Kapitel // 30 //

Der Hubschrauber rast hoch über den Baumwipfeln, auf dem kürzesten Weg nach Westen. Die fünf Männer schweigen, sie umgibt der ohrenbetäubende Lärm der Rotorblätter. Jeder bereitet sich mental auf den Kampf vor. Juan Esposito und Charlie Rainer sind auf Action aus. Ron McCoy hat Angst; er möchte nur heil wieder rauskommen. Jim Dalton ist blutrünstig. Und Martin Crowe … betet für seine Tochter.

Er ist anders als die anderen. Das macht ihn zwar zu einem besseren Menschen, aber zugleich auch gefährlicher als die anderen vier zusammen. Er lässt sich durch nichts von der Erfüllung seiner Mission abhalten; bloß hat seine Mission nichts mit David Caine zu tun. Caine ist nur ein Mittel zum Zweck. Seine einzige, wahre Mission ist seine Tochter.

Martin Crowe weiß, dass die Chance, sie zu retten, extrem gering ist. Aber er gibt nicht auf. Caine hat Respekt vor ihm. Jeder, der vor verschwindend geringen Chancen nicht klein beigibt, verdient es, bewundert zu werden – und gefürchtet. Sie sind gar nicht so unterschiedlich, Crowe und er. Beide sind bereit, ihr Leben für andere aufs Spiel zu setzen. Ein Jammer, dass ihre jeweiligen Missionen sie auf entgegengesetzte Seiten stellen. Caine weiß, dass sie in einer anderen Welt miteinander befreundet sind.

Caine konnte den Hubschrauber nun wirklich hören, nicht mehr nur im Geiste. Das Geräusch war leise, aber unverkennbar, wie das Schlagen gigantischer Schwingen. Allmählich wurde es lauter, bis die ganze Wohnung davon erfüllt war. In der Küche fing das Geschirr zu klirren an, eine kleine Porzellanfigur fiel vom Kaminsims und zerbrach auf dem Boden in 124 Stücke.

Jetzt würde es nicht mehr lange dauern.

 

«LOS!»

Die schwarz gekleideten Männer seilten sich ab und landeten hart auf dem Dach. Crowe sah rasch zu Dalton und McCoy hoch, die nach wie vor angeschnallt waren. Er wusste, dass Dalton stinksauer war, weil er mit McCoy die Sicherung übernehmen musste, aber das interessierte Crowe nicht. Wenn die Zielperson floh, brauchte er zu ihrer Verfolgung ein paar Mann in der Luft. Wobei es diesmal nicht danach aussah, dass sie floh; Grimes zufolge wartete Caine auf sie.

Das hatte Crowes Nervosität nur gesteigert, und darum hatte er beschlossen, Dalton im Hubschrauber zu lassen. Wenn die Zielperson tatsächlich auf ein großes Finale aus war, dann wollte Crowe die Situation im Griff haben und sich nicht um Dalton sorgen müssen. Dass Dalton gemeingefährlich war, wusste er seit langem, aber nach dem vorsätzlichen Kopfschuss auf Vaner hatte Crowe sich gezwungen gesehen, ihn als Psychopathen einzustufen. So etwas durfte auf keinen Fall noch einmal vorkommen.

Crowe löste das Seil von seinem Gürtel und gab dem Piloten das Daumen-hoch-Zeichen. Der Hubschrauber stieg auf, zog die Seile hinter sich her. Crowe sah, dass Esposito bereits die Tür zum Treppenhaus eingetreten hatte. Crowe joggte zu ihm.

Er nickte Esposito anerkennend zu, dann sprach er in sein Mikro: «Grimes, Zielperson noch an bezeichneter Stelle?»

«Jau. Hat sich in den letzten fünf Minuten kein Stück gerührt.»

«Gut, lassen Sie mich wissen, wenn er die Position verändert oder erkennen lässt, dass er bewaffnet ist. Ansonsten Funkstille beibehalten.»

«Roger!»

Crowe wandte sich an seine Männer. «Rainer, Sie gehen die Feuerleiter runter. An der Nordseite des Gebäudes, zwei Stockwerke weit. Unmittelbar über dem Fenster stehen bleiben. Eindringen auf mein Zeichen.»

«Alles klar.»

«Los», sagte Crowe. Rainer trottete über das Dach und verschwand über der Kante. Crowe sah zu Esposito. «Sie kommen mit mir mit. Nicht angreifen, nur im allerhöchsten Notfall.»

«Verstanden.»

Crowe trat durch die Tür und rannte die Treppe hinunter.

 

Caine öffnete die Augen.

Er bildete sich ein, ihre Landung auf dem Dach gehört zu haben, wusste jedoch, dass die Geräusche lediglich in seinem Kopf waren. Aber als die Männer die Nottreppe hinunterdonnerten, gab es kein Vertun mehr. Fünf Sekunden später flog krachend die Wohnungstür auf. Crowe kam als Erster hindurch, gefolgt von einem weiteren Mann. Hinter sich hörte Caine Glas splittern, als ein dritter durchs Fenster brach.

Caine warf leicht überrascht einen Blick auf die Uhr. Sie waren eine Sekunde früher als erwartet. Der Rückenwind musste zugenommen haben.

Von hinten senkten sich zwei schwere Hände auf seine Schultern, aber Caine zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen starrte er nur Martin Crowe in die Augen. Er wollte, dass der Mann wusste, dass Caine kein Monster war, was immer sie ihm erzählt haben mochten. Das Letzte, was er sah, war die Mündung von Crowes Waffe, als der Söldner abdrückte.

Bevor Caine das Bewusstsein verlor, tat er das Einzige, was ihm noch zu tun blieb: Er wünschte sich viel Glück.

 

«Zielperson gesichert», flüsterte Crowe erleichtert in sein Mikro. «Wir sind in zwei Minuten wieder auf dem Dach. Abholung einleiten.»

«Das war ja ein Kinderspiel», sagte Esposito hinter ihm und schlug ihm auf die Schulter. «Sie haben ihn betäubt, bevor ich auch nur drin war.»

«Ja», sagte Crowe leise. Hier stimmte etwas nicht. Nach dem, was auf dem Bahnhof passiert war und in der Wohnung in Brooklyn, ergab das hier keinen Sinn. Die Zielperson hatte sich bei beiden Gelegenheiten als unerhört clever gezeigt. Doch statt ihnen einen Kampf zu liefern, hatte Caine einfach nur dagesessen und gewartet. An dem einzigen Ort, von dem er genau wusste, dass sie ihn überwachten.

«Soll ich ihn nehmen?», fragte Esposito.

Crowe nickte, und der Mann hob die Zielperson hoch und warf sie sich über die Schulter. Dabei fiel ein weißer Umschlag von Caines Schoß auf den Boden. Crowe wollte gerade gehen, da erregten die ersten Worte auf dem Stück Papier seine Aufmerksamkeit.

Sein Herz bekann zu klopfen, als er sich bückte und den Umschlag aufhob. Nachdem er die Nachricht gelesen hatte, überlief es ihn eiskalt.

«Was ist das?», fragte Rainer mit einem Blick nach hinten.

«Nichts», sagte Crowe, zerknüllte das Papier und warf es auf den Boden. «Gehen wir.» Als sie die Stufen zum wartenden Hubschrauber hochstiegen, fragte sich Crowe, was hier eigentlich lief – und was als Nächstes passieren würde.

 

Die Fahrt verlief schweigend. Als sie endlich ankamen, machte der große Russe den Motor aus und stieg ohne ein Wort aus dem Transporter. Nava folgte ihm in eine dunkle, verrauchte Kneipe. Ein paar Gäste waren Amerikaner, die meisten jedoch Russen. Nava hätte es auch gemerkt, wenn sie sich nicht in ihrer Landessprache unterhalten hätten.

«Hier entlang», sagte Kozlov und zeigte zu einer Holztür am Ende des Tresens. Sobald sie hindurch waren, nahm der Lärm ab, wenngleich Nava die Musik durch die dünnen Wände noch hören konnte. Sie gingen eine feuchtkalte Treppe hinunter und in einen abgelegenen Kellerraum. An mehreren Pokertischen vorbei geleitete Kozlov sie in ein kleines Büro.

Ein blasser, magerer Mann erhob sich zur Begrüßung. Er versuchte nicht einmal, seinen Blick auf ihren Körper dezent ausfallen zu lassen. «Hallo, Miss Vaner. Ich bin Vitaly Nikolaev», sagte er mit einem breiten Lächeln. «Mr. Caine hat mir gar nicht erzählt, wie attraktiv Sie sind.»

«Ist das der Grund, warum Sie mich treffen wollten?», fragte Nava.

«Na schön, erst das Geschäftliche.» Nikolaev reichte Nava einen Umschlag. Die Worte Vertrauen fängt hier an waren über die zugeklebte Lasche geschrieben. Sie riss den Umschlag auf und nahm den Brief heraus. Sie las ihn zweimal durch, dann legte sie ihn hin. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das hier war es nicht. Caines Plan leuchtete ein, aber er brachte wenig Erfreuliches mit sich. Genau in diesem Moment klingelte, wie Caine angekündigt hatte, das Telefon.

«Das ist für mich», sagte Nava und nahm den Hörer von Nikolaevs Telefon ab. Er hob die Brauen, versuchte aber nicht, sie daran zu hindern.

«Ja, hallo, ist dort, ähm, Nava?»

«Ja», sagte sie.

«Ähm, ich weiß nicht, was das alles soll, aber …»

«David Caine hat Ihnen gesagt, dass Sie mich anrufen sollen.»

«Ja.» Die Stimme klang erleichtert. «Woher wissen Sie das?»

 

«James, ich glaube, das sollten Sie sich besser ansehen.»

«Was denn?»

«Jasper Caine», sagte Tversky. «Vor ein paar Minuten hat er hysterisch zu schreien angefangen.»

«Mir war nicht bewusst, dass das für jemanden mit diagnostizierter paranoider Schizophrenie ein abweichendes Verhalten darstellt.»

«Tut es auch nicht. Aber sein EEG.»

Das ließ Forsythe aufhorchen. Er drückte ein paar Tasten, und das EEG des Zwillings erschien auf seinem Terminal. So etwas hatte er noch nie gesehen. Forsythe nahm die Lesebrille ab und sah Tversky an. «Ruft er irgendetwas Bestimmtes?»

«Er brüllt die ganze Zeit immer wieder: ‹Sie kommt. Sie kommt uns holen›.»

 

«Das war nicht Bestandteil des Auftrags.»

«Ich bezahle Ihnen einen Haufen Geld, Mr. Crowe. Da erwarte ich –»

«Sie haben mich beauftragt, Ihnen David Caine zu liefern. Das habe ich getan. Zusätzlich habe ich Ihnen auch seinen Bruder besorgt. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt.»

«Das haben Sie, wenn ich es sage», erwiderte Forsythe kalt.

Crowe ballte die Fäuste. Nur so konnte er sich davon abhalten, dem Mann eins auf die Nase zu geben. Allein der Gedanke an Betsy hielt ihn zurück.

«Dr. Forsythe», sagte Crowe, um einen ruhigen Ton bemüht, «ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Ich will nur mein Geld, dann bin ich weg.»

«Wie wäre es damit: Ich verdopple die Auftragssumme, wenn Ihr Team auch noch die Bewachung übernimmt», sagte Forsythe. «Nur für eine Woche, bis ich etwas anderes arrangieren kann.»

Crowe klappte den Mund zu. 215 000 Dollar extra. Da konnte er nicht Nein sagen. «Einverstanden. Aber die Befragung nehme ich nicht vor.»

Forsythe runzelte die Stirn. «Vielleicht einer Ihrer Männer? Mr. Grimes hat mich mit ihren Akten versorgt.» Forsythe drückte ein paar Tasten an seinem Computer, und mit einem Knacken sprang der Bildschirm an. «Hier steht, dass Mr. Dalton auf diesem Gebiet über einige Erfahrung verfügt.»

«Wenn Sie Mr. Caines Wohlergehen im Auge haben, würde ich Ihnen von Dalton abraten.»

«Aber Sie hätten auch nichts dagegen, wenn ich ihn einmal frage, oder?» Dagegen konnte Crowe nichts einwenden, und Forsythe wusste das.

«Nein.»

«Gut, dann schicken Sie ihn doch bitte zu mir. In der Zwischenzeit koordinieren Sie bitte mit Grimes die Sicherheitsmaßnahmen.» Forsythe entließ ihn mit einer Handbewegung.

Als Crowe den Flur hinabging, fragte er sich, ob Forsythe wusste, auf was er sich da einließ.

 

Eine Stunde später kam Kozlov mit den Kampfmitteln zurück, um die Nava gebeten hatte. Als sie hinten in den Transporter stieg, ging sie im Kopf noch einmal den Plan durch. Dank Caine waren ihre Informationen nahezu lückenlos. Pläne, Personalakten, Zugangscodes, Sicherheitsprofile – sie verfügte über alles.

Es gab nur ein Problem: Das war ein Job für mindestens vier Agenten. Aber sie war allein – und dazu noch verletzt, obwohl Dr. Lukin, Nikolaevs «persönlicher Arzt», sein Bestes getan hatte, um sie wieder auf Vordermann zu bringen. Ihr war klar, dass der Kater es in sich haben würde, aber vorläufig hatte sie das Gefühl, es mit der ganzen Welt aufnehmen und danach noch einen olympischen Zehnkampf gewinnen zu können.

Mal abgesehen davon, dass sie beim Dopingtest durchgefallen wäre.

 

Das Wasser trieb Caine in den Wahnsinn. Wieder landete ein Tropfen mitten auf seiner Stirn. Wenn sie in regelmäßigen Abständen gefallen wären, hätten sie ihm wahrscheinlich gar nicht so zugesetzt, aber ihre Zufälligkeit zerrüttete ihn.

Die Kopfhörer ebenfalls. Der im linken Ohr hörte sich an wie ein Radio, das auf «Suchlauf» gestellt war. Er spielte fünf Sekunden lang ein Lied, gefolgt von ein paar Sekunden atmosphärischer Störungen, gefolgt von dem nächsten Musikschnipsel und immer so weiter. Der Knopf in seinem rechten Ohr spielte «Chopsticks» auf Wiederholung, was ohnehin schon eine Folter dargestellt hätte, aber noch dadurch verschlimmert wurde, dass die Lautstärke schwankte, und zwar zwischen ohrenbetäubend laut bis nahezu unhörbar.

Und dann waren da noch die Drehungen. Zuerst hatte Caine angenommen, dass es sich nur um seine eigene Desorientiertheit handelte, aber als er mühsam die Augen öffnete, sah er, dass sein Stuhl tatsächlich langsam rotierte. Nach einigen Selbstversuchen kam Caine zu dem Schluss, dass seine Übelkeit und Benommenheit leicht nachließen, wenn er die Augen schloss; also behielt er sie zu.

Alle paar Sekunden bekam er einen Stromstoß versetzt. Meist nur in einen Finger oder eine Brustwarze, aber manchmal auch … weiter unten. Die meisten waren nur einfache Stöße, aber manche taten auch richtig weh. Caines Herz raste. Seine Muskeln verweigerten in der Erwartung des nächsten Elektroschocks jede Entspannung.

Er versuchte, ins Immer zu wechseln, aber es gelang ihm nicht. Er war zu abgelenkt. Er hatte das Gefühl, als würde seinem Gehirn die geistige Gesundheit mit einem Schlauch abgesaugt. Unvermittelt blieb der Stuhl stehen. Sein Magen jedoch drehte sich weiter. Jemand zog ihm am linken Auge das Lid hoch und leuchtete mit einer starken Taschenlampe hinein. Dann in das rechte Auge. Caine versuchte, nach der Hand zu greifen, aber da seine Hände festgeschnallt waren, war er hilflos. Er verspürte ein heftiges Stechen, als eine Nadel in seine Haut geschoben wurde, dann hörte er ein Reißen. Klebeband wurde ihm um den Arm gewickelt, um die Infusionskanüle zu fixieren.

Sekunden vergingen. Wieder zog ihm etwas kneifend die Augenlider hoch. Diesmal ließ es sie nicht wieder los; er versuchte zu blinzeln, aber es tat höllisch weh. Es gelang ihm nicht mehr.

Eine klare Flüssigkeit tropfte ihm in die Augen. Sie tropfte alle paar Sekunden nach. Caine brauchte nicht mehr zu blinzeln, um seine Augen feucht zu halten, aber er konnte seinen natürlichen Reflex nicht einfach abstellen. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er sich umgewöhnen konnte.

Er war müde, zerschlagen, halb verrückt vor Angst. Aber trotz dieser Empfindungen verspürte er Entschlossenheit. Mit einem Mal bekam er einen Stromstoß in den Hodensack, der alles Vorhergehende in den Schatten stellte. Zwischen den Tropfen der Salzlösung versuchte er, die Augen scharf zu stellen. Ein Mann stand vor ihm, groß und bedrohlich. Wieder ein Stromstoß, diesmal in den großen Zeh. Als der Schmerz nachließ, versuchte er erneut, scharf zu sehen.

Der Mann kam ihm bekannt vor; Caine versuchte herauszufinden, woher, aber das Wasser lenkte ihn ab. Und die Musik. Caine würde nie wieder einen Walkman aufsetzen, wenn er das hier überlebte. Wie auf Kommando setzte die Musik aus. Einen Moment lang herrschte wohltuende Stille. Sie wurde von einer kalten, rauen Stimme durchbrochen.

«Können Sie mich hören?»

«Ja», keuchte Caine.

«Wissen Sie, welches Datum wir heute haben?»

«Den, ähm …» Caine versuchte, sich zu erinnern. Seine Übelkeit nahm zu. «Ich glaube, den … AAAAHH!» Nicht zu fassen, wie schmerzhaft ein Stromstoß in den linken kleinen Finger sein konnte. «Den … äh, Februar, wir haben Februar …»

«Fast», sagte der Mann höhnisch. «Na schön. Ich werde mit der Folter gleich aufhören. Aber erst hören Sie mir einmal genau zu, okay?»

«Okay», antwortete Caine schwach. Alles. Er würde alles für diesen Mann tun, wenn er damit aufhörte, und wenn es nur für eine Minute war. Oder eine Sekunde.

«Wir überfluten Sie mit Reizen, weil wir nicht wollen, dass Sie uns abhauen. Leider erschwert das auch die Kommunikation. Und uns liegt sehr viel daran, mit Ihnen zu sprechen. Aber dass wir uns verstehen: Wenn Sie versuchen zu fliehen, wird Ihr Bruder die Konsequenzen tragen müssen. Das wollen Sie doch nicht, oder?»

Caine war kurz davor, sich zu übergeben. Er wollte die Augen schließen und das alles verschwinden lassen, aber es ging nicht. Seine Lider kämpften vergeblich gegen die Zangen an, was schrecklich brannte.

«Mr. Caine.» Der Mann versetzte ihm eine leichte Ohrfeige. «Ich weiß, dass es schwer ist, aber bleiben Sie bei mir. Solange Sie sich kooperativ verhalten, wird Jasper nichts geschehen. Einverstanden?»

Caine begriff mit Verzögerung, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde. «Okay», krächzte er.

«Gut.» Der Mann wandte sich ab, verschwand aus Caines Blickfeld. Es folgten keine Elektroschocks mehr. Caine versuchte, sich zu entspannen, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht – jede Sehne war gespannt. Sein Herz hämmerte in den Ohren, pumpte in der Erwartung weiterer Qualen unaufhörlich Blut in seine Muskeln.

Caine holte tief Luft, hielt sie eine Sekunde lang an und atmete dann ruhig aus. Allmählich ordnete sich alles. Sein Puls verlangsamte sich, und es gelang ihm, seinen Unterkiefer zu lockern. Schon besser. Er wollte den Kopf drehen, aber er wurde von starken Metallbändern fixiert. Der Mann musste das leichte Rucken von Davids Kopf gesehen haben; er trat zurück, sodass Caine ihn sehen konnte. Jetzt wusste Caine, woher er ihn kannte. Aus dem Immer.

Sein Name lautete Jim Dalton.

«Sie haben eine ziemlich interessante Woche hinter sich, nicht wahr, Mr. Caine?»

Caine antwortete nicht.

«Wissen Sie, warum Sie hier sind?»

«Nein», sagte er entschieden.

Plötzlich wurde sein Körper von einem Schmerz überwältigt, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte. Er fuhr ihm sengend durch jedes Körperteil. Der Schmerz war lebendig, er tobte und brüllte. Auch Caine brüllte.

Und dann war der Schmerz ebenso schnell, wie er gekommen war, wieder fort. Caine schloss schnappend den Mund, biss sich dabei auf die Zunge, schmeckte Blut. Er war so müde. Er wollte doch nur die Augen schließen. Eine Minute später kam er wieder zu Atem und löste langsam die Kiefer voneinander.

«Mr. Caine, Sie sind sich sicher bewusst, dass wir Ihren Körper mit Elektroden versehen haben. Einige teilen ziemlich unangenehme Stromstöße aus; andere übermitteln Ihre Herzfrequenz und wieder andere bioelektrische Signale. Sie sagen uns, ob Sie lügen. Lügen Sie uns ruhig weiter an, wir werden es wissen. Nur wird der nächste Stromstoß dann nicht mehr so schwach ausfallen.

Die meisten Leute denken, dass sie Folter ertragen könnten, wenn es sein muss. Sie denken: Ich bin ein zäher Brocken, ich halte das aus. Aber meiner Erfahrung nach, und glauben Sie mir, dass ich auf diesem Gebiet einiges an Erfahrung habe, irren sich diese Leute.» Daltons Stimme troff vor Bösartigkeit.

«Üblicherweise halten sie es eine Minute lang aus, vielleicht auch mal zwei, und an dem Punkt würden sie bereitwillig ihre eigene Mutter umbringen, Hauptsache, die Schmerzen hören auf. Nur ist bis dahin schon eine dauerhafte Schädigung eingetreten oder die Verletzung so schwerwiegend, dass eine massive Verabreichung von Schmerzmitteln notwendig ist, um die Befragung fortzusetzen, was das Ganze nur in die Länge zieht.

Also tun Sie uns beiden doch einen Gefallen: Machen Sie keinen auf hart. Wenn ich Ihnen eine Frage stelle, antworten Sie bitte schnell und ehrlich. Wenn Sie etwas zurückhalten, werde ich es wissen. Und wenn ich weiß, dass Sie etwas verheimlichen, werden Sie es bereuen. Haben wir uns verstanden?»

«Absolut», krächzte Caine. Die Schreie hatten seine Stimme rau werden lassen. Er fragte sich, wie sie wohl in ein paar Stunden klingen würde.

«Sehr schön. Dann wollen wir es doch gleich noch einmal versuchen. Wissen Sie, warum Sie hier sind?»

«Weil Sie glauben, dass … dass ich … der Laplace’sche Dämon bin.»

Der Mann nickte. «Glauben Sie denn, dass Sie der Laplace’sche Dämon sind?»

«Ich …» Caine zögerte. «Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher», antwortete er und spannte in der Erwartung eines weiteren Stromstoßes die Muskeln an. Es kam keiner.

«Wenn Sie sich nicht sicher sind, dann schätzen Sie.»

«Ja», antwortete Caine rasch.

«Gut. Dann war das hier ja nicht völlig umsonst.»

«Was wollen Sie von mir?»

Dalton beantwortete die Frage nicht. Er sagte nur: «Der Doktor kommt gleich und bespricht alles mit Ihnen.» Damit ging er. Als er wieder etwas sagte, befand er sich außerhalb von Caines Blickfeld. Es war entnervend, den Mann zu hören, ohne sein Gesicht sehen zu können. «Ach, übrigens», sagte er, «es ist reine Zeitverschwendung, wenn Sie versuchen, Ihre … Gabe einzusetzen. Sie funktioniert mit offenen Augen nicht.»

Caine begriff plötzlich, dass Dalton Recht hatte; mit weit geöffneten Augen war er so hilflos wie ein Baby. Einige Sekunden später hörte Caine das Klicken, mit dem die Tür sich schloss. Er lauschte angestrengt, versuchte herauszufinden, ob Dalton immer noch da war, aber es war völlig still. Caine war allein.

Er atmete laut aus, und sein Denken setzte wieder ein. Er hätte gern nach einer Lösung gesucht, aber er wusste, dass er nichts mehr tun konnte. Die Zeit zum Planen war vorbei. Er hatte seine Entführung in dem Wissen forciert, dass er die Kontrolle nur zurückgewann, indem er sie aufgab. Aber er hatte nicht gewusst, dass es so hart sein würde – so grauenvoll.

Vorhin in der Wohnung, als er im Immer gewesen war, hatte er sämtliche Ausprägungen der Zukunft gesehen. Nun jedoch, wo ihm dieser Blick verwehrt war, konnte Caine nicht sehen, welchen Pfad, welche mögliche Zukunft er eingeschlagen hatte. Da war nur so ein Gefühl, mehr eine Ahnung als tatsächliches Wissen, aber immerhin. Eines war klar: Nava war der Dreh- und Angelpunkt. Mit ihr waren die Möglichkeiten unendlich.

Ohne sie jedoch … war Caine verloren.

 

Caine hörte, wie die Tür aufging und jemand den Raum betrat. Der Klang der Schritte verriet, dass es sich nicht um Dalton handelte, denn der trat schwerer auf. Die Person näherte sich ihm, blieb stehen, ging wieder zurück und blieb erneut stehen, als überlegte sie, wie sie am sichersten an ihn herankam.

Dann hörte er ein leises Atmen hinter sich, dazu ein leises, aber helles Klappern. Eine Spritze? Vielleicht ein Skalpell. Caines Herz raste. Endlich setzte der Mann seinen Weg durchs Zimmer fort. Es war Doc.

«Hallo, David», sagte Doc.

Caine blieb still.

«Es tut mir Leid, dass es so kommen musste, aber ich hatte keine andere Wahl.»

«Man hat immer eine Wahl», erwiderte Caine.

«Nein», sagte Doc und schüttelte den Kopf. «Ich hatte noch eine Testperson wie Sie. Sie hat mir gesagt, was geschehen würde, welchen Pfad ich einschlagen sollte. Sie hat mir gesagt, was zu tun war, um Ihre Fähigkeiten voll herauszukitzeln. Und sie hatte Recht.»

«Darum haben Sie die Bombe gelegt? Weil es Ihnen die Testperson gesagt hat?»

«Ja.»

«Aber nachdem das fehlgeschlagen war, warum haben Sie mich nicht getötet? Sie hätten mich in Philly überfahren können.»

«Verstehen Sie denn nicht?», sagte Doc flehentlich. «Ich hatte nie vor, Sie umzubringen. Ich wollte nur, dass Ihnen bewusst wird, über welche Fähigkeiten Sie verfügen. Es brauchte unbedingt eine lebensgefährliche Situation, damit Sie den letzten Schritt tun. Und die habe ich Ihnen geliefert.»

«Aber warum? Warum tun Sie so etwas?», fragte Caine.

«Aus wissenschaftlichen Gründen», sagte Doc. «Ist Ihnen eigentlich klar, was für wertvolle Erkenntnisse ich – wir mit Ihrer Gabe erlangen können?» Doc trat einen Schritt näher. «David, uns beiden, Ihnen und mir, steht eine unfassbare Möglichkeit offen, Geschichte zu machen.» In seinen Augen loderte ein helles Feuer. Doc schaute Caine zwar an, aber er sah nur sich selbst. «Wir können die gesamte Zukunft der Menschheit verändern.»

«Ohne mich», sagte David.

«Es würde uns beiden einiges erleichtern, wenn Sie einfach nur –»

«Nein.»

«Lassen Sie uns doch einfach nur ein paar Tests durchführen. Ein paar Tests schaden doch nicht.» Doc bettelte förmlich.

«Das ist das Problem. Ich habe keine Ahnung, wem Ihre Tests schaden werden.» Caine holte tief Luft und hoffte, dass er mutiger klang, als er sich fühlte. «Ich mache nicht mit.»

Doc schüttelte den Kopf. «Genau aus diesem Grund konnte ich nicht in einer weniger kontrollierten Umgebung an Sie herantreten. Aber ob es Ihnen gefällt oder nicht, David, Sie werden kooperieren.»

Er zog eine Fernbedienung aus der Tasche und zielte mit ihr auf einen kleinen Bildschirm, der unter der Zimmerdecke befestigt war. Caine richtete mit Mühe den Blick dorthin. Auf dem Monitor war ein erschöpft wirkender Mann zu sehen, der an einen Behandlungsstuhl gefesselt war, eine Infusionskanüle im Arm. Jasper. Er schien um zehn Jahre gealtert, seit Caine ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Doc wandte sich wieder an Caine. «Ich möchte Ihrem Bruder nicht wehtun. Aber wenn nötig, werde ich es tun. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.»

«Und was wird geschehen, wenn ich kooperiere?

«Sie werden der Aussicht, hier herauszukommen, ein Stück näher sein.» Docs Augen verrieten ihn. Er log. Caine musste auf Zeit spielen.

«Ich muss einmal in Ruhe darüber nachdenken.»

«Nein», sagte Doc nachdrücklich. «Sie entscheiden sich jetzt sofort. Wie lautet Ihre Antwort?»

Caine wusste, dass es gut möglich war – sehr gut möglich war –, dass er hier nie wieder herauskam. Und obwohl er davon ausging, dass Docs Tests harmlos waren, fürchtete er, ein vorschnelles Ja würde vielleicht dazu führen, dass er nie wieder Nein sagen konnte.

«Ich bin erschöpft», sagte Caine. «Geben Sie mir nur etwas Zeit zum Ausruhen.»

Doc schüttelte den Kopf. Er ging zu einem Wandtelefon und wählte. «Hallo, Mr. Dalton?» Caine spürte, wie seine Muskeln sich bei der Nennung des Namens verhärteten. Doc warf ihm einen Blick zu. «Bitte kümmern Sie sich um Jasper Caine. Stufe zwei, sechzig Sekunden.» Doc hängte ein, einen Ausdruck von Bedauern auf seinem Gesicht. «Es tut mir wirklich sehr Leid.»

Caine sah zum Bildschirm. Ein paar Sekunden lang geschah überhaupt nichts. Jasper schien zu schlafen; er lag so bequem da, wie es ging, wenn Arme, Beine und Kopf mit Ledergurten fixiert waren. Dann betrat Dalton den Raum, steckte Jasper etwas in den Mund und verschwand aus dem Kamerabereich. Ein Schauer überlief Caine, und Jasper begann sich aufzubäumen. Seine Hände machten Greifbewegungen, während der elektrische Strom durch seinen Körper raste. Es gab keinen Ton zu den Bildern, aber das machte das Ganze nur noch schrecklicher.

«Hören Sie auf! Aufhören!», brüllte Caine.

Doc warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah dann wieder Caine an. «Nur noch fünfzig Sekunden, David. Es ist fast geschafft.»

Caine konnte die Lider nicht schließen, um sich diesem entsetzlichen Bild zu entziehen. Er versuchte, den Blick von Jaspers zuckenden Beinen abzuwenden, aber seine Pupillen richteten sich immer wieder auf den Bildschirm. Endlich war es vorbei. Jasper hörte auf zu krampfen. Er lag still da und weinte, Tränen strömten seine Wangen hinab. Dann sah Caine die endgültige Demütigung: Ein dunkler Fleck breitete sich zwischen den Beinen seines Bruders aus.

Doc trat wieder vor Caine. Es kostete Caine jedes Quäntchen Selbstbeherrschung, ihm nicht ins Gesicht zu spucken. Caine fragte sich erneut, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen. Aber es war zu spät dafür, sie noch einmal zu überdenken. Diesmal wurden die Karten nicht neu gegeben.

«Na gut», sagte Caine mit verzweifelter Stimme. «Ich mache Ihre Tests. Aber nicht, wenn Sie dabei sind», fügte er hinzu, als ihm wieder einfiel, wie es vonstatten gehen musste. «Ich will ausschließlich mit Forsythe zu tun haben.»

Doc machte ein finsteres Gesicht. Er wollte gerade etwas sagen, da knackte die Gegensprechanlage bei der Tür, und eine Stimme sagte: «Paul, wir sollten uns kurz unterhalten.»