; dann drehte er sich um und senkte seine Beine durch die offene Tür. »Nancy, Ray, Sie gehen mit ihm. Wenn Sie den Ring erreichen, nähern Sie sich der Brücke aus der Rotationsrichtung, und wir kommen von der entgegengesetzten Seite. Aber warten Sie auf unser Zeichen, bevor Sie versuchen, die Brücke zu entern. Senator, Sie begleiten mich und Ted.«
Martinez übernahm die Führung, gefolgt von Corso, und Lamoureaux kam als Letzter. Corso fiel auf, dass der Maschinenkopf nun ständig eine abwesende Miene zur Schau trug, wie jemand, der etwas vergessen hat, aber nicht mehr genau weiß, was ihm entfallen ist.
»Ted.«
Endlich schien Lamoureaux in die Gegenwart zurückzukehren. »Was ist?«
»Haben Sie ein Problem?«
»Nein.« Lamoureaux schüttelte den Kopf, dann zuckte er mit den Schultern. »Aber durch meine Implantate empfange ich seltsame Störgeräusche. Ist irgendwie unheimlich.«
»Müssen wir uns deswegen Sorgen machen?«
Lamoureaux dachte kurz nach. »Ich weiß es nicht. Vielleicht nicht.«
Das Schachtinnere war mit Handgriffen besetzt, aber Corso war nicht schwindelfrei, und als sie sich dem Ring näherten, musste er gegen Panikattacken ankämpfen, die das allmähliche Ansteigen der Rotationsgravitation in ihm auslöste. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf den steten Rhythmus seiner Bewegungen und hielt den Blick starr auf die Wand vor ihm gerichtet.
Als sie am Ring eintrafen, betrug die Schwerkraft annähernd zwei Drittel der Standardnorm. Jetzt blockierte das Dach der Aufzugkabine, die sonst durch den Schacht fuhr, ihren Weg. Mit einem einzigen Schuss aus seinem Impulsgewehr sprengte Martinez die Notausstiegsluke im Dach auf, und kletterte dann in die Kabine hinunter.
Corso ließ sich auf den oberen Rand der Kabine fallen, spähte hinein und sah, wie Martinez eine Tafel neben den geschlossenen Aufzugtüren studierte. Die Tafel sah schwarz und geschmolzen aus.
Martinez spähte zu ihm hoch und zuckte die Achseln. »Das Ding wurde kaputtgeschossen, also müssen wir uns mit Gewalt den Weg frei machen. Haben Sie den Sprengstoff dabei?« »Können Sie die Türen nicht mit einem kräftigen Ruck aufziehen?«
Martinez schüttelte den Kopf. »Das hier sind nicht die Standardtüren, die Sie kennen, Senator.«
Corso nickte, fasste in die Beintasche seines Anzugs, fischte ein dünnes Rechteck aus einem kittähnlichen Material heraus und reichte es Martinez hinunter. Als Nächstes bedeutete Corso Lamoureaux, ein Stück den Schacht wieder hochzuklettern, und folgte ihm gleich danach. Eine Minute verging, dann hievte sich auch Martinez wieder aus der Kabine und drückte sich in gebückter Haltung so nahe wie möglich an die Schachtwand.
Ein dumpfes Knirschen ertönte, und heftige, klirrende Vibrationen brachten Corsos Zähne zum Klappern.
Aus der Kabine quoll eine dicke, ölige Rauchwolke nach oben. Martinez ließ sich abermals durch den Notausstieg fallen und stemmte seine Schulter gegen die Türen, die nun verbeult und verzogen waren. Mehrere Male warf er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen, ehe sie sich plötzlich unter grässlichem Kreischen halb öffneten.
Hinter dem Spalt flammte ein Lichtblitz auf, eine Funkengarbe traf Martinez’ Schulter und brannte einen dunklen Kreis in seinen Anzug.
Corso schrie und plumpste durch das Kabinendach, als Martinez nach hinten taumelte. Sich in den engen Raum zwängend, gelang es Corso, aufs Geratewohl ein paar Schüsse durch die halbgeöffnete Tür zu feuern.
Er hörte ein dumpfes Krachen, dann trat Stille ein.
»Das war dumm von mir«, keuchte Martinez, der hinter ihm zusammengesackt war und eine behandschuhte Hand gegen seine Schulter presste.
Corso roch verbranntes Fleisch und würgte die aufsteigende Galle wieder hinunter. »Scheiße, ich glaube, ich habe ihn tatsächlich erwischt«, meint er, angespannt lauschend.
Behutsam pirschte er sich vor, drehte sich halb um, quetschte sich zwischen den beiden verformten Türen hindurch und versuchte, in dem stinkenden, fettigen Qualm etwas zu erkennen.
Der Zentrifugenring war wesentlich besser ausgeleuchtet als der Rest des Schiffs. Corso schlich weiter, bis er beinahe über den Körper einer jungen Frau gestolpert wäre, die bäuchlings auf dem leicht gewölbten Deck lag. Eine Gesichtshälfte war schwarz verbrannt, und neben ihr lag ihre Waffe. Kopfschüsse aus einem Impulsgewehr wie seinem waren immer tödlich.
Er richtete sich auf und wollte seinen Handschuh wieder anziehen, doch zu seiner Überraschung zitterten seine Hände so stark, dass er mehrere Anläufe brauchte. Er atmete ein paarmal tief durch und verdrängte die aufkommenden Gefühle von Bedauern und Scham, die ihn daran hindern konnten, klar zu denken. Sie mussten immer noch auf die Brücke gelangen.
Als er hinter sich ein Stöhnen hörte, wandte er sich um und sah, wie Lamoureaux Martinez durch die Aufzugtüren half. Martinez gönnte dem toten Mädchen nur einen flüchtigen Blick, Lamoureaux hingegen starrte mit vor Entsetzen geöffnetem Mund auf die Leiche.
»Weiter«, befahl Martinez und schleppte sich an der Toten vorbei.
Corso legte eine Hand auf seine Brust und hielt ihn auf. »Warten Sie, Sie gehen nirgendwohin. Sie wurden gerade angeschossen …«
Martinez erwiderte ungerührt seinen Blick. »Im Augenblick zählt nur, dass wir die Brücke entern. Sowie wir dort die Kontrolle übernommen haben, kann ich in die Krankenstation gehen. Vorher nicht.«
Ohne die vollständige Besatzung wirkte die Mjollnir leer und verlassen. Wie ein Gespensterschiff, dachte Ty, als er und Olivarri sich durch hallende Korridore bewegten und Verbindungsschächte hinunterdrifteten, denen die Stille und die Schatten eine beklemmende Atmosphäre verliehen.
Sie kamen an Lagerhallen vorbei, die angefüllt waren mit hohen Stahlgestellen. Ganz offensichtlich hatte man diese Gerüste erst installiert, während er in der Residenz des Senats gefangen gehalten wurde. Er sah neue Computeranlagen und bemerkte, dass man in einigen der Gestelle Dutzende von Med-Boxen untergebracht hatte. Noch viel mehr davon türmten sich auf riesigen Paletten, die einen großen Teil der verbleibenden freien Fläche in der Halle einnahmen.
Sie setzten ihren Weg fort und gelangten bald in den Laborkomplex, der durch ein eigenes Luftschleusensystem vom Rest des Schiffs getrennt wurde. Die Laboratorien waren in erster Linie dafür ausgerüstet, die Biosphären von Planeten zu analysieren, und Ty wunderte sich nicht, als er feststellte, dass man auch diese Räumlichkeiten seit seinem letzten Besuch überholt und nachgerüstet hatte.
»Warum all diese Vorsichtsmaßnahmen?«, fragte Leo, der ein wachsames Auge auf die Umgebung hielt. Es gab neue kryogene Einrichtungen zum Aufbewahren von biologischen Proben, sowie Inkubatoren und das Instrumentarium, mit dem man Organismen sezieren konnte. Außerdem luftdichte Isolierzellen, um lebendige Exemplare unterzubringen; eine Reihe von Monitoren, die gleich über dem Haupt-Interface in ein Schott eingelassen waren, gewährte Einblicke in das Innere dieser Zellen.
Ty setzte sich an eine Konsole und streifte sich die Handschuhe ab, um einzuloggen. »Sie dürfen nicht vergessen, dass die Mjollnir hauptsächlich als Kolonieschiff benutzt wurde«, erwiderte er ohne hochzublicken. »Diese Labors dienten dazu, fremdartige Pflanzen und Tiere zu erforschen. Dazu mussten sie streng isoliert werden, da immer das Risiko bestand, sie könnten für Menschen eine biologische Gefährdung darstellen. « Über die Schulter deutete er mit dem Kinn auf die Hauptluftschleuse. »Man will vermeiden, dass das ganze Schiff kontaminiert wird, sollte irgendetwas Bösartiges entweichen.«
»Aber eine Menge von diesem Zeug sieht brandneu aus.«
»Wie die Sachen in den Lagerhallen, durch die wir kamen«, stimmte Ty zu. »Moment mal …«
Ein Schirm beanspruchte fast die ganze Wand direkt über der Konsole. Nun erschien darauf ein Raster aus Bildern, die alle das Innere von identischen metallgrauen Räumen zeigten. Sämtliche dieser Kammern waren leer – bis auf eine.
»Was sind das für Räume?«
»Das sind Isolationszellen zum Aufbewahren von größeren Exemplaren«, erklärte Ty. »In einer befindet sich der Körper, den ich an Bord brachte.«
Unvermittelt blickte er um sich. »Was ist das?«
»Was?«, fragte Olivarri.
»Dieses Geräusch.«
»Ich höre nichts.«
»Es klingt wie … ich weiß auch nicht. Fast wie Gesang.«
Olivarri schaute ihn nur entgeistert an. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Gesang war im Grunde genommen nicht der passende Ausdruck. Darunter stellte man sich etwas Angenehmes vor, doch dieses Geräusch klang furchtbar rau. Es glich eher statischem Knistern, entschied er, und entzog sich beinahe der Wahrnehmung. Nach einer Weile ebbte es ab.
»Und Sie haben wirklich nichts gehört?«, vergewisserte sich Ty, nachdem das Geräusch verstummt war.
Olivarri zuckte die Achseln und schüttelte verneinend den Kopf. »Rein gar nichts. Ob mit der Komm-Leitung was nicht stimmt?«
»Kann schon sein.« Ty tippte noch einmal auf das Interface, und die leeren Kammern verschwanden – mit Ausnahme der Zelle, welche die sterblichen Überreste des Atn enthielt, und deren Bild sich jetzt über den gesamten Schirm ausbreitete.
»Das ist es.« Er wandte sich an Olivarri. »Wegen diesem Ding sind wir hier.«
Leo gab ein ungläubiges Lachen von sich. »Sie machen sich wohl über mich lustig. Dafür haben wir gekämpft? Das sieht doch wie ein Schrotthaufen aus.«
»Der äußere Schein kann manchmal täuschen.«
Schrotthaufen war eine gute Beschreibung, gestand Ty sich ein. Doch darin fand sich vielleicht die einzige Waffe, die ein ganzes Imperium besiegen konnte.
Corso und Lamoureaux stützten den verwundeten Commander und halfen ihm den Korridor entlang. Unterwegs kamen sie an Durchgängen vorbei, die in Casinos und Freizeitbereiche führten, nun ausnahmslos leer. Große, üppige Pflanzen gediehen in Kübeln, die in Abständen von ungefähr einem Meter aufgestellt waren; gepflegt wurden sie von kleinen, zerbrechlich aussehenden Maschinen, die zwischen den Zweigen oder Ranken herumkletterten.
Sie hielten ihre Waffen schussbereit, trafen jedoch auf keinerlei Widerstand mehr. Bald standen sie vor der Tür, die direkt auf die Brücke führte und natürlich verriegelt war.
Martinez löste sich von seinen beiden Helfern, lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand und ließ sich erschöpft zu Boden gleiten.
»Lucas«, sagte er mit bleichem, schweißnassem Gesicht, »nehmen Sie jetzt mit den anderen Verbindung auf. Es spielt keine Rolle, wenn Sie die Funkstille brechen. Wir müssen nur wissen, ob sie bereits in Position gegangen sind.«
Corso stellte Kontakt mit Nancy Schiller her, die kurz Bericht erstattete. Dann bat er sie, sie solle Ray Willis zu ihnen schicken.
»Auf dem ganzen Weg bis zur Rückseite des Rades ist ihnen niemand begegnet«, berichtete er Martinez und Lamoureaux. »Aber von der anderen Seite ist die Brücke ebenfalls verriegelt.«
»Wieso brauchen wir Willis hier?«, fragte Lamoureaux verdutzt.
»Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, wir sind jetzt ein Mann weniger«, entgegnete Corso. »Ohne Willis bin ich hier der Einzige, der unverletzt und bewaffnet ist. An der hinteren Seite der Brücke sind drei Leute postiert, also können sie Ray leicht entbehren.«
»Nun ja«, warf Martinez ein bisschen mühsam ein, »langsam fange ich an zu glauben, dass viel weniger Leute an Bord sind, als wir dachten.«
»Vielleicht haben sich noch etliche Crewmitglieder über das ganze Schiff verteilt«, überlegte Lamoureaux. »Hier gibt es Platz genug, um sich zu verstecken.«
»Nein, ich vermute stark, dass sich die gesamte Besatzung hinter dieser Tür verbarrikadiert«, ächzte Martinez und stemmte sich ein wenig höher. Er wirkte immer blasser und mitgenommener. »Ich werde versuchen sie zu überreden, uns reinzulassen.«
Martinez öffnete eine Kommandofrequenz zur Brücke. Als er sprach, nahm seine Stimme ein tieferes, festeres Timbre an.
»Commander Eduard Martinez an alle, die sich derzeit auf der Brücke der Mjollnir befinden. Bitte antworten Sie.«
Eine fremde Stimme meldete sich über ihre gemeinsame Leitung. »Ich höre Sie, Mister Martinez. Hier spricht Luis Simenon, amtierender Commander. An die Mitglieder des Entertrupps. Sie begehen einen Akt der Piraterie, und ich fordere Sie auf, Ihre Waffen unverzüglich niederzulegen.«
»Luis, Sie müssen die Tür öffnen. Wir sind in der Überzahl, und eine Crewfrau haben Sie bereits verloren.«
»Soweit ich weiß, Sir, hatte man Sie wegen Aufwiegelung verhaftet. Das heißt, dass Sie nicht mehr über die Autorität verfügen …«
»Mr. Simenon!«, donnerte Martinez. »Die Mjollnir steht immer noch unter meinem Kommando. Um das zu ändern, bedarf es einer besonderen Plenarsitzung des Senats, und ich kann mich nicht entsinnen, dass eine solche stattgefunden hätte. Was bedeutet, dass ich das Recht habe, mein Schiff, das ich kommandiere, wann immer ich will zu betreten, und trotzdem haben Ihre Leute auf mich und meine Männer geschossen. Egal, welche Erklärung Ihnen dazu einfällt, sie dürfte sicher hochinteressant sein.«
Simenon schwieg mindestens eine halbe Minute lang, und als er sich dann wieder meldete, klang seine Stimme kühl, aber mit einem verhaltenen, sogar leicht bedauernden Unterton. »Ich erhielt meine Befehle direkt vom Sicherheitsdienst des Senats, Commander. Das war auch der Fall, als ich Sie Ihres Kommandos enthob. Schnelle Eingreiftruppen sind hierher unterwegs, deshalb schlage ich vor, dass Sie und Ihre Männer sofort die Waffen niederlegen. Andernfalls müssen Sie mit Konsequenzen rechnen.«
»Er hat die Leitung gekappt«, verlautbarte Martinez einen Augenblick später.
»Sagt er die Wahrheit?«, fragte Corso.
»Was die Verstärkung betrifft? Ganz bestimmt. Es gibt hier ein paar Orbitalplattformen, von denen Polizeiboote im Nu starten können, außerdem halten sich am Boden taktische Teams in ständiger Bereitschaft.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen Schirm, der bündig in die Tür integriert war. »Helfen Sie mir, dorthin zu kommen. Mal sehen, ob ich uns durch diesen Eingang bringen kann.«
Corso schob einen Arm unter Martinez’ Schultern und half ihm herüber zur Tür, gerade als Ray Willis eintraf, sein Gewehr über eine Schulter geschlungen. Er schnappte schwer nach Luft, da er von der anderen Seite der Brücke den ganzen Weg um die Zentrifuge gerannt war.
»Ich sah eine Leiche«, keuchte Willis. »Gab es …« Er unterbrach sich, als er einen Blick auf Martinez warf.
»Ja, es gab ein paar Probleme«, sagte Corso.
Willis nickte, immer noch außer Atem. »Die Tür auf der anderen Seite ist ebenfalls verriegelt, aber wir haben unterwegs niemanden getroffen. Nancy hält sich bereit, die Tür auf Ihr Signal hin aufzusprengen.«
Corso nickte und überprüfte sein Impulsgewehr. Die Batterie war nur noch zur Hälfte geladen. Waffen wie diese konnten nur rund ein Dutzend Schüsse abfeuern, dann waren die Batterien total erschöpft. Aber sie waren billig und leicht herzustellen.
Er nickte Willis zu, der sich an einer Seite des Brückeneingangs postierte, mit dem Rücken zur Wand und sein Gewehr fest an die Brust gepresst.
»Alle Mann Helmvisiere herunterklappen«, ordnete Corso an und bezog gegenüber Willis Stellung. »Ted, wenn der Commander so weit ist, schaffen Sie ihn seitwärts in Sicherheit.«
Martinez gab den vollständigen Code in den Monitor ein, aktivierte jedoch nicht den Mechanismus. Corso sagte Nancy Bescheid, sie solle sich in Bereitschaft halten, und wartete, bis Ted Martinez aus der Gefahrenzone gebracht hatte. Erst dann beugte er sich vor und berührte eine Fläche auf dem Schirm, auf der BESTÄTIGEN stand.
Gleich darauf öffnete sich die Tür, und von der Brücke erklangen laute Rufe.
»Jetzt!«, bellte Corso in sein Mikrofon.
Willis drehte den Oberkörper, zielte mit dem Gewehrlauf durch die offene Tür und feuerte mehrere Schüsse ab. Fast gleichzeitig gab es irgendwo drinnen einen gewaltigen Knall, gefolgt von aufgeregtem Gebrüll und Kampfgeräuschen.
Willis stürmte auf die Brücke, und Corso rannte ihm hinterher.
Das Erste, was Corso bemerkte, waren die zertrümmerten Reste der Tür an der Rückseite der Brücke. Ein Crewmitglied der Mjollnir lag mit dem Gesicht nach unten in der Nähe des Interface-Sessels, den man mitten im Raum aufgestellt hatte, ein Impulsgewehr direkt neben der ausgestreckten Hand.
Willis schnauzte Befehle an einen uniformierten Mann und eine Frau, die hinter einer Komm-Konsole in Deckung gegangen waren. Zögernd standen sie auf und ließen sichtlich erschüttert ihre Waffen fallen.
Der Lärm und das Chaos waren unbeschreiblich, während schwarzer Rauch hochstieg und sich unter der glatten, dunklen Deckenkuppel der Brücke sammelte.
Nancy richtete ihr Gewehr auf einen unbewaffneten Mann, der die Montur eines orbitalen Dockarbeiters trug und sich hinter einer anderen Konsole versteckte. Ein Mann in der Uniform eines Wachoffiziers wurde von Perez in Schach gehalten, dessen Schulter und eine Seite von einem Treffer aus einem Impulsgewehr geschwärzt waren. Der Offizier saß an einer Konsole; die Pistole in seiner Hand zielte nach unten, als hätte er vergessen, dass er eine Waffe trug.
Simenon, tippte Corso. Der Mann machte einen verstörten Eindruck, als wüsste er nicht recht, wo er sich befand.
Corso richtete seine Waffe auf Simenons Kopf, während Perez langsam zu ihm ging und ihn anbrüllte, er solle die Pistole fallen lassen und sich auf den Boden legen. Doch plötzlich schien Simenon die Orientierung wiederzufinden; er umklammerte den Pistolengriff mit beiden Händen, ohne jedoch die Waffe zu heben.
»Lassen Sie die verdammte Waffe fallen!«, schrie Perez.
Simenon schnaufte schwer durch die Nase und schüttelte vehement den Kopf, doch Corso merkte ihm an, dass er schreckliche Angst hatte. »Sowie die Eingreiftruppe hier ankommt, haben Sie nicht die geringste Chance«, erwiderte er mit brüchiger Stimme.
»Es ist aus, Luis!«, brüllte Perez. »Weg mit der Waffe, dann können Sie diese Leute auf die Oberfläche zurückbringen. Haben Sie verstanden? Wenn Sie nicht sofort die verdammte Waffe fallen lassen, dann …«
Simenon schüttelte so heftig den Kopf, als leide er an einem nervösen Tick, riss die Pistole hoch und zielte damit auf Perez.
Corso feuerte einen einzigen Schuss ab, der Simenon mitten in die Schläfe traf. Man hörte ein lautes Knacken, als sein Gehirn zu kochen anfing und der Schädel unter dem Druck zerplatzte.
Er kippte auf das Deck, wobei seine Beine unter ihm einknickten, als hätte man bei einer Marionette die Schnüre durchtrennt.
Corso senkte sein Gewehr und nahm seinen Helm ab. Ohne diesen Schutz schmeckte die Luft gleich viel schlechter.
»Alles okay?«, erkundigte sich Schiller und sah ihn prüfend an. Den Dockarbeiter hatte sie zu den anderen Crewleuten gescheucht.
»Wissen Sie, was Simenon gerade getan hat?«, entgegnete Corso. »Er beging Selbstmord.«
Schiller blickte verwirrt drein.
»Bei allem gebührenden Respekt, Senator«, warf Perez ein. »Was zum Teufel reden Sie da?«
»Man übertrug ihm die Verantwortung für ein wichtiges militärisches Gut, und das hat er verloren«, erklärte Corso. »Wahrscheinlich hat er Familie, und hätte er einfach kapituliert, stünden diese Menschen jetzt vor dem Nichts.«
Perez zuckte die Achseln. »Na und?«
Und das ist falsch! Es ist ein absolutes, himmelschreiendes Unrecht!, hätte Corso am liebsten gebrüllt. Aber Perez war durch und durch ein Freistaatler, geboren und erzogen in den abstrusen Wertvorstellungen dieser Gemeinschaft, deshalb schüttelte er bloß den Kopf und ging nicht näher auf das Thema ein.
Corso begab sich zu den drei Überlebenden, die nun auf dem Bauch am Boden lagen und von Schiller und Willis bewacht wurden. Perez aktivierte die Komm-Konsole der Brücke, kurz darauf stießen Martinez und Lamoureaux zu ihnen und verschafften sich einen Überblick über das Szenario.
»Sie!« Mit einem Stiefel stupste Corso den Gefangen in der Arbeitermontur an. »Wie heißen Sie?«
Der Mann drehte den Kopf ein wenig, damit er Corso ansehen konnte. »Inéz Randall«, murmelte er. »Ich bin Techniker und zuständig für …«
»Hören Sie, Inéz«, fiel Corso ihm ins Wort. »Sie schnappen sich Ihre beiden Freunde hier, gehen in Hangar Fünf, steigen in eines der Shuttles und verlassen dieses Schiff so schnell Sie können. Machen Sie keine Dummheiten und spielen Sie nicht den Helden, denn dann sind Sie tot. Haben Sie mich verstanden?«
Randall nickte.
»Okay«, meinte Corso. »Und jetzt aufstehen, alle drei! Bewegt euch!«
Zögerlich rappelten sie sich hoch, und Corso konnte sie in aller Ruhe mustern. Diese Leute waren nichts weiter als grüne Unteroffiziere, die sich zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatten. Ganz offensichtlich waren sie nur auf die Fregatte gebracht worden, um die letzten Kontrollen an den Primärsystemen des Schiffs durchzuführen.
»Befindet sich sonst noch jemand an Bord?«, fragte Corso.
Die drei tauschten nervöse Blicke. »Nein, außer uns ist niemand mehr hier«, antwortete Randall.
Corso blickte ihn scharf an und entschied, dass er die Wahrheit sagte. »Dann ab mit euch.« Er schwenkte den Lauf seines Gewehrs in Richtung der aufgesprengten Tür. »Auf der Stelle!«
Nachdem die drei davongetrottet waren, ließ er sich in einen Sessel fallen, zog einen Handschuh aus und fuhr sich mit den Fingern durch das schweißnasse Haar. Er sah Schiller und Willis zu, die die beiden Leichen von der Brücke entfernten und sie gleich hinter der unversehrten Tür auf dem Boden ablegten. Derweil half Lamoureaux Martinez, sich auf eine niedrige Couch zu setzen, die an einer Wand stand, ehe er selbst den Interface-Sessel ansteuerte.
»Ted«, rief Corso. Lamoureaux warf ihm einen Blick zu, während die Paneele sich bereits heruntersenkten, damit er Platz nehmen konnte. »Behalten sie die drei im Auge und vergewissern Sie sich, ob sie auch wirklich ohne irgendwelche Umwege zu den Shuttles gehen. Dann kontaktieren Sie Leo und prüfen Sie, ob er es ohne Zwischenfälle geschafft hat, in die Labors hineinzukommen.«
Lamoureaux nickte, pellte sich aus seinem Anzug und warf ihn auf das Deck, ehe er seine Position einnahm. Auch Corso zog seinen Anzug aus und legte ihn über eine Konsole.
»Für die Wartungsbuchten rings um die Fregatte erging ein Evakuierungsbefehl«, berichtete Perez von der Komm-Konsole. »Und was Leo angeht: Laut Driscoll befindet sich alles ordnungsgemäß an Ort und Stelle.«
Corso nickte und wandte sich Martinez zu. »Okay, Commander«, begann er und packte den Mann beim Arm. »Sie begeben sich jetzt in die Krankenstation. Nancy, könnten Sie ihn dorthin bringen?«
Nancy Schiller nickte und stützte Martinez, der langsam die Brücke verließ.
»Ein paar Schnellboote steuern den Orbit an«, verkündete Lamoureaux. Corso blickte zu ihm hinüber und sah, dass er die Paneele des Sessels nicht hochgeklappt hatte. Nun saß er da und starrte auf einen nicht existierenden Punkt in der Ferne. »Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, den Orbit zu verlassen, bevor sie in Schussreichweite kommen. Vielleicht kann ich … oh, Scheiße!«
Alarmiert sprang Corso auf. »Was ist?«
Lamoureaux beleckte seine Lippen und trommelte mit den Fingern auf den Armstützen des Interface-Sessels. »Das ist Dakota … oder zumindest ihr Schiff. Gerade tauchte es wie aus dem Nichts auf und bewegt sich ungeheuer schnell auf uns zu. Sie ist … Moment mal.«
Corso wartete, aufs Höchste gespannt. »Sie hat sich soeben gemeldet«, fuhr Lamoureaux fort. »In ein paar Minuten kommt sie zu uns an Bord.«
»Das löst nicht das Problem mit diesen Schnellbooten, die hierher unterwegs sind«, warf Perez ein. »Diese Dinger verfügen über eine gewaltige Feuerkraft, Senator, und wir hatten nicht mal eine Chance, aus dem Orbit rauszukommen.«
»Ted …«, begann Corso.
»Ich habe bereits eine Maximalzündung eingeleitet«, kam Lamoureaux ihm zuvor, »aber es dauert eine gewisse Zeit, bis sich ein Schiff von dieser Größe in Bewegung setzt.«
»Wie lange genau?«
Lamoureaux lehnte sich an die Kopfstütze zurück und kniff die Augen fest zusammen. »Augenblicklich sind die Antriebsdorne nur zur Hälfte mit Energie geladen. Also dauert es mindestens noch zwei Stunden, bis wir aus dem System herausspringen können. Verdammter Mist, das ist doch nicht … warten Sie!«
Abrupt beugte er sich vor, schüttelte den Kopf und riss die Augen weit auf. »Zwei bewaffnete Korvetten nähern sich uns auf einem Abfangkurs. Sie müssen bereits im Orbit gewesen sein.«
Die Erkenntnis, dass sie ohne Dakotas Hilfe sterben würden, traf Corso wie ein Faustschlag in die Magengrube. Lamoureaux konnte sie nicht retten, aber es stand in Dakotas Macht, sie mit der Hilfe ihres Schiffs aus der Klemme zu befreien. Auf einmal glich ihr überstürzt zusammengeschusterter Plan, die Mjollnir zu kapern, einem Kartenhaus, das einem Erdbeben standhalten sollte.
Dann fiel ihm auf, dass mit Lamoureaux etwas nicht stimmte. Der Mann hing vornübergebeugt in dem Interface-Sessel und presste eine Hand gegen eine Schläfe; er sah aus, als hätte er starke Schmerzen.
Corso eilte zu ihm und fing ihn auf, ehe er aus dem Sessel rutschte. Die Haut des Navigators war von einer wächsernen Blässe.
»Was ist los, verdammt nochmal?«, fluchte Perez.
»Keine Ahnung!«, schnappte Corso und hievte sich auf das Podest, um Lamoureaux wieder in den Sessel verfrachten zu können. »Ted, was haben Sie? Fehlt Ihnen was?«
Als Lamoureaux antwortete, klang er desorientiert und benommen. »Ich weiß es nicht. In meinem Kopf war auf einmal ein ungeheurer Druck und … oh, verflucht!«
Die Taucherkrankheit, dachte Corso; die durch die Schiffe der Weisen optimierten Implantate brannten seinen Cortex aus.
Corso wich zurück, als Lamoureaux sich seitlich vorbeugte und geräuschvoll auf das Deck erbrach. Er hielt den Navigator an den Schultern fest und ignorierte den schockierten Ausdruck auf Perez’ Gesicht.
»Wo bleibt Olivarri?«, fragte Corso.
Perez trat an eine andere Konsole, und Corso beobachtete, wie die Züge des Mannes zuerst eine orangerote und dann blaue Tönung annahmen, als die Displays der Konsole in bunten Farben flackerten. »Er kommt hierher«, erwiderte Perez kurz darauf. »Ich sehe, dass er soeben das Rad betritt.« Er streckte die Hand aus und tippte abermals auf den Schirm. »Von hier aus kann ich die externe Bildgebung aktivieren.«
Einen Moment später füllte sich die dunkle Deckenkuppel der Brücke mit Sternen und der breiten Wölbung des drunten schwebenden Planeten; man sah auch eine Simulation der Mjollnir, wie sie aus einer Entfernung von mehreren Kilometern erscheinen musste. Der Qualm von der Explosion war bereits durch das Entlüftungssystem abgezogen.
Corso konnte das feine Netz aus Arbeitsbuchten und Druckausgleichskabinen ausmachen, das die Fregatte umgab, dazu etliche winzige Boote, die sich in stetem Tempo von diesem Raumdock entfernten. Eines davon war ein Shuttle, das Simenons Rumpfmannschaft beförderte, während die übrigen zweifellos die Techniker und Reparaturspezialisten wegbrachten, die bis zu dem Evakuierungsbefehl an der Außenhülle gearbeitet hatten.
Den Daten zufolge, die neben der Abbildung der Fregatte schwebten, bewegte sich das Schiff tatsächlich, doch trotz der enormen Energiemengen, die aus den Fusionstriebwerken strömten, war die Geschwindigkeit immer noch relativ gering.
»Irgendein Zeichen von Dakotas Schiff?«, erkundigte sich Corso, der Lamoureaux immer noch stützte. Der Navigator schien nur halb bei Besinnung zu sein.
»Ich glaube, sie befindet sich auf der anderen Seite der Fregatte«, antwortete Perez. »Einen Augenblick.«
Die Sternlandschaft über ihren Köpfen fing plötzlich an zu kreisen und drehte sich um hundertachtzig Grad. Auf einmal entdeckte Corso ein sich rasch näherndes Schiff der Weisen. Wieder drängte sich ihm der Vergleich mit einer Kreatur auf, deren Lebensraum das Weltall war, ein Wesen, geboren, um eine Existenz zwischen den Sternen zu führen. Die nach vorn gereckten Antriebsdorne ähnelten verblüffend den Tentakeln eines gigantischen Seeungeheuers.
Lamoureaux’ Kopf sackte gegen Corsos Arm; kurz entschlossen packte er den Navigator unter einer Schulter und bugsierte ihn vom Interface-Sessel herunter. Perez half ihm, den Mann zu einer der Couchen zu schleifen, die längs der Wände der Brücke aufgestellt waren.
Leo Olivarri platzte herein; er sah erschöpft aus. Mit fragender Miene blickte er von Lamoureaux zu Corso.
»Leo«, wandte sich Corso an ihn. »Sie müssen Mr. Lamoureaux in die Krankenstation bringen.
Olivarri nickte und kam herüber; er schien zu wissen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen war. Lamoureaux’ Haut war klamm, doch mit vereinten Kräften schafften sie es, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Allmählich schien er wieder ein bisschen mehr von seiner Umgebung wahrzunehmen, und dann schleppte er sich mit Olivarris Hilfe von der Brücke.
Perez schaute besorgt drein. »Senator, ohne einen Navigator im Interface-Sessel sind wir gewaltig im Nachteil.«
Corso sog tief den Atem ein und fuhr fort, die Überkopf-Projektion zu studieren. Mittlerweile hatte sich die Mjollnir zum größten Teil aus dem Orbitaldock herausgeschoben, während das Schiff der Weisen längsseits gegangen war. Die beiden feindlichen Korvetten, markiert von neben ihnen schwebenden Symbolen, waren immer noch ein paar Tausend Kilometer entfernt.
Ein weiterer Datenstrom erschien direkt zwischen dem Schiff der Weisen und der Fregatte, und man sah deutlich, wie ein einzelnes Radarecho schnell die Lücke zwischen den beiden Raumschiffen durchquerte.
Das ist sie, schoss es Corso durch den Kopf. Aber wieso verließ sie ihr Schiff? Sie musste doch beabsichtigen, die Mjollnir vom Inneren ihres eigenen Raumschiffs aus zu unterstützen.
»Senator.« Perez richtete das Wort an Corso. »Auf der Außenhülle sind Impulswaffen montiert, doch den größten Teil der Energie mussten wir abziehen und auf die Fusionstriebwerke legen. Wenn Ihnen nicht bald etwas einfällt, sind wir für diese Korvetten eine leichte Beute.«
Corso nickte und trat vor, bis er direkt unter der Projektion der Mjollnir stand. Sie wirkte so real, dass er meinte, sie berühren zu können, wenn er die Hand nach ihr ausstreckte. Er sah, wie das Radarecho, das Dakota darstellte, eine der äußeren Luftschleusen der Fregatte erreichte und sich ihrer Sicht entzog.
»Dan, loggen Sie mich in die allgemeine Lautsprecheranlage ein. Gerade ist Dakota an Bord gekommen, und ich will sichergehen, dass sie mich hört.«
»Sofort«, erwiderte Perez, während seine Finger über die Tastenfelder der Konsole huschten. »Ich logge Sie jetzt ein, und gleich erhalten wir auch Bilder von ihr.«
Die Mjollnir und die sie umgebende Sternlandschaft begannen über ihren Köpfen zu schrumpfen, als wichen sie mit ungeheurer Geschwindigkeit zurück. An ihrer Stelle tauchte ein überlebensgroßes Bild von Dakota im Inneren einer Luftschleuse auf, deren Öffnungszyklus bereits zur Hälfte abgelaufen war.
Sie war nackt, doch auf ihrer Haut klebte ein Film wie aus dickem schwarzem Öl; ihre Augen glänzten und hatten einen seltsamen, fremden Ausdruck. Aus einer Tasche, die sie über der Schulter trug, zog sie einen Overall.
Corso warf Perez einen Blick zu und bemerkte seine missbilligende Miene. Mittlerweile konnte er sich kaum noch vorstellen, dass er genauso prüde und verklemmt gewesen war, bevor er zum ersten Mal Redstone verlassen hatte.
Über ihnen stieg Dakota in ihren Overall, während die schwarze, glatte Schicht auf ihrer Haut sich langsam zurückzog. Sie schaute flüchtig auf das mikroskopisch kleine Kameraobjektiv, das in einer Wand der Luftschleuse steckte, lächelte spöttisch, und Corso spürte, wie sein Gesicht rot anlief.
»Dakota, wenn du mich hören kannst – wir brauchen dich auf der Brücke, und zwar sofort. Zwei Korvetten sind im Anflug, und Ted …«
Sie war aus der Luftschleuse getreten und arbeitete sich nun einen Verbindungsschacht hinunter, der zur Nabe der Zentrifuge führte. »Über Ted weiß ich Bescheid«, gab sie zurück, als spräche sie in die leere Luft hinein. »Einen Augenblick Geduld bitte. Ich bin gleich da.«
Dakota verschwand aus dem Überkopf-Display und wurde wieder durch den vorherigen Anblick der örtlichen Sternkonstellationen ersetzt. Unterdessen hatten die Korvetten deutlich erkennbare Gestalt angenommen.
»Eine Korvette übermittelt uns eine Warnung«, verkündete Perez. »Wenn wir nicht unverzüglich die Triebwerke abschalten, nehmen sie uns unter Beschuss.«
»Blödsinn«, hörte Corso sich sagen. »Sie bluffen nur. Die Mjollnir ist das einzige Schiff der Kolonieklasse, das dem Senat noch geblieben ist.«
»Das mag ja sein, Senator, aber wenn derjenige, der uns die Korvetten hinterhergeschickt hat, zulässt, dass wir entkommen, steht er bald einem Erschießungskommando gegenüber oder muss sich zumindest mit einer Reihe von Subalternen duellieren, die Schlange stehen werden, um ihn herauszufordern. Vor diese Wahl gestellt, fühlt er sich vielleicht sicherer, wenn er uns ein Loch in die Außenhülle schießt.«
Verdammt nochmal, Dakota! Wie lange kann es denn dauern, ins Zentrum der Zentrifuge hineinzuklettern und dann auf die Brücke zu kommen?
»Hören Sie Senator«, legte Perez nach, »ich rate nicht so schnell zur Kapitulation, aber wenn sie tatsächlich auf uns feuern, können sie uns lahmlegen oder noch viel Schlimmeres bewirken.«
Corso schüttelte den Kopf und befeuchtete seine plötzlich trockenen Lippen. »Nein. Wir fliegen weiter. Ignorieren Sie die Warnungen. Geben Sie keine Antwort.«
»Sie bereiten sich darauf vor, das Feuer auf uns zu eröffnen«, betonte Perez, der nun aus seiner Verärgerung keinen Hehl machte und mit geballten Fäusten hinter der Konsole hervortrat. »Sie zeigen uns ihre Zielsysteme, damit wir ihre Absichten auch ganz genau erkennen. Senator, wenn wir uns jetzt nicht melden und uns bereiterklären …«
Perez unterbrach sich abrupt, als in dem Überkopf-Display ein greller Blitz aufflammte. Als Corso hochblickte, sah er, dass urplötzlich mehrere helle Kugeln zwischen der Fregatte und den beiden heranrasenden Korvetten erschienen waren.
Nur dass es diese Korvetten auf einmal nicht mehr gab.
»Was …?« Perez hielt abermals inne, sprang hinter die Konsole zurück und glotzte auf die sanft schimmernde Fläche, als traute er seinen Augen nicht. »Sie sind ganz einfach … warten Sie.«
Perez spielte noch einmal ab, was gerade passiert war. Er und Corso sahen, wie gleißende Lichtstrahlen aus den Sphären schossen und die beiden Schiffe auseinanderrissen.
In diesem Moment betrat Dakota die Brücke; sie machte einen abgehetzten Eindruck. Perez starrte wieder zu dem Überkopf-Display hoch, richtete dann den Blick auf sie und reimte sich offensichtlich zwei und zwei zusammen.
»Erzählt mir alles, was ich wissen muss«, forderte sie. Am Podest des Interface-Sessels blieb sie kurz stehen, um Atem zu schöpfen.
»Wir sind dabei, den Orbit zu verlassen«, klärte Corso sie auf. Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen, hievte sich auf das Podest und stieg in den Interface-Sessel. »Aber es dauert viel zu lange«, fügte er warnend hinzu.
Dakota nickte. Corso sah, wie ihre kleinen weißen Fäuste sich um die Armstützen des Sessels krampften.
Sie schloss die Augen und bemühte sich eine Weile, ihre Atmung zu beruhigen; dann nickte sie angespannt. »Ich werde den Antrieb für einen vorzeitige Sprung frisieren. Wenn es uns gelingt, außer Reichweite der orbitalen Verteidigungssysteme zu gelangen, können wir uns genügend Zeit für einen längeren Sprung nehmen.«
Corso beobachtete, wie die Paneele rings um den Interface-Sessel hochklappten und Dakota in Stille und Finsternis einschlossen. Er spürte, wie sich das Tempo der Fregatte allmählich steigerte. Wie ihre Schwesterschiffe, so konnte auch die Mjollnir ihre Zentrifuge in Phasen einer längeren MaximalZündung herunterfahren; sämtliche Wohnquartiere innerhalb des Rades rotierten auf wuchtigen hydraulischen Vorrichtungen, so dass die Beschleunigung ein angenehmes Ausmaß an Schwerkraft erzeugte. Hörte die Beschleunigung auf, und es trat wieder Schwerelosigkeit ein, ließ sich die Zentrifuge erneut durchstarten.
Er wandte seine Aufmerksamkeit der projizierten Sternlandschaft zu. Das Schiff der Weisen, das Dakota zur Fregatte gebracht hatte, glitt außer Sichtweite. Zudem begann es zu trudeln, als sei es außer Kontrolle geraten und näherte sich dem zarten Filigran des Orbialdocks, das die Mjollnir nun hinter sich gelassen hatte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Dakota.
Ihre Lider zitterten, und als sie die Augen öffnete, sah sie nichts.
»Was ist los, Lucas?«, fragte sie; in dem engen Raum klang ihre Stimme dumpf und unmoduliert.
Dein Schiff … was passiert damit?
»Ich habe keine Wahl«, antwortete sie beinahe im Flüsterton.
Du hast keine Wahl? Wobei?
»Mir bleibt nichts weiter übrig, als es zurückzulassen. Es geht nicht anders.«