Kapitel // 1 //

«Das macht zwanzig für Sie, Caine. Sind Sie dabei oder nicht?»

David Caine hörte die Frage, konnte aber nicht antworten; seine Nase ließ ihn nicht. Der Gestank ähnelte nichts, was er je gerochen hatte – eine widerliche Brühe aus ranzigem Fleisch und faulen Eiern in einem Kübel voll Urin. Er hatte im Internet gelesen, dass sich schon Leute umgebracht hatten, weil der Gestank so unerträglich wurde. Er hatte das zunächst nicht geglaubt, aber nun … nun kam es ihm gar nicht mehr so abwegig vor.

Er wusste zwar, dass dieser Gestank nur das Nebenprodukt einiger verwirrter Nervenzellen war, aber das änderte nichts. Seinem Gehirn zufolge war der Gestank real. Realer als der Zigarettenqualm, der über dem Tisch hing. Realer als das fettige McDonald’s-Aroma, das von Walters nächtlichem Imbiss ausging. Realer als die Geruchsmischung aus Schweiß und Verzweiflung, die alles im Raum durchdrang.

Der Gestank war so schlimm, dass Caine davon die Augen tränten. Doch so schlimm er auch war, verabscheute Caine ihn doch nicht so sehr wie das, wofür er stand. Dieser Gestank bedeutete, dass gleich wieder einer kam, und der Heftigkeit nach zu urteilen – ein das Hirn benebelnder Fäulnisgestank, bei dem sich einem alles drehte und man nur noch kotzen wollte –, stand ein mächtiger Schlag bevor. Und schlimmer noch: Er nahte schnell, und ausgerechnet jetzt konnte Caine sich das überhaupt nicht erlauben.

Caine kniff kurz die Augen zusammen, ein fruchtloser Versuch, seinem Schicksal zu entrinnen. Dann hob er die Lider wieder und starrte auf die zerknüllte rotgelbe Pommestüte, die vor Walter lag. Sie pulsierte vor seinen Augen wie ein Herz aus Karton. Caine wandte sich ab, fürchtete plötzlich, sich übergeben zu müssen.

«David, alles in Ordnung mit Ihnen?»

Caine spürte eine warme Hand auf der Schulter. Es war Schwester Mary Straight, eine ehemalige Nonne, die eine uralte, übergroße Gebissprothese trug. Sie war die einzige Frau am Tisch – ja, die einzige Frau im ganzen Club, einmal abgesehen von den beiden ausgemergelten rumänischen Kellnerinnen, die Nikolaev engagiert hatte, damit niemand während des Spiels aufstehen musste. Die Schwester aber war die einzige Spielerin. Und obwohl alle sie «Schwester» nannten, war sie eher eine Art Ersatzmutter für die Männer, die hier im Keller lebten – oder dem Podvaal, wie die Russen dazu sagten.

Streng genommen lebte niemand im Podvaal, aber Caine hätte gewettet, wenn er einen der etwa zwanzig anderen Männer an den Tischen hier gefragt hätte, wo sie sich am lebendigsten fühlten, hätten sie alle gesagt, hier, in dem beengten, fensterlosen Keller vier Meter unter dem East Village. Alle Stammgäste waren wie Caine. Spieler. Süchtige. Klar, manche hatten ein schickes Büro an der Wallstreet oder einen bedeutsam klingenden Job in Midtown und Visitenkarten mit silbernen Prägebuchstaben, aber sie alle wussten, dass das überhaupt nicht zählte. Es zählte einzig und allein, welche Karten man bekam und ob man dabei war oder nicht.

Allabendlich kamen sie wieder in das enge Kellergeschoss unter dem Chernobyl, dem kleinen russischen Nachtclub an der Avenue D. Die Bar war schmutzig, aber die Spiele, die Vitaly Nikolaev betrieb, waren sauber. Als Caine Vitaly zum ersten Mal gesehen hatte, mit seinem blassen Gesicht und den mädchenhaft dünnen Armen, hätte Caine ihn eher für einen Buchhalter als für ein Mitglied der Russenmafia gehalten.

Doch derlei Zweifel verschwanden an jenem Abend, an dem Vitaly Nikolaev Kleinholz aus Melvin Schuster machte, einem harmlosen alten Mann, der sich den falschen Club dazu ausgesucht hatte, beim Spiel zu betrügen. Ehe Caine wusste, was geschah, hatte Nikolaev dem schmerbäuchigen Großvater das Gesicht zu rotem Brei geschlagen. Anschließend wurde im Podvaal nie wieder betrogen oder geschummelt.

Und dennoch war dies der Ort, an dem sich Caine noch am ehesten wie zu Hause fühlte. In seiner winzigen Einzimmerwohnung an der Upper West Side schlief er nur, duschte und rasierte sich gelegentlich. Ab und an nahm er ein Mädchen mit hinauf, aber das war nun schon lange nicht mehr vorgekommen. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass die einzige Frau, mit der Caine irgendwelchen Umgang pflegte, Schwester Mary war.

«David, alles in Ordnung mit Ihnen?» Schwester Marys Frage holte Caine zurück in die Welt der Lebenden. Er blinzelte und nickte der Schwester dann schnell zu, und das genügte, damit ihm wieder übel wurde.

«Ja, mir geht’s gut, Schwester. Danke.»

«Sicher? Sie sind ein bisschen grün im Gesicht.»

«Das muss wohl an den grünen Scheinen liegen, die ich hier gewinnen will», sagte Caine mit halbherzigem Grinsen.

«Sind wir dann fertig mit dem Kaffeeklatsch, oder wollt ihr beide euch ein Zimmer nehmen?», höhnte Walter. Er beugte sich so weit vor, dass Caine seine Röstzwiebelfahne riechen konnte. «Zwanzig. Für. Sie. Dabei. Oder. Nicht?»

Caine sah hinab auf sein Blatt und dann wieder auf die aufgedeckten Karten auf dem Tisch. Er streckte die langen, sehnigen Arme über den widerspenstigen schwarzen Haarschopf. Er zwang sich, den Gestank zu ignorieren, und überlegte, was er nun tun sollte.

«Hören Sie auf, die Chancen zu berechnen, und setzen Sie», sagte Walter und zupfte an einem Niednagel.

Caine war dafür bekannt, dass er kopfrechnend die Chancen von fast allem kalkulierte. Die einzige Variable, die Caine hier nicht berechnen konnte, war die Wahrscheinlichkeit, dass seine Gegenspieler blufften, aber er versuchte es dennoch. Caine hatte den Eindruck, dass ihn Walter absichtlich zur Eile antrieb, und deshalb schenkte er ihm einen gelangweilten Blick und analysierte weiter die Lage.

Sie spielten Texas Hold ’Em, und die Regeln waren einfach. Jeder Spieler erhielt zwei Karten, und dann wurden drei Gemeinschaftskarten, der Flop, für jedermann sichtbar aufgedeckt. Anschließend folgte die vierte offene Karte, der so genannte Turn, und schließlich die fünfte und letzte, River genannt. Nach jeder offenen Karte gab es eine Setzrunde, und es gewann der Spieler, der das beste Fünf-Karten-Blatt hatte – gebildet aus den fünf Gemeinschaftskarten in der Tischmitte und den beiden Karten auf der Hand.

Das Schöne an diesem Spiel war, dass ein kluger Spieler jederzeit mit einem Blick auf die Tischmitte das bestmögliche Blatt ermitteln konnte. Wenn Caine den Flop ansah, sah er nicht drei Karten, sondern Hunderte von Wahrscheinlichkeiten. Am meisten interessierte ihn dabei die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Mit seinem gegenwärtigen Blatt schätzte Caine diese Wahrscheinlichkeit als hoch ein. Er hatte zwei Asse auf der Hand, Herz und Karo. Die Gemeinschaftskarten waren ein Kreuzass und zweimal Pik: Bube und Sechs. Caine hatte also drei Asse und damit das Nuts, das bestmögliche Blatt, aber es gab noch eine Menge Outs.

Er begann die Chancen für jedes denkbare Szenario zu kalkulieren. In den wenigen kostbaren Sekunden, in denen Caine seine Berechnungen anstellte, schwiegen glücklicherweise die Neuronen, die immer noch darauf beharrten, die Luft sei erfüllt mit dem Gestank von brennendem Fleisch.

Wer jetzt zwei Pikkarten auf der Hand hatte, hatte insgesamt viermal Pik – zweimal auf der Hand und zweimal auf dem Tisch. Derjenige brauchte für einen Flush noch eine weitere Pikkarte. Caine rechnete alles durch, und sein Hirn jonglierte mit den Zahlen mit der Leichtigkeit, mit der ein Kind das Abc herunterleiert.

Da ein Pokerblatt dreizehn Pikkarten enthielt, waren, wenn jemand zweimal Pik auf der Hand hatte, nur noch neun Pikkarten im Kartenstapel übrig (die diesbezüglichen Outs). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der nächsten beiden Karten ein Pikwert sein würde, betrug 36 Prozent. Das war hoch, aber andererseits lag die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zwei Pikkarten ausgeteilt bekommen hatte, bei lediglich sechs Prozent.

Caine drehte den geistigen Schlüssel im Schloss, um an die Lösung zu gelangen: die Wahrscheinlichkeit, dass man zwei Pikkarten bekam und eine weitere aufgedeckt wurde. Er seufzte, als der Wert wie eine prächtige Neonschrift in seinem Kopf aufleuchtete: nur 2,1 Prozent. Damit konnte er leben.

Er wiederholte diese Übung und berechnete diesmal die Wahrscheinlichkeit, dass jemand nur eine Pikkarte ausgeteilt bekam und dennoch einen Flush hinlegte: gerade mal 2,0 Prozent. Die Chance, dass jemand mit Kreuz statt mit Pik einen Flush erzielte, war sogar noch geringer: 0,3 Prozent. Darum musste er sich keine Sorgen machen.

Die Straße war da schon beunruhigender. Da ein Ass und ein Bube offen lagen und keine weitere Bildkarte und keine Zehn in Sicht waren, gab es noch zwölf Outs, mit denen eine Straße gebildet werden konnte (die vier Könige, Damen und Zehnen). Dennoch lag die Wahrscheinlichkeit, dass jemand bereits die beiden übrigen für eine Straße nötigen Karten auf der Hand hatte, bei lediglich 3,6 Prozent. Theoretisch war auch immer noch ein Straight Flush möglich, aber die Chance war so minimal, dass Caine sich nicht die Mühe machte, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen.

Da Caine bereits drei Asse hatte, brauchte er nun entweder ein weiteres Ass, einen Buben oder eine Sechs. Wenn er ein weiteres Ass bekam, hatte er einen Vierling. Mit einem Buben oder einer Sechs hatte er ein Full House, entweder mit Assen und Buben oder mit Assen und Sechsen. Bei sieben Outs (ein Ass, drei Buben, drei Sechsen) lag die Wahrscheinlichkeit, bei den nächsten beiden Runden die dafür nötigen Karten zu bekommen, bei … Caine blinzelte, sein Herz pochte … 28 Prozent. Nicht schlecht.

Er sah zu Walter hinüber, versuchte in den tränenden Augen des alten Mannes zu lesen, aber da war nur eine Mattigkeit, die Caine auch von seinem eigenen Spiegelbild her kannte. Das und ein nervöses, intensives Verlangen, zu spielen, zu spielen, zu spielen. Und dann übermannte ihn eine weitere Woge dieses Gestanks. Warmer Gallensaft quoll ihm in den Mund, und er würgte ihn wieder hinunter.

Caine wusste, er hätte auf die Toilette gehen sollen, aber er konnte nicht. Nicht mitten in einer Partie, bei der er das bestmögliche Blatt hatte. Undenkbar. Selbst wenn ihm die Augen geblutet hätten, wäre er erst gegangen, wenn die Karten wieder eingesammelt wurden. Ohne hinzusehen, warf er vier Chips in den Pott.

«Erhöhe um zwanzig.»

«Gehe mit.» Die Straßen-Schwester blieb dabei. Caine hoffte, sie war diesmal auf den Buben aus und nicht, wie es ihre Angewohnheit war, auf eine Straße.

«Gehe mit.» Mist, Stone blieb ebenfalls dabei. Wie üblich saß er still wie eine Statue da. Er regte sich fast nie, aber das war nicht der Grund für seinen Spitznamen; den hatte er sich damit verdient, dass auf ihn felsenfest Verlass war. Stone hielt sich immer an die Regeln, ließ sich nie von einem Gefühl oder einer Laune leiten und behielt stets die Chancen im Blick. Er wäre nun auf jeden Fall ausgestiegen, wenn er es nicht auf eine Straße oder einen Flush abgesehen hätte.

Caine verwünschte sich dafür, dass er nicht aggressiver gesetzt hatte, ehe beim Flop die ganzen Straßenfans zum Vorschein kamen. Sie wären nicht dabeigeblieben, wenn er von Anfang an härter rangegangen wäre. Doch der Gestank hatte ihn benebelt, und er hatte schlecht gespielt. Er versuchte sich einzureden, dass er aus lauter Gier so wenig gesetzt hatte, damit ihm die anderen auf den Leim gingen, aber das stimmte nicht. Es war der Gestank. Der Gestank, der Gestank, der Gestank. Wenn er die Augen schloss, sah er vor seinem geistigen Auge bergeweise faulendes Fleisch, in dem sich zahllose weiße Maden wanden.

Walter nestelte an seinen Chips herum, schnippte sie sich von den Fingerknöcheln. Einen Moment lang glaubte Caine, Walter würde erhöhen, doch stattdessen ging er nur mit. Ja, alle warteten auf den Turn und hielten sich zurück, solange sie nicht wussten, was da kommen würde.

Die nächste Karte war ein erfreulicher Anblick. Für Caine war sie schöner als das Playmate des Monats oder der Sonnenuntergang über dem Grand Canyon – ein Pikass. Mit den zwei Assen auf dem Tisch und den beiden auf der Hand hatte er nun einen Vierling.

Das einzige Blatt, das seins noch schlagen konnte, war ein Straight Flush, aber es war unwahrscheinlich, dass jemand den bekam. Da musste als Nächstes schon ein Pikkönig, eine Pikdame oder eine Pikzehn kommen, und diejenigen, die dann noch übrig waren, mussten bereits die beiden anderen hohen Pikwerte auf der Hand haben. Nein, das kam nicht in Frage.

Aber dennoch … Caine rechnete es schnell im Kopf durch, mit hängenden Lidern, um seine hin und her schießenden Blicke zu verbergen: Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine dieser drei Pik-Kombinationen ausgeteilt bekam (König-Dame, König-Zehn oder Dame-Zehn), stand bei 442 zu eins. Die Wahrscheinlichkeit, dass man eins dieser Paare ausgeteilt bekam und dass dann auch noch die dritte Karte kam, lag bei 19 448 zu eins. Nein, das kam wirklich nicht in Frage.

Der Pott war sein; jetzt ging es nur noch darum, wie hoch er den Gewinn bis zum Ende der Partie treiben konnte. Wenn er zu aggressiv setzte, verscheuchte er womöglich die ganzen Fische. Ließ er es aber sachte angehen, so vergeudete er womöglich dieses Prachtblatt. Er musste die goldene Mitte finden – nicht zu wenig und nicht zu viel.

«Zwanzig.» Walter warf vier rote Chips in den Pott und lehnte sich zurück, so als stellte er sich auf eine längere Wartezeit ein.

Caine betrachtete seine Chips und nahm zwei grüne zur Hand. «Sagen wir mal fünfzig.»

«Ich passe», sagte Schwester Mary empört, warf mit der einen Hand ihre Karten hin und nestelte mit der anderen an dem silbernen Kruzifix an ihrer Halskette.

«Ich auch», sagte Stone. Er regte sich nicht, hatte sein Blatt ohnehin schon verdeckt vor sich hingelegt. Beide hatten sie wahrscheinlich auf eine Straße abgezielt, und dann war ihnen klar geworden, dass jemand mit der letzten Karte ein Full House oder einen Flush erzielt hatte.

«Dann bleiben nur noch Sie und ich», sagte Walter und kaute geistesabwesend auf einer kalten Fritte herum. «Bringen wir doch mal ein bisschen Schwung in die Bude. Ich erhöhe noch mal um fünfzig.» Seine Stimme war ebenso ölig wie seine Haut. Seine fettfleckigen Chips klimperten in den Pott.

Caine gab sich Mühe, den Gestank nicht zu beachten und sich zu konzentrieren. Was tat Walter da? Vielleicht war er komplett schief gewickelt, aber das glaubte Caine nicht – nicht mit zwei Assen auf dem Tisch. Und außerdem verleitete irgendetwas an dem arroganten Grinsen des Mannes Caine zu dem Glauben, dass durchaus etwas dahinter steckte. Dann wurde es Caine klar: Walter hatte entweder zwei Buben oder zwei Sechsen auf der Hand. Er hatte ein Full House, wahrscheinlich aus Buben und Assen – und Walter hatte jetzt nur das Problem, dass keins der beiden Full Houses Caines Vierling schlagen konnte.

Wäre Caine nicht so übel gewesen, dann hätte er jetzt gelächelt. Wenn er sich nach dem Spiel in einer Toilettenkabine übergab, konnte er sich wenigstens mit einem hübschen Chipsstapel trösten. Caine konzentrierte sich darauf, seine Stimme ganz normal klingen zu lassen, auch wenn jedes Wort, das über seine Lippen kam, nach geronnener Milch schmeckte.

«Nochmal fünfzig.» Caine warf einen Hundertdollarchip in den Pott. Das mattschwarze runde Plättchen erregte Nikolaevs Aufmerksamkeit, und er schlenderte herbei, um sich das anzusehen. Walter warf ebenfalls einen schwarzen Chip hinein und nahm sich als Wechselgeld zwei grüne. Dann deckte der Geber den River auf – einen Pikkönig –, und Caine drehte sich der Magen um.

Da nun Pikass, -könig und -bube auf dem Tisch lagen, war ein Royal Flush durchaus wieder im Bereich des Möglichen. Er sah auf sein Blatt, dann auf den Tisch und versuchte den Gestank zu ignorieren. Er trank einen großen Schluck Cola, um ihn zu vertreiben, aber es nützte nichts. Denk nach, denk nach, denk nach. Konzentriere dich nicht auf den Gestank, konzentriere dich auf die Karten, die Zahlen.

So würde es gehen. Die Zahlen würden ihm helfen. Sie würden ihn leiten. Er sagte sie im Geiste auf, steckte all seine Energie in diese Litanei der Wahrscheinlichkeit. Er hatte einen Vierling, Four of a Kind. Was bedeutete das?

Der Gestank, dieser entsetzliche Gestank, er war überall.

Nein, konzentriere dich. Konzentriere dich auf die Zahlen.

Mit sieben Karten lassen sich 134 Millionen unterschiedliche Blätter bilden. Von diesen 134 Millionen Blättern ergeben nur 224 848 einen Vierling. Daher liegt die Chance, einen Vierling zu bekommen, bei lediglich 0,168 Prozent oder 595 zu eins.

Und der Straight Flush?

Bei sieben Karten gibt es nur 38 916 Kombinationen, die einen Straight Flush ergeben. Die Chance liegt also bei lediglich 0,029 Prozent. Nur jedes 3438-ste Blatt.

Aber beides zur gleichen Zeit? Wie viele Kombinationen waren das? Ihm schwirrte der Kopf. Er konnte nicht mehr klar denken. Wie viele Kombinationen? Nicht viele. Nur eine verschwindend geringe Chance. Vernachlässigbar. Die genaue Berechnung überforderte ihn in seiner momentanen Verfassung. Er wusste nur, dass es eine kleine Teilmenge jener 38 916 Blätter sein würde. Wahrscheinlich so um die fünftausend. Fünftausend von 134 Millionen möglichen Sieben-Karten-Kombinationen – eine Chance von 26 757 zu eins.

Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein … Aber möglich war es dennoch. Himmel Herrgott, dieser Gestank brachte ihn um. Er schloss die Augen und hoffte, dass alles wieder normal sein würde, wenn er sie öffnete. Doch als er die Lider hob, sah er alles wie in einem Zerrspiegel. Walters abgehärmtes Gesicht dehnte sich vom Boden bis zur Decke. Seine dunklen Augenringe waren groß wie Frisbees. Mit seinem Mund hätte er einen Großbildfernseher verschlingen können.

«Schätzchen, sind Sie sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist?»

Die Stimme kam aus großer Ferne. Caine drehte den Kopf, und der ganze Raum schwenkte so abrupt herum, dass er fast vom Stuhl gekippt wäre.

«Vorsichtig, vorsichtig.» Das war Stone. Er hatte Caine am Arm festgehalten. Caine verstand erst nicht, was das sollte, dann aber bemerkte er, dass er sich ein gutes Stück nach links gelehnt hatte. Er packte den Filztisch mit beiden Händen und richtete sich wieder auf.

«Es geht mir gut», stieß Caine keuchend hervor, «nur ein leichter Schwindelanfall.» Seine Stimme klang, als käme sie aus einem tiefen Tunnel.

«Ich glaube, Sie sollten sich ein Weilchen hinlegen, mein Lieber.»

«Erst muss er das hier zu Ende spielen», sagte Walter und wandte sich dann an Caine. «Es sei denn, Sie steigen aus.»

«Seien Sie doch kein solches Arschloch, Walter. Sehen Sie denn nicht, dass es ihm nicht gut geht?»

«Arschloch? Und mit diesem Mund beten Sie zu Gott, Schwester? Ich meine –»

«Walter, seien Sie still!», sagte Schwester Straight mit solchem Nachdruck, dass Walter den Mund zuklappte. Dann beugte sie sich zu Caine hinüber. «Wollen Sie es sich ein bisschen auf der Couch bequem machen?» Im Augenwinkel sah Caine Vitaly Nikolaev über der Schulter der Schwester aufragen. Er blickte nicht besorgt – er blickte sauer.

«Nein, nein, es geht mir gut», sagte Caine und legte alle Kraft, über die er noch gebot, in seine Stimme. «Lassen Sie mich nur kurz zu Ende spielen.» Ehe die Schwester etwas darauf erwidern konnte, legte Caine einen schwarzen Chip in den Pott. «Einhundert», sagte er. Da nun die letzte Karte gegeben war, galt das Pottlimit: Die Spieler konnten um die gesamte Pottsumme erhöhen.

Walter starrte Caine an, versuchte aus ihm schlau zu werden. Wenn Caine irgendetwas über seine Absichten anzusehen war, dann war es nun, da war er sich ziemlich sicher, dank seiner Krankheit verborgen. Walters prüfender Blick würde lediglich ergeben, dass Caine aussah wie ein wandelnder Leichnam.

Walter wandte den Kopf und murmelte: «Vitaly, zählen Sie mal bitte.» Nikolaev kam an den Tisch und stapelte fachmännisch die Chips auf, die im Pott lagen. Fünf schwarze, acht grüne und fünfzehn rote – insgesamt 775 Dollar.

«Ich halte Ihre hundert. Sie sind dran», sagte er und zog zehn Hundertdollarscheine aus einem Geldclip, der neben seinem Ellbogen lag. «Das macht 875 Dollar für Sie.»

Walter wollte Caine glauben machen, er hätte einen Straight Flush. Aber das konnte nicht sein. Nicht bei diesen Chancen. Walter versuchte nur den Pott zu kaufen – aber das würde Caine nicht zulassen. Er betrachtete seinen armseligen Chipsstapel und dann das Blatt Papier darunter. Es war ein Kreditrahmen über fünfzehntausend Dollar, den Caine sich damit verdient hatte, dass er seine Schulden immer prompt beglichen hatte. Als Nikolaev ihm diesen Kreditrahmen eingeräumt hatte, hatte sich Caine geschworen, nie davon Gebrauch zu machen, es sei denn, er hätte ein bombensicheres Blatt auf der Hand. Und wenn vier Asse nicht bombensicher waren, wusste er nicht, was dann.

Er nickte Nikolaev zu, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Nikolaev hatte bereits einem seiner hünenhaften Leibwächter ein Signal gegeben. Er legte einen Stapel von fünfzehn lila Chips vor Caine ab. Wenn er mit den 875 Dollar mitging, war die Sache im Handumdrehen vorbei. Wenn er verlor, stand er bei Nikolaev mit tausend Dollar in der Kreide – kein angenehmer Gedanke, aber das konnte er binnen weniger Wochen durchaus auftreiben. Caine versuchte sich vorzumachen, dass er diese Option tatsächlich in Erwägung zog, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte. Er würde auf gar keinen Fall mitgehen. Nicht mit einem Vierling. Nicht nachdem Walter versucht hatte, ihm den Pott wegzuschnappen. Mitzugehen kam nicht mehr in Frage. Er musste erhöhen.

Caine schob langsam vier lila Chips in Richtung Pott und nahm sich fünf schwarze als Wechselgeld heraus. «Das sind 3500 Dollar. Sie sind dran.»

Schwester Mary hielt den Atem an. Sogar Stone war beeindruckt – das erkannte Caine an der zarten Falte, die auf seiner Stirn auftauchte. Alle Luft schien aus dem Raum gewichen. Selbst der furchtbare Gestank ließ für einen Moment nach, als Caine in Walters tränende Augen sah.

«Das macht 2625 Dollar für Sie, Walter. Sind Sie dabei oder nicht?»

Walter grinste nur. «Dafür werden Sie sich morgen echt in den Arsch beißen.» Er nickte Nikolaev zu, und zehn lila Chips wurden vor ihm abgelegt. Walter schob sie nach vorne, dazu noch fünf schwarze, und warf sie alle in den Pott.

«Sie sind dran», sagte Walter. «Gehen Sie mit?»

Caine sank der Mut. Er konnte nicht mehr erhöhen. Das war’s. Um mitzugehen, musste er 7875 Dollar setzen. Wenn er verlor, stand er bei Nikolaev mit elftausend Dollar in der Kreide – was etwa 10 600 Dollar mehr waren, als er auf seinem Bankkonto hatte. Das waren ernst zu nehmende Schulden bei einem sehr ernst zu nehmenden Mann. Aber wenigstens hätte Caine damit die Frage geklärt, ob er immer noch spielsüchtig war. Sein Vertrauensmann bei den Anonymen Spielern würde richtig stolz auf ihn sein.

Aber das spielte alles keine Rolle. Denn wenn er hier mit seinen vier Assen aufgab, obwohl er die Chance hatte, den Pott zu gewinnen – in dem nun fette 15 750 Dollar lagen –, würde er sich umbringen.

«Ich bin dabei», sagte er mit einem halbherzigen Seufzer, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er ließ acht lila Chips in den Pott gleiten und sagte: «Dann zeigen Sie mal her.»

Caine spürte, dass sich der ganze Tisch gespannt vorbeugte, um zu sehen, ob Walter tatsächlich die für einen Royal Flush nötigen Pikdame und Pikzehn auf der Hand hatte oder ob alles nur Spinnerei war. Walter drehte seine Karten eine nach der anderen um. Als Caine sah, dass die erste eine Pikdame war, wusste er, dass Walter gewonnen hatte. Dennoch sah er wie versteinert zu, als der alte Mann auch die Pikzehn aufdeckte. Royal Straight Flush. Es war das einzige Blatt, das Caines Vierling schlagen konnte. Er hatte alles verloren. Es kam ihm unwirklich vor. Die Wahrscheinlichkeit war so gering gewesen, dass es beinahe unmöglich war.

Caine versuchte etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht. Er schaffte es nur, den Mund ein wenig zu bewegen, doch ehe ein Laut aus seiner Kehle dringen konnte, brach der Gestank über ihn herein und verschlang ihn wie eine Flutwelle aus fauligem Fleisch. Er spürte, wie der Gestank in seine Haut einzog, in seinen Adern pulsierte, durch Nase, Mund und Augen in ihn eindrang. Es war schlimmer als je zuvor. Es war der Gestank des Todes.

Alles wurde schwarz, und Caine fiel zu Boden. In dem kurzen Moment, ehe er das Bewusstsein verlor, nahm Caine ein Gefühl wahr, das ihn erstaunte: Erleichterung.