Nava nahm allen Mut zusammen, als sie die metallisch blaugrauen Sicherheitstüren der New Yorker CIA-Dienststelle passierte. Wenn man sie festnehmen würde, dann würde es hier geschehen, in diesem Vorraum. Als sich die Türen hinter ihr schlossen, beäugte sie die beiden bewaffneten Sicherheitsbeamten, versuchte festzustellen, ob sie etwas im Schilde führten. Doch ihre Gesichter waren ausdruckslos.
Langsam ging sie zu dem letzten Kontrollpunkt. Der Rahmen des Metalldetektors leuchtete rot auf, als sie hindurchschritt, aber die Beamten machten keine Anstalten, sie zu durchsuchen. Sie wussten, dass es ihr gestattet war, innerhalb des Gebäudes Schusswaffen zu tragen. Sie legte eine Hand auf den Scanner an der Tür und wartete, während eine weiße Lichtlinie unter ihren Fingern entlangfuhr.
Mit einem Klicken öffnete sich das elektronische Schloss, und die kugelsichere Tür glitt beiseite. Erleichtert schritt Nava hinein. Als Erstes erblickte sie den Empfangsbereich. Von dem CIA-Emblem an der Wand einmal abgesehen, wirkte er wie in einem ganz normalen Unternehmen. Dort saßen sogar zwei Sekretärinnen – die eine lebhaft und munter, die andere eher dröge. Als Nava ihren Namen nannte, geleitete die zweite sie durch ein Gewirr von Arbeitswaben zum Büro des Direktors.
Direktor Bryce erhob sich, um Nava die Hand zu schütteln, als sie den kleinen, fensterlosen Raum betrat. Er war ein großer, schlanker Mann mit dichtem, silbergrauem Haar, scharfen braunen Augen und einem festen Händedruck. Er sah eher wie der Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns aus als wie ein Nachrichtendienstler. Er vergeudete keine Zeit und kam gleich zum Punkt.
«Ich versetze Sie.»
«Was?» Nava war darauf gefasst, festgenommen zu werden, aber das hier traf sie völlig unvorbereitet.
«Dem Science and Technology Research-Labor der NSA mangelt es an Manpower, und man hat einen fähigen Field Agent angefordert.»
Nava verstand kein Wort. Die NSA verfügte über fünfmal so viele Agenten wie die CIA. Und außerdem hatte sie noch nie von einer solchen Versetzung von einem Nachrichtendienst zum anderen gehört. Das musste eine Falle sein. Sie musste versuchen, Zeit zu schinden und mehr Informationen zu bekommen.
«Aber, Sir, ich kann doch nicht –»
«Sie können, und Sie werden. Die Versetzung gilt ab sofort. Hier ist Ihr neuer Dienstausweis», sagte er und schob ihr eine frisch laminierte Karte über den Schreibtisch. «Ihren CIA-Ausweis können Sie bei der Security abgeben, wenn Sie gehen.»
«Sir, wozu braucht die NSA denn eine CIA-Agentin?»
«Das wollen sie uns offensichtlich nicht mitteilen, denn sonst hätten sie unsere Unterstützung angefordert und nicht eine Versetzung», stieß der Direktor hervor. Sein bitterer Tonfall verriet ihr alles, was sie wissen musste. Die Versetzung war nicht seine Idee gewesen. Es war offenbar doch keine Falle, sondern etwas, das man ihm aufgezwungen hatte.
«Aber warum ich?», fragte sie, immer noch perplex.
«Sie sind die einzige Agentin, die gegenwärtig in keiner Mission unterwegs ist und über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt.» Als Nava diese Worte hörte, war ihr mit einem Mal alles klar. Die NSA würde nur dann eine CIA-Mitarbeiterin wie Nava anfordern, wenn es galt, jemanden zu verhören, zu entführen oder zu töten. Der Direktor nahm ein Blatt Papier aus seinem Laserdrucker und reichte es ihr.
«Das ist die Adresse der Dienststelle der STR. Sie sollen sich dort um zwölf Uhr mittags melden, also müssen Sie sich beeilen.» Er wandte sich wieder seinem Bildschirm zu, hatte ihr offenbar nichts mehr zu sagen. «Und nun entschuldigen Sie mich bitte.»
Ein bewaffneter Sicherheitsbeamter erwartete Nava bereits, als sie das Büro des Direktors verließ. Er sah streng zu ihr herab.
«Ich soll Sie nach draußen begleiten, Ma’am.»
Nava überlegte hin und her. Sie musste sich ins Netzwerk einloggen und die Informationen auf eine neue CD brennen. Mit den Wimpern klimpernd, sah sie zu dem Sicherheitsbeamten hoch.
«Darf ich nur ganz kurz an einem Terminal meine Mails abrufen? Es dauert nur einen Augenblick.»
«Das geht leider nicht, Ma’am. Ihre Sicherheitscodes sind nicht mehr gültig. Ich muss Sie bitten, jetzt mitzukommen.»
Nava zuckte die Achseln, als wäre es nicht weiter schlimm, und ließ sich von dem Sicherheitsbeamten aus dem Gebäude geleiten. Sie fragte sich, wie die RDEI reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass Nava keinen Zugang mehr zu den Informationen hatte. Sobald sie draußen war, steckte sich Nava mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie einen großen Koreaner, der eine verspiegelte Sonnenbrille trug und in ein Mobiltelefon sprach. Mist. Sie folgten ihr bereits.
Sie tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, und brach zu Fuß zum STR-Labor auf, das sich fünfzehn Häuserblocks entfernt befand. Der Mann hielt mit ihr Schritt und verhehlte kaum, was er da tat. Sie wusste, dass die Speznaz-Agenten eigentlich geschickter waren. Sie hatte ihn nur entdecken können, weil er entdeckt werden wollte. Er sollte sie daran erinnern, dass sie beobachtet wurde. Als hätte sie das vergessen können.
Sie verbannte den Mann aus ihren Gedanken und dachte krampfhaft nach. Ihr ursprünglicher Plan, in der Dienststelle eine weitere CD zu brennen, war nun nicht mehr durchführbar. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen, das sie der RDEI liefern konnte. Wenn sie binnen sechzehn Stunden nichts ablieferte, würde man sie töten.
Nava konnte jetzt nur noch hoffen, dass sie bei der STR auf irgendwelche Informationen stieß, die als Ersatz akzeptiert würden. Es war nur eine vage Hoffnung, aber sie musste es probieren. Wenn sie nichts fand, blieb ihr nur noch wegzulaufen.
In Gedanken immer noch Fluchtpläne schmiedend, betrat Nava das Bürogebäude in Downtown Manhattan, in dem das Science and Technology Research-Labor der NSA untergebracht war. Nachdem sie die Sicherheitskontrollen passiert hatte, fuhr sie mit dem Fahrstuhl in die 21. Etage. Eine lächelnde Empfangssekretärin begrüßte sie.
«Herzlich willkommen, Agent Vaner», sagte die Frau. «Bitte folgen Sie mir. Dr. Forsythe erwartet Sie bereits.»
Als Dr. Tversky Julia sacht auf die Stirn küsste, spürte er, dass sie am ganzen Leib zitterte.
«Geht es dir gut, meine Liebe?»
«Bestens», murmelte Julia, die Augen geschlossen. «Es geht mir immer bestens, wenn ich bei dir bin.»
O Gott. Er wusste ja, dass sie bis über beide Ohren verknallt war, aber allmählich nahm das lächerliche Züge an. Er fragte sich, wie lange er dieses Affentheater noch mitmachen musste. Sein Verstand sagte ihm, dass er sich, wenn sich das Experiment als Fehlschlag erweisen sollte, wenigstens von dieser Beziehung befreien könnte.
Vortäuschend, was sie seiner Hoffnung nach für Zärtlichkeit hielt, drückte Tversky ihr kurz den Arm und trat dann einen Schritt zurück, um seine Geliebte, sein Versuchskaninchen, zu untersuchen. Sie lag nackt auf dem Tisch, nur ein dünnes Baumwolltuch bedeckte ihre Scham, und die dunkelbraunen Warzen ihrer kleinen Brüste reckten sich in der kühlen Luft des Labors empor.
Sechs glänzende Elektroden waren mit Klebeband direkt unterhalb der Brüste angebracht. Die Kabel verliefen über ihren Bauch, verschwanden dann unter dem Tisch und schlängelten sich hin zu dem EKG-Gerät. Acht weitere Elektroden waren an ihrer Kopfhaut befestigt, zwei für jeden Gehirnlappen – den Vorder-, Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptlappen. Diese Kabel waren mit dem Elektroenzephalographen, dem EEG, verbunden, der die elektrischen Impulse im Gehirn maß. Tversky richtete seine Aufmerksamkeit auf die Reihe von Monitoren neben Julia und konzentrierte sich auf die Darstellung ihrer Hirnstromwellen.
Als jemand, der sich ebenso mit Geschichte wie mit den Naturwissenschaften befasste, staunte Tversky über die Kette der Ereignisse, die hierzu geführt hatte. Alles ließ sich auf das Jahr 1875 zurückführen, als der Liverpooler Arzt Richard Caton zum ersten Mal elektrische Signale an der Oberfläche des Gehirns von Tieren gemessen hatte. Fünfzig Jahre später entwickelte der österreichische Nervenarzt Hans Berger den Elektroenzephalographen, mit dem man Stärke und Frequenz menschlicher Hirnströme messen konnte. Wie Tversky hielt auch Berger viel von Menschenversuchen. 1929 veröffentlichte er die ersten 73 EEG-Messungen, die alle vom selben Versuchsobjekt stammten – seinem Sohn Klaus.
Doch was Tversky wirklich interessierte, waren die Forschungen, die Berger in den Dreißigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts mit Epileptikern angestellt hatte. Berger hatte entdeckt, dass die Hirnströme eines Epilepsiekranken während eines Anfalls stärker waren als bei normalen Patienten. Noch interessanter war, dass die Hirnströme direkt nach einem Anfall fast aussetzten, so als wäre es zu einer Art Kurzschluss gekommen. Dieser erstaunliche Gegensatz brachte Tversky dazu, die Hirnströme derjenigen zu erforschen, die an der Krankheit litten, die man früher einmal als «Geißel Gottes» bezeichnet hatte.
Tversky hatte immer gewusst, dass die Hirnströme der Schlüssel zu dem waren, wonach er suchte. Beta, Alpha, Theta, Delta – darin verbarg sich die Lösung. Während er Julias Daten betrachtete, ertappte er sich dabei, wie er sich einen Moment lang von dem auf und ab hüpfenden weißen Punkt mit dem langen silbrigen Schweif, der Julias Alphawellen darstellte, hypnotisieren ließ.
Die Frequenz der Welle, gemessen in Hertz, gab an, wie oft sich die Welle pro Sekunde wiederholte; die Amplitude oder Schwingungsweite stellte die Stärke der Hirnströme dar. Zwar waren jederzeit alle vier Wellenkategorien aktiv, eine aber war jeweils vorherrschend.
Gegenwärtig waren es Julias Alphawellen, was nicht weiter verwunderlich war. Alphawellen waren der Grundrhythmus bei entspannten Erwachsenen. Diese Wellen waren am stärksten, wenn der jeweilige Mensch einen angenehmen Tagtraum hatte, und wurden oft auch als Brücke zum Unterbewusstsein und zum Gedächtnis bezeichnet. Julias Alphawellen hatten eine Frequenz von zehn Hz, was genau in der Mitte des normalen Bereichs lag.
Tversky beschloss, auch noch die Betawellen zu überprüfen. Betawellen waren bei Menschen vorherrschend, die die Augen geöffnet hatten und aufmerksam zuhörten, nachdachten oder anderweitig Informationen verarbeiteten, und daher stellte er Julia eine Frage, um buchstäblich ihr Bewusstsein in Bewegung zu setzen.
«Liebste, ich möchte, dass du jetzt die Primzahlen aufsagst, bis ich dir sage, dass du wieder damit aufhören kannst. Ab jetzt.»
Julia nickte knapp und begann: «Zwei, drei, fünf, sieben, elf, dreizehn …»
Zunächst änderten sich ihre Hirnströme kaum, vermutlich, weil sie die ersten zehn Primzahlen auswendig kannte. Als sie jedoch zu immer höheren Zahlen kam, musste Julia nachdenken, und ihre Betawellen schlugen aus und pendelten sich wie erwartet bei neunzehn Hz ein.
«Danke, Julia. Das reicht.»
Julia hörte auf zu zählen, und sofort sanken Amplitude und Frequenz ihrer Betawellen. Nun waren wieder ihre Alphawellen vorherrschend. Tversky zog in seiner Spritze zwei Kubikzentimeter einer gelblichen Lösung auf. «Ich gebe dir jetzt ein leichtes Beruhigungsmittel. Es wird kurz pieken.»
Tversky fuhr ihr mit der Nadel in den Arm, und Julia spannte sich kurz an, doch schon wenige Sekunden später spürte er, wie sie sich wieder entspannte, so als hätten alle Muskeln ihres Körpers gleichzeitig ausgeatmet. Ihre Atemzüge wurden ruhiger, und ihr Kopf sank zur Seite. Tversky schnippte direkt vor ihrem Gesicht mit den Fingern. Julia blinzelte noch ein paarmal träge, dann waren ihre geschlossenen Augen ruhig.
«Julia, kannst du mich hören?»
«Höre dich», murmelte Julia.
Sie war noch nicht bewusstlos, aber nahe dran, genau da, wo er sie haben wollte. Er sah zu dem Monitor hinüber und nickte. Jetzt waren ihre Thetawellen vorherrschend, was zeigte, dass sich Julia irgendwo zwischen Wachsein und Schlaf befand. Die Thetawellen standen im Zusammenhang mit Kreativität, Träumen und Phantasien.
Thetawellen waren bei wachen Erwachsenen nur in seltenen Fällen vorherrschend, bei wachen Kindern aber waren sie bis zum dreizehnten Lebensjahr ganz normal. Die Wissenschaft wusste noch nicht, ob die starken Thetawellen bei Kindern eine Folge oder eine Ursache ihrer ausgeprägten Phantasie waren, aber man wusste, dass Kinder, zumindest biochemisch gesehen, normalerweise viel kreativer waren als Erwachsene.
Tversky ließ seine Gedanken weiter schweifen, während er zusah, wie Julias Thetawellen an Intensität zunahmen. Ihre Lider begannen zu zucken, weil die Augen darunter sich blitzschnell bewegten. Er zog noch einen weiteren Kubikzentimeter auf und spritzte ihn ihr. Dann wartete er ein paar Minuten lang ab, bis das Medikament seine volle Wirkung entfaltete.
Nach einer Weile nahmen Frequenz und Amplitude der Thetawellen ab, und sie überließen das Feld den Deltawellen. Diese Wellen schwangen viel langsamer als die anderen – mit lediglich zwei Hz –, waren aber auch viel stärker. Julia war nun in einen tiefen, traumlosen Schlaf versunken, und ihr Unterbewusstsein hatte die Herrschaft übernommen. Die Deltawellen waren es, die Tversky am meisten interessierten, denn sie standen mit der Fähigkeit in Verbindung, die Tversky ergründen wollte – der reinen Intuition.
Als Julias Deltawellen dann am stärksten waren, verabreichte Tversky ihr eine weitere, letzte Injektion, diesmal jedoch in die Schädelbasis. Und anders als zuvor handelte es sich dabei um kein Beruhigungsmittel; es war ein neues Präparat, das Tversky entwickelt hatte. Vierjährige Forschungen waren nötig gewesen, ehe er die Grundsubstanz hatte synthetisieren können, die bei Rhesusaffen die gewünschte Wirkung zeigte, und weitere zwei Jahre, um das Serum für Versuche am Menschen zu perfektionieren.
Die ersten armen Schweine hatte er in Epilepsiekliniken im ganzen Land aufgetrieben. Sie hofften auf ein Wundermittel. Vor lauter Verzweiflung waren sie zu allem bereit. Wenn sie durchschaut hätten, worum es Tversky in Wirklichkeit ging, wären sie vermutlich nicht so vertrauensselig gewesen. Es wäre gelogen zu behaupten, dass er sich schuldig an ihrem Schicksal fühlte. Ja, er bedauerte, was dabei herausgekommen war, aber eher der Wissenschaft als der Testpersonen wegen.
Als er dann schließlich alle Mängel beseitigt hatte und sich des Erfolgs sicher war, war er dazu übergegangen, mit Julia zu experimentieren. Wenn es ihm gelang, sein Ziel zu erreichen, wollte er schließlich jemanden haben, den er kontrollieren konnte, und wer wäre dazu besser geeignet als eine liebeskranke Doktorandin? Er sah hinunter zu seiner Geliebten und streichelte ihr zärtlich den Kopf, wobei er sich vorsah, keine Elektrode zu lockern. Was für ein süßes kleines Versuchskaninchen.
Mit einem Mal begann das EKG-Gerät hektisch zu piepen. Ihr Puls hatte sich fast verdoppelt, betrug nun 120. Tversky spürte, wie ihm ebenfalls das Herz in der Brust pochte, so als wollte es sich ihrem Rhythmus angleichen. Julias Beta-, Alpha- und Theta-Wellen waren nun fast ebenso stark wie ihre Deltawellen. Tversky verschlug es den Atem. Wenn er mit seinen Theorien Recht hatte, war sie nun in der Lage, Informationen zu verarbeiten und gleichzeitig auf ihr Unterbewusstsein zuzugreifen.
Er war so nervös, dass ihm die Hände zitterten. Er zwang sich, tief einzuatmen, die Luft eine Weile in der Lunge zu halten und dann langsam wieder auszuatmen. Ein schneller Blick zur Videokamera bestätigte ihm, dass alles aufgezeichnet wurde. Er verspürte das abwegige Verlangen, in einem Spiegel den Sitz seiner Frisur zu überprüfen – denn schließlich war es ja, wenn er Recht hatte, ein historischer Moment –, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Sorge dich um das Jetzt, nicht um die Zukunft. Er nickte und wiederholte den Satz immer wieder im Geiste.
Sorge dich um das Jetzt. Sorge dich um das Jetzt.
Als er sich sicher war, dass seine Stimme nicht versagen oder zittern würde, beugte er sich vor, bis er nur noch eine Handbreit von Julias Gesicht entfernt war, und stellte ihr die Frage, die ihn seit Jahren umtrieb.
«Julia», sagte er mit rauer Stimme, «was siehst du?»
Ohne die Augen aufzuschlagen, wandte ihm Julia das Gesicht zu.
«Ich sehe … Unendlichkeit.»
Caine starrte hinab auf die längliche gelbe Kapsel und fragte sich, ob sie ihn endgültig in den Wahnsinn treiben würde.
«Ich darf erst gehen, wenn Sie Ihre Medikamente genommen haben, Mr. Caine», sagte die Krankenschwester.
«Ich weiß», sagte Caine leise.
«Gibt es ein Problem?»
«Noch nicht.» Die Schwester verstand den Scherz nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte sich Caine den Pillenbecher an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und kippte sich die Kapsel in die Kehle. Dann hob er den mit Wasser gefüllten Plastikbecher und toastete der Krankenschwester damit zu. «Ich trinke darauf, dass es so bleibt!»
Die Schwester reagierte mit einem verwirrten Blick auf Caines ängstliches Lächeln. Sie sah unter seiner Zunge nach, ob er die Tablette auch tatsächlich geschluckt hatte, und verließ dann den Raum, ließ Caine mit seinen Ängsten allein. Es würde zwanzig Minuten dauern, bis sein Magen die Hülle um Dr. Kumars neues, experimentelles Medikament verdaut hatte. Was anschließend passieren würde, wusste niemand.
Caine fragte sich, was er mit seinen (möglicherweise) letzten Momenten geistiger Gesundheit anstellen sollte. Er überlegte, sein Testament zu schreiben, aber er besaß nichts Wertvolles. Hätte Jasper ihn heute nicht besucht, dann hätte er ein paar Zeilen an seinen Zwillingsbruder gerichtet, aber das erschien ihm nun nicht mehr nötig. Letztlich schaltete er den Fernseher ein und schaute sich die zweite Hälfte einer Jeopardy-Sendung an.
Ein pummeliger Mann namens Zeke ließ die anderen beiden Kandidaten ausgesprochen alt aussehen. Er gab beim Double Jeopardy alles und nestelte dabei ständig an seiner dicken Brille mit schwarzem Gestell herum. Doch beim Daily Double wurde Zeke dann zu gierig und verlor über die Hälfte dessen, was er schon eingestrichen hatte, wodurch er mit einem Abstand von einigen hundert Dollar auf den zweiten Platz zurückfiel. Jetzt kam es auf das Final Jeopardy an. Nach einem Schwall von Werbespots für Hundefutter, Minivans und Maklerfirmen kehrte Alex Trebek zurück, um die letzte Antwort zu geben.
«Als Napoleon diesen Astronomen aus dem siebzehnten Jahrhundert fragte, warum in seinem Buch über das Sonnensystem Gott mit keinem Wort erwähnt wurde, sagte er: ‹Diese Hypothese, Sire, benötige ich nicht.›» Trebek sprach jedes Wort sorgfältig aus, und dann setzte die Jeopardy-Titelmusik ein.
«Wer ist Pierre Simon de Laplace?», fragte Caine das leere Zimmer.
Er war sich sicher, dass er Recht hatte, doch noch ehe er darüber Gewissheit erlangen konnte, schlief Caine ein und träumte von einer schizophrenen Zukunft.
Forsythe beschrieb mit blumigen Worten, was sie im Science and Technology Research-Labor taten, konnte Nava damit aber keinen Moment lang zum Narren halten. Sie konnte mit einem Wort zusammenfassen, worin der Auftrag des STR-Labors bestand – «Diebstahl» –, und das war ein Wort, das Nava nur allzu vertraut war. Sie hoffte nur, dass das, was sie für Forsythe stehlen sollte, auch für die RDEI von Interesse war.
Sobald man ihr eine Workstation zugewiesen hatte, begann Nava, sich durch die Namen der Dateien zu scrollen, welche die Hacker der STR von Tverskys Computer kopiert hatten. Neben jedem Dokument waren die Dateigröße angegeben, das Erstellungsdatum und die letzten drei Änderungsdaten, anhand deren man abschätzen konnte, ob die Dateien oft bearbeitet worden waren oder nicht. Dann sortierte Nava die Dateien und begann jene zu überfliegen, an denen am häufigsten gearbeitet worden war.
Wie sie erwartet hatte, ging ein Großteil des Materials weit über ihren Verstand. Um aus Tverskys Journal schlau zu werden, hätte sie an die Uni zurückkehren und zwanzig Semester Biologie, Physik und Statistik studieren müssen. Aber den Versuch war es wert gewesen. Ihr Ziel war es immer, sich direkt mit der Quelle zu befassen, statt sich auf die Interpretationen anderer zu verlassen, in diesem Fall blieb ihr jedoch keine andere Wahl.
Sie öffnete ein paar der Abstracts, die Forsythes Wissenschaftler verfasst hatten. Als Nava las, was dort stand, bekam sie große Augen. Zum ersten Mal seit zwölf Stunden schienen die Dinge eine günstige Wendung für sie zu nehmen. Was Tversky behauptete, entdeckt zu haben, war reine Science Fiction. Zwar lieferten seine Daten noch nicht den endgültigen Beweis, aber anscheinend war er ganz nah dran. Nava konnte ihr Glück kaum fassen. Der Schwarzmarktwert dieser Rohdaten war immens.
Und selbst wenn die RDEI nicht daran interessiert wäre, glaubte Nava, sie lange genug hinhalten zu können, bis sie einen anderen Käufer gefunden hatte. Sie selbst glaubte nicht an Tverskys Projekt. Nava verstand nichts von den biochemischen und quantenphysikalischen Grundlagen seiner Theorie, kannte aber die Welt gut genug, um zu wissen, dass das, worauf er hinauswollte, schlicht und einfach unmöglich war. Es konnte gar nicht anders sein. Das bedeutete aber nicht, dass irgendeine ausländische Regierung nicht daran glauben würde; Nava war überzeugt, dass sie irgendwo einen Abnehmer für Tverskys wilde Idee finden konnte.
Wenn sie diese Informationen verkaufte, konnte sie ein neues Leben beginnen. Nava nahm eine Lesebrille aus ihrem Rucksack und setzte sie auf. Sie achtete darauf, den Kopf vollkommen ruhig zu halten, während sie die Abstracts und Originaldateien durchblätterte, damit die in einem Brillenbügel verborgene fiberoptische Kamera scharfe Aufnahmen des Bildschirms schießen konnte. Als sie bei der letzten Seite angelangt war, scrollte sie die gesamten Daten noch einmal durch, um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte.
Als Nava damit fertig war, starrte sie den Titel der Theorie an und fragte sich, warum um alles in der Welt Tversky seinem Projekt einen solch bizarren Namen gegeben hatte. Aber egal. Sie schob den Gedanken beiseite und sah auf ihre Armbanduhr. Es war ein Uhr mittags. Ihr blieben immer noch vierzehn Stunden, um um ihr Leben zu feilschen.
Auf dem Fußmarsch nach Hause rauchte sie zwei Zigaretten. Als sie in ihrer Wohnung eintraf, hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Dann korrespondierte sie ein paar Stunden lang über verschlüsselte E-Mails mit der RDEI, dem Mossad und dem MI6. Während sie auf Antwort wartete, ging sie im Zimmer auf und ab, eine Zigarette in der Hand. Um fünf Uhr hatte sie ein Treffen verabredet, und eine Stunde später fuhr sie mit einem Taxi in die Bronx und von dort aus im letzten Wagen eines Zugs der U-Bahnlinie D zurück nach Manhattan.
Kaum hörbar kündigte der Zugführer an, dass sie auf der Fahrt nach Coney Island an sämtlichen Stationen halten würden. Während der Zug nach Südwesten fuhr, füllte er sich mehr und mehr, was an der 42nd Street seinen Höhepunkt erreichte. Von da an nahm die Zahl der Fahrgäste wieder ab, bis nur noch einige wenige übrig waren. Die einzigen beiden Verbliebenen von den zwölf Personen, die in der Bronx mit ihr zugestiegen waren, waren Koreaner – ein muskulöser Mann, der Zeitung las, und der Mann mit der verspiegelten Brille.
Da Nava nun sicher war, dass ihr niemand von der CIA gefolgt war, klappte sie ihr Buch zu und steckte es in den Rucksack. Das war das Signal. Fast augenblicklich schlug der kräftige Koreaner seine Zeitung zu, klemmte sie sich unter den Arm und setzte sich neben sie.
«Wo ist Tae-Woo?», fragte Nava.
«Yi Tae-Woo lässt sich die Nase richten», sagte der Mann mit ernster Stimme. «Mein Name ist Chang-Sun.» Nava war klar, dass «Chang-Sun» ein Deckname war, aber das interessierte sie nicht. Tae-Woos Name war bestimmt ebenfalls erfunden. Es kam nur darauf an, ob Chang-Sun verhandeln durfte oder nicht.
«Haben Sie eine Antwort für mich?» Sie hielt es nicht für nötig, mit dem Mann Nettigkeiten auszutauschen.
«Unsere Wissenschaftler im Ministerium haben die Daten analysiert und fanden sie recht interessant», sagte Chang-Sun in unverbindlichem Tonfall.
«Und?»
Der Mann reagierte ungehalten auf Navas Schroffheit, antwortete aber dennoch.
«Unser Geschäft ist abgeschlossen, wenn Sie die ungekürzten Dateien und Testperson Alpha liefern.»
«Von der Testperson Alpha war bei meinem Angebot keine Rede.»
«Ohne sie gibt es keine Abmachung», sagte Chang-Sun und öffnete auf dem Schoß die Hände, wie um zu zeigen, dass er nichts daran ändern konnte.
Nava hatte nichts anderes erwartet. Ihre beiden anderen Gespräche, eins mit den Briten und eins mit den Israelis, waren ähnlich verlaufen. Kein Geheimdienst war an den Rohdaten interessiert, wenn er nicht auch die Testperson bekam, von der sie stammten. Beide hatten ihr jedoch über zwei Millionen Dollar geboten, was den Wert der Informationen, die Nava zuvor für die RDEI beschafft hatte, bei weitem überstieg. Sie wusste, dass sie Verhandlungsspielraum hatte, denn Tverskys Dateien waren der RDEI mehr wert als ihr, Navas, Tod.
«Ich brauche noch eine weitere Million Dollar», sagte Nava.
«Das kommt nicht in Frage.»
«Dann haben wir nichts zu besprechen. Ihr Gebot ist zu niedrig.» Nava stand auf, so als wollte sie aussteigen. Der Speznaz-Agent hielt sie am Arm zurück. Sie drehte sich um, sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht und genoss ihre überlegene Position.
«Ich wusste nicht, dass hier eine Versteigerung stattfindet.»
«Trotz meiner gegenwärtigen Lage haben Sie doch wohl nicht geglaubt, dass ich eine so einmalige Ware nur Ihnen allein anbiete?»
«Wer sind denn die anderen Bieter?»
«Das tut nichts zur Sache.»
Chang-Sun nickte. «Wollen Sie vielleicht an Mütterchen Russland verkaufen?», fragte er. Das verblüffte Nava, aber sie ließ sich nichts anmerken. Dennoch wusste er, dass sie nun ganz Ohr war. «Ihre ehemaligen Genossen vom SVR fänden es bestimmt höchst interessant zu erfahren, dass Sie so voll und ganz dem Kapitalismus erlegen sind.»
Nava konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie fragte sich, wie die RDEI von ihrer wahren Identität erfahren hatte, von der ihr eigenes Land nichts wusste. Sie starrte auf Chang-Sun herab, als wäre er ein Insekt.
«Ich weiß nicht, worüber Sie reden, und es ändert auch nichts am Preis.»
«Wirklich nicht?» Chang-Sun strahlte sie an und entblößte dabei seine makellosen Jacketkronen, eindeutig ein Produkt westlicher Zahnmedizin. Nun hatte er sie da, wo er sie haben wollte, und das wusste er. Was auch immer die RDEI tun würde – selbst, sie zu töten –, war bedeutungslos verglichen damit, was passieren würde, wenn der SVR von ihrer Existenz erfuhr.
«Fünfhunderttausend. Falls Sie immer noch nicht interessiert sind – die RK ist es auf alle Fälle.»
Der Hals des Speznaz-Agenten lief rot an, als sie die Republik Korea erwähnte. Es war ein Bluff, denn Nava verfügte über keine zuverlässige Kontaktperson zur südkoreanischen Regierung. Dennoch zeigten ihre Worte die gewünschte Wirkung. Chang-Sun nickte hastig.
«Ich muss mir den höheren Preis von meinen Vorgesetzten noch genehmigen lassen, aber prinzipiell sind wir im Geschäft.»
«Ich melde mich bei Ihnen, sobald sich die Testperson in meiner Obhut befindet.»
«Wann wird das sein?»
«Binnen einer Woche.»
«Zwei Tage.»
«So schnell geht das n–»
Chang-Sun vergrub seine Finger in ihrem Arm und zog sie an sich. Mit leiser, drohender Stimme sagte er: «Wir richten uns nicht mehr nach Ihren Terminvorstellungen. In zwei Tagen werden Sie uns die Testperson Alpha liefern und dazu die restlichen Forschungsunterlagen des Wissenschaftlers. Sollten Sie nicht pünktlich liefern, werden zwei Dinge geschehen. Erstens werde ich meinen Vorgesetzten sagen, dass Sie diese wissenschaftlichen Dokumente gefälscht haben. Und zweitens werde ich persönlich Pavel Kuznetsov vom SVR anrufen und ihm erzählen, was Sie in den vergangenen zehn Jahren so gemacht haben. Sie haben bereits zwei Fristen verstreichen lassen. Tun Sie das kein drittes Mal.»
Chang-Sun ließ sie los, und der Zug kam ruckartig zum Stillstand. Die Wagentüren öffneten sich mit einem pneumatischen Zischen. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er aus und ließ sie mit dem Mann mit der verspiegelten Sonnenbrille allein. Als die U-Bahn aus der Station ausfuhr, fragte sich Nava, wie sie Dr. Tverskys Testperson Alpha entführen sollte, ohne dass die NSA davon Wind bekam. Sie ging in Gedanken unterschiedliche Szenarien durch, sah aber keine Möglichkeit, das durchzuziehen, ohne dabei jemanden zu töten.
Es war bedauerlich, aber wenn es nötig war, damit sie aussteigen konnte, würde sie es tun. Sie hatte keine andere Wahl.