Caine war kurz davor, Nava zu fragen, wo sie von der Penn Station aus hinfahren sollten, aber dann erinnerte er sich, dass alles nur ein Traum war. Für einen Moment hätte er es beinahe vergessen und in dieser Wahnvorstellung mitgewirkt, als wäre es die Realität. Spielte es wirklich eine Rolle, wohin sein Traum-Ich fuhr? Er glaubte es nicht, aber eine leise Stimme in seinem Kopf war da anderer Meinung. Bloß, wo sollten sie hin? Sobald er sich die Frage gestellt hatte, kam ihm die Antwort in den Sinn. Es lag auf der Hand. Erneut leiteten ihn die Worte seines Bruders.
Such dir einen Halt, Orte oder Menschen, bei denen du in Sicherheit bist.
Er musste zu Jasper nach Philly. Wenn es ihm gelang, diese Wahnvorstellung zu dem einzigen Menschen zu führen, der ihm helfen konnte, würde er vielleicht einen Ausweg finden. Überzeugt, dass dies der beste Weg sei, ließ sich Caine auf den Vinylsitz sinken und schaute zu, wie die Stadt an seinem Fenster vorbeizog. Der Radiomoderator verkündete, dass es 9.47 Uhr morgens war, und dann sang Jim Morrison «People Are Strange». Als der Song endete, begann Nava, Caine Anweisungen zu geben.
«Wenn wir in den Bahnhof kommen, halten Sie den Blick gesenkt. An der Decke sind überall Kameras. Wenn wir stehen bleiben, tun Sie einfach so, als würden Sie das hier lesen.» Sie drückte ihm eine durchnässte Zeitung vom Boden des Taxis in die Hände. «Verstanden?»
Caine nickte.
«Sie gehen vor. Ich werde gleich hinter Ihnen sein», sagte sie. «Wenn es Probleme gibt, hauen Sie ab. Warten Sie nicht auf mich. Ich komme alleine klar. Es ist nur wichtig, dass Sie verschwinden.»
Nava steckte Caine ein Handy in die Tasche. «Falls wir getrennt werden, fügen Sie eine Eins zur letzten Ziffer der ersten Nummer in der Kurzwahl hinzu. Wenn sich jemand anderes als ich meldet, können Sie davon ausgehen, dass ich tot bin. Legen Sie auf und hauen Sie ab. Klar?»
«Glasklar.»
Nachdem sie das Taxi an der Ecke 34th Street 8th Avenue verlassen hatten, fuhren sie schweigend die Rolltreppe hinab. Im Untergrund humpelte Caine zu den Amtrak-Zügen. Er war diesen Weg Hunderte Male gegangen und erkannte die Geschäfte, an denen er vorbeiging, wieder, obwohl er den Blick auf den Boden heftete. Die ganze Zeit über konnte er Nava hinter sich spüren.
Er blieb vor der riesigen Anzeigetafel im Zentrum des Bahnhofs stehen und widerstand dem natürlichen Impuls hinaufzuschauen.
Er spürte Navas Atem im Nacken. Sie murmelte laut: «Der nächste Zug fährt in acht Minuten nach Washington, den nehmen wir.»
Ausgezeichnet. Philly lag auf dem Weg nach D. C. Wenn sie erst einmal im Zug waren, würde Caine Nava bestimmt dazu bringen können, in Philadelphia auszusteigen. Wenn nicht, würde er sie abschütteln – vorausgesetzt, es war möglich, eine Wahnvorstellung abzuschütteln. Ein paar Minuten später verkündete die Lautsprecherstimme, dass der Zug Nummer 183, um 10.07 Uhr nach Washington, jetzt auf Gleis zwölf einfuhr.
Nava packte Caines Ellbogen, drehte ihn in Richtung der dahinströmenden Menge und schubste ihn vorwärts. Wie ein Korken in den Niagarafällen wurde Caine hinab zum Bahnsteig getrieben.
Agent Sean Murphy bekam immer die beschissenen Einsätze aufgehalst. Manchmal hatte er das Gefühl, auf seiner Stirn klebte ein Zettel, auf dem Bitte setzt mich bei unwichtigen Überwachungen ein stand. Er konnte nicht glauben, dass er den ganzen Scheißtag am Gleis zwölf stehen musste, um nach jemandem Ausschau zu halten, der wahrscheinlich schon längst in Mexiko war. Er sah wieder hinab auf das Blatt, auf dem in fünf Reihen je acht Computerbilder zu sehen waren. Zwanzig zeigten David Caine, die anderen zwanzig Nava Vaner. Beide waren in allen möglichen Verkleidungen dargestellt.
Caine mit Vollbart ohne Schnauzer. Caine mit Schnauzer ohne Vollbart. Vaner mit Sonnenbrille. Caine mit Sonnenbrille. Vaner mit kurzem Haar. Caine glatzköpfig. Es war so idiotisch. Die wichtigsten Informationen waren Größe und Gewicht. Die Größe ließ sich nicht ändern, und ein anderes Gewicht war schwer vorzutäuschen. Dennoch konzentrierten sich die meisten Verdächtigen darauf, ihr Gesicht zu verändern, was zwecklos war. Ihre Augen verrieten sie unweigerlich.
Menschen auf der Flucht hatten einen Blick, der Murphy an das Kaninchen erinnerte, das er als kleiner Junge gehabt hatte. Jedes Mal, wenn Bugs Käfig sauber gemacht werden musste, kauerte sich das jämmerliche Tier in die Ecke und guckte so panisch hin und her, dass Murphy hätte kotzen können. Er hasste das dämliche Kaninchen. Seine Mutter wollte, dass er sich um das Tier kümmerte, damit er lernte, Verantwortung zu übernehmen, doch das Einzige, was er wirklich dabei gelernt hatte, war, dass er Kaninchen hasste.
Murphy beobachtete den Strom der Passanten und musterte ihre Gesichter. Seit sieben Uhr hatte er unzählige Reisende gesehen. Da es immer noch Morgen war, hatten fünfzig Prozent von ihnen den glasigen Blick von Leuten, die lieber noch schlafen würden. Weitere vierzig Prozent guckten schlichtweg verärgert; New Yorker waren der Meinung, ihnen gehörte die Welt und sie wären von Idioten umgeben. Nur zehn Prozent machten den Eindruck, als freuten sie sich auf ihre bevorstehende Reise. In jedem anderen Ort des Landes wären diese zehn Prozent sechzig Prozent gewesen. Doch das war New York: Stadt der Freisinnigen, Heimat der Genervten.
Weitere Augen strömten vorbei. Gelangweilt, müde, geschlossen, genervt, genervt, gelangweilt, genervt, halb geschlossen, erschöpft, blutunterlaufen … Der Strom brach nicht ab. Hin und wieder schaute er hinab auf sein Blatt und dann wieder hoch in die See genervter Menschen.
«Bei dir was los, Murph?» Sein Ohrhörer knisterte und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.
Er neigte den Kopf und sprach in das Mikrophon an seinem Revers, eine Handlung, die er nicht einmal versuchte zu verbergen. In der Anfangszeit, als er mit jedem Einsatz für Wahrheit, Gerechtigkeit und den American Way of Life zu kämpfen schien, hatte er immer strikt nach Vorschrift gehandelt. Doch nach siebzehn Jahren Überwachungen in Busterminals, Bahnhöfen, Flughäfen, öffentlichen Toiletten (die waren wirklich zum Kotzen), Parks und Hotels war der Reiz des Neuen verloren gegangen – und genauso die feineren Aspekte der Ausbildung.
«Nix. Bei dir?», fragte Murphy.
«Nada.»
Murphy öffnete den Mund zu einem breiten, stummen Gähnen. Augen, Augen, Augen. Mein Gott, es war eine verfluchte Zeitverschwendung. Niemals würde David Caine hier auftauchen. Er schaute auf seine Uhr. Noch eine Stunde, dann konnte er eine Pause machen. Er tastete sehnsüchtig nach der Zigarettenschachtel in seiner Tasche und träumte vom ersten Zug, während er die vorbeiziehenden Augen beobachtete.
Nava erkannte ihn sofort. Entgegen allen Regeln gab er sich keine Mühe, unauffällig zu wirken. Er war groß und breit, wahrscheinlich einen Meter neunzig und 110 Kilo schwer, und hatte einen stahlgrauen Bürstenschnitt. Im erbärmlichen Versuch, sein Schulterholster zu verbergen, trug er einen blauen Blazer.
Er hielt sogar ein Blatt Papier in der Hand, auf dem zweifellos Phantombilder von Caine waren. Der Agent hatte sie noch nicht gesichtet, da er die Reisenden nur musterte, wenn sie den Bahnsteig erreicht hatten. Ein weiterer Fehler. Nur zwölf Leute trennten sie von dem Agenten. Nava verfluchte sich, dass sie Caines Vorschlag gefolgt war, den Zug zu nehmen. Sie hätte einen Touristen in seinem Wagen überfallen, ihn in den Kofferraum werfen und nach Connecticut fahren sollen, um dann einen neuen Plan zu schmieden.
Noch zehn Leute.
Sie beugte sich nach vorn, um in Caines Ohr zu flüstern. «Gehen Sie zur Seite. Egal, was ich tue, folgen Sie mir.» Ehe Caine sich umdrehen konnte, hatte sie ihn zur Seite geschoben und sich neben ihn gedrängelt. Caine folgte ihrem Beispiel und hüpfte zurück auf die Stufe, die sie gerade freigemacht hatte.
Noch vier Leute.
Erstaunlich, dass der Agent nicht bemerkt hatte, wie Nava und Caine die Plätze tauschten. Erbärmlich. Obwohl sie wusste, dass sie dankbar hätte sein sollen, war sie irritiert von der Inkompetenz des Mannes. Amerikas Geheimdienste mochten mächtig sein, doch zum größten Teil waren sie schlecht ausgebildet.
Noch zwei Leute.
Mit äußerst zuversichtlichem Blick setzte Nava ein breites, falsches Lächeln auf. Vorausgesetzt, sie suchten nur nach Caine, müsste ihr Plan funktionieren. Wenn sie nach ihr suchten – und wenn der Agent so schnell war, wie er sein sollte –, dann waren sie am Arsch.
Nava bog den Rücken durch, streckte die Brüste vor und starrte den Agenten sinnlich an. Wenn er vom KGB gewesen wäre, hätte er zu dem Mann hinter ihr geschaut, der trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille trug. Aber er war nicht vom KGB. In diesem Moment war er nicht einmal mehr ein Geheimagent. Er war nur ein geiler Bock.
Er fraß sie mit den Augen auf, ließ seinen Blick einen Moment lang auf ihren Brüsten ruhen, doch als er ihr ins Gesicht schaute, flackerten seine Lider. Sie musste etwas tun, bevor er reagieren konnte. Sie tat so, als würde sie stolpern, fiel auf ihren Möchtegern-Angreifer und ließ sich von ihm auffangen. Dann fuhr sie mit einer Hand schnell seinen Oberkörper hinauf und riss mit einem kurzen Ruck das Mikro von seinem Revers.
«Hey, Sie haben …» Er hörte auf zu sprechen, als er den Druck auf seine Leiste spürte.
«Nicht bewegen», flüsterte sie mit eingefrorenem Lächeln. «Was Sie da spüren, ist die Spitze einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge. Wenn Sie den Rest nicht auch noch spüren wollen, legen Sie jetzt behutsam Ihre Arme um mich, so als würden wir uns umarmen, und gehen zwei Schritte rückwärts zur Wand. Ganz langsam.»
Der Agent gehorchte. Die Leute strömten an den vermeintlichen Turteltauben vorbei, ohne den Dolch an der Leiste des Mannes zu bemerken.
«Wie viele sind noch hier?»
«Hören Sie, Vaner …»
Nava stieß kurz mit dem Dolch zu und pikste seinen Oberschenkel. «Wie viele?»
«Okay, okay», sagte er und versuchte, sein Becken zurückzuziehen, doch er stand mit dem Rücken an der Wand. «Es sind noch zehn andere im Bahnhof.»
«Wie viele auf diesem Bahnsteig?» Sie reckte den Kopf, als wollte sie ihm einen Kuss geben. Sein Atem roch nach Zigarettenqualm.
«Einer.»
«Beschreiben Sie ihn.»
Als er einen Augenblick zögerte, erinnerte sie ihn daran, was auf dem Spiel stand.
«Himmel!», zischte er. «Seien Sie vorsichtig mit dem Ding. Er ist ungefähr eins achtzig groß, schlank, wiegt wahrscheinlich achtzig Kilo. Blondes Haar, kurz geschnitten wie meins.»
«Für wen arbeiten Sie?»
«CIA», antwortete er zu schnell. Er log.
«Okay.» Sie drehte den Kopf und legte ihn an seine Brust, sodass sie aus dem Mundwinkel mit Caine sprechen konnte. «Nehmen Sie den blauen Stift aus dem unteren Reißverschlussfach und legen Sie ihn mir in die Hand.» Sie drehte sich wieder um und sah hoch zu dem Agenten, während Caine in ihrem Rucksack wühlte. «Hey, schauen Sie mich an.»
Widerwillig gehorchte der Agent. Sie sah Angst in seinem Blick.
«Keine Sorge. Sie bleiben am Leben.»
Caine legte das zehn Zentimeter lange Plastikröhrchen in ihre linke Hand, und Nava stieß es in den Oberschenkel des Agenten. Der blaue Zylinder brach und löste den Federmechanismus aus, der die Nadel hervorkatapultierte. Seine Muskeln verspannten sich, als die Kanüle sein Fleisch durchstieß. Fünf Sekunden später, als ihm das Benzodiazepin durch die Adern strömte, wurde er schlaff, ein dumpfes Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. Nava ließ das nun leere Plastikröhrchen fallen und legte ihre linke Hand auf seine Brust, damit der Agent nicht umfiel.
«Wie heißen Sie?»
«Sean Murphy.» Er sprach, als wäre er mitten in einem Traum.
«Wie fühlen Sie sich, Sean?»
«Schläfrig.» Als wollte er diese Aussage unterstreichen, legte er den Kopf zurück und schloss die Augen.
«Sean. Sean!» Nava steckte ihr Messer weg und schüttelte Murphy.
Er öffnete erschrocken die Augen und sah verwirrt zu ihr hinab. «Ich will schlafen.»
«Ich weiß. Tun Sie mir nur noch einen Gefallen, okay?» «Okay», brummte er wie ein Riesenbaby.
«Wenn Sie jemand aufweckt, dann sagen Sie einfach, dass Sie müde waren und ein kurzes Nickerchen gemacht haben, nachdem der Zug weg war. Sie haben mich nie gesehen. Sie müssen eingeschlafen sein.»
«Genau. Ich habe Sie nie gesehen.» Er blinzelte schnell mit den Augen, als wollte er verhindern, dass sie zufielen. «Kann ich jetzt schlafen?»
«Nur noch eine Frage. Für wen arbeiten Sie wirklich?»
Er brummte etwas, während sich seine Augen langsam schlossen. Nava packte ihn genervt an den Schultern. In zehn Sekunden würde er bewusstlos sein, ob sie es ihm erlaubte oder nicht. «Für wen arbeiten Sie?»
Nava legte ein Ohr an Murphys Mund. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. «F … B … Iiiiii.» Der Kopf sank ihm auf die Brust, Sabber tropfte ihm von den Lippen. Nava schloss ihm den Mund und lehnte den Mann vorsichtig an eine Stütze in der Mauer.
«Achtung, eine Durchsage: Zug 183 nach Washington D. C. fährt nun auf Gleis zwölf ein.»
Nava nahm ihren Rucksack von der Schulter und holte ein weiteres Plastikröhrchen hervor, das so aussah wie das erste, nur dass es gelb war. Mittlerweile konnte sie den einfahrenden Zug hören. Sie sah sich schnell um, ob jemand sie beobachtete, doch jedermann rang um den besten Platz auf dem Bahnsteig. Sie wandte sich an Caine, der entsetzt blickte.
«Ist er … Ich meine, haben Sie …»
«Er ist nicht tot. Wenn ich ihn getötet hätte, wüssten sie, wohin wir wollen.» Sie zog den winzigen Plastikknopf aus Murphys Ohr, steckte ihn mit einer Hand in ihr eigenes und heftete mit der anderen das Mikro wieder an sein Revers.
Genau in dem Moment knisterte es. «Bist du da, Murphy?»
«Hier», sagte Nava mit verstellter Stimme schroff ins Mikro.
«Was gesehen?»
«Ich auch nicht. Ich glaube, wir hatten Recht – das ist Zeitverschwendung hier.»
«Ja.» Nava wusste, dass sie auf der sicheren Seite war, wenn sie einsilbig antwortete.
«Okay. Melde mich wieder in fünf Minuten.»
«’kay.» Nava wartete noch einen Moment lang, dann steckte sie den Kopfhörer wieder in das Ohr des Agenten und stellte die Lautstärke an seinem Akkupack auf die höchste Stufe.
«Achtung, Fahrgäste des Zugs 183 nach Washington D. C. werden gebeten, jetzt einzusteigen. Der Zug fährt in zwei Minuten aus Gleis zwölf.»
Nava injizierte die zweite Spritze in Murphys Oberschenkel – Flumazenil, gemischt mit Amphetaminen, um das Betäubungsmittel zu neutralisieren. Dann wirbelte sie herum, packte Caine beim Arm und zog ihn in die Menschenschlange. Eine Minute später waren sie im Zug, der aus dem Bahnhof fuhr.
Nava atmete auf, als der Zug beschleunigte und die Stadt hinter sich ließ. Sie fragte sich, ob sie wirklich davongekommen waren, wusste aber, dass sie darüber nicht lange im Unklaren bleiben würden. Sie würden es nur allzubald erfahren.
«Die Fahrscheine, bitte!», rief die korpulente Schaffnerin, die durch den Gang schlurfte. «Bitte halten Sie Ihre Fahrscheine bereit. Die Fahrscheine, bitte!»
Nava steckte Caine ein paar Zwanziger zu. «Kaufen Sie eine einfache Fahrkarte nach Washington.»
Als die Schaffnerin bei Caine ankam, tat er, was Nava gesagt hatte. Er reagierte nicht, als Nava eine Hin- und Rückfahrkarte nach Baltimore kaufte. «Falls jemand fragt, soll sie nicht glauben, dass wir zusammen reisen – das könnte uns Zeit verschaffen.»
«Wir fahren also beide nach Baltimore?», fragte Caine.
Nava schüttelte den Kopf. «Nein. Wir steigen beim nächsten Halt aus.»
«Warum Newark?»
«Ich will aus diesem Zug raus, bevor sie unsere Spur wieder aufgenommen haben.»
«Kann ich auch ein Wörtchen mitreden?»
«Nein. So ist es am sichersten.»
Caine holte tief Luft. Er musste seine Wahnvorstellung in den Griff bekommen. Wenn er es bis zu Jasper schaffen würde, wäre er in Sicherheit. «Ich will nach Philadelphia fahren.»
«Warum das?»
«Mein Bruder wohnt dort.» Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wusste Caine auch schon, dass es ein Fehler gewesen war.
«Das ist genau der Grund, warum wir nicht dorthin fahren dürfen. Dort suchen sie uns zuerst.»
«Wer sind ‹sie›?»
«Sie sind das FBI und alle, die die NSA noch angeheuert hat, um Sie zu finden», flüsterte sie. «Oder haben Sie nicht aufgepasst?»
«Aber ich muss zu Jasper.»
«Nicht jetzt. Verstehen Sie das nicht?»
«Das ergibt doch alles keinen Sinn!», entfuhr es Caine, was dazu führte, dass sich einige Fahrgäste zu ihnen umdrehten.
«Sprechen Sie leiser», zischte Nava mit zusammengebissenen Zähnen. Überall spitzten Leute die Ohren, um ihnen zuzuhören. Sie lehnte sich zurück und flüsterte in Caines Ohr: «Nicht hier. Zu viele Leute.»
«Na schön», flüsterte Caine. «Ich fahre aber trotzdem nach Philly.»
«Nein, das werden Sie nicht. Sie brauchen mich, David, und ich sage Ihnen, dass es Selbstmord wäre, zu Jasper zu gehen. Bitte vertrauen Sie mir.»
Caine öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, wusste aber, dass er sie nicht umstimmen würde. Er schloss die Augen und versuchte zu überlegen, was er tun sollte. Seiner Ansicht nach war Philly der richtige Schachzug, und Nava musste mit ihm gehen. Wäre dies alles real und er wirklich der Laplace’sche Dämon, dann wüsste er bereits, ob er es nach Philly schaffen würde. Oder er wäre zumindest in der Lage, seinen Willen durchzusetzen. Doch stattdessen fiel ihm nichts Besseres ein, als sich auf der Toilette zu verstecken.
Er verachtete sich. Sein Plan sprach nun wirklich nicht von einer allwissenden Intelligenz. Er ließ seine Gedanken schweifen, versuchte herauszufinden, was er tun sollte, doch ihm kam nichts weiter in den Sinn als das wiederholte Bild, wie er in der Toilette stand und ein Handy –
Plötzlich riss er die Augen auf und atmete laut keuchend ein. Nava wandte sich sofort mit besorgtem Blick zu ihm.
«David, alles in Ordnung?»
Ihre Stimme schien eine Million Meilen entfernt zu sein. Er sah auf seine Armbanduhr. Das Display zeigte 10 : 13 : 43 an. Wenn er es schaffen wollte, musste er in exakt 38 Sekunden auf den Geschäftsmann treffen. Abrupt stand er auf.
«Wo –»
«Zur Toilette», beantwortete Caine ihre Frage, bevor sie ausgesprochen war.
Sie sah ihn argwöhnisch an, stand dann auf und nahm seinen Ellbogen. «Ich helfe Ihnen.»
«Klar», sagte Caine, der im Geiste die Sekunden zählte. Er musste sich nicht beeilen. Er hatte noch eine Menge Zeit. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn und übertrieb sein Humpeln. Nava achtete nicht darauf, aber das wusste Caine bereits. Er ging weiter wie im Traum. Er hatte das Gefühl, sich durch einen Irrgarten zu bewegen, durch den er schon unzählige Male gegangen war.
Am Ende das Waggons ging die Tür auf, und ein Geschäftsmann Anfang dreißig kam herein, wie nach Plan. Er trug mit beiden Händen ein Papptablett mit Snacks. Caine konnte aus der Entfernung nicht erkennen, was auf dem Tablett war, aber er wusste es auch so: ein mit Cola gefüllter Plastikbecher, eine Tüte Doritos und ein Thunfischsandwich. Der Mann kam näher. Caine blieb einen Moment lang stehen und tat so, als würde er das Gleichgewicht verlieren. Nava packte seinen Arm, damit er nicht hinfiel, was niemals passiert wäre. Caine dankte ihr und ging einen Schritt nach vorn.
Jetzt stand er dem Mann fast gegenüber. Caine drehte sich zur Seite, um ihn durchzulassen. Dann ruckte der Zug plötzlich nach links, und Caine stolperte nach vorn und rempelte den Mann an, wodurch seine Cola verschüttet wurde.
«Himmel, passen Sie doch auf!», schimpfte der Mann und schob Caine grob aus dem Weg.
«Entschuldigung, war mein Fehler», sagte Caine, während er mit Nava im Schlepptau seinen Weg zur Toilette fortsetzte. Kaum war er hinter der verschlossenen Tür in Sicherheit, holte er das Handy hervor, das er aus dem Gürtelclip des Geschäftsmannes gezogen hatte. Er schloss die Augen und versuchte, sich an die Nummer zu erinnern, die er vier Tage zuvor gehört hatte.
Nachdem er sie aus seinem Unterbewusstsein geborgen hatte, begann er zu wählen.
Jennifer Donnelly ließ eine Hand am Lenkrad ihres Ford-Geländewagens, während sie in ihrer Handtasche nach dem Handy kramte. Das blöde Ding klingelte immer im falschen Moment. Gerade als sie hinabschaute, flitzte ein Mini Cooper vor ihren Wagen. Erschrocken machte sie eine Vollbremsung. Eine Sekunde später rammte ein silberner Lincoln ihre Stoßstange und schleuderte Jennifers Geländewagen über die Kreuzung, bis er gegen eine Leitplanke knallte.
Sie wurde in den Sitz gepresst; der Airbag war so schnell aufgegangen, dass Jennifer den Eindruck hatte, ihr hätte jemand ins Gesicht geschlagen. Völlig benommen saß sie da, bis das warme, feuchte Gefühl zwischen ihren Beinen sie aufrüttelte.
«O Gott», sagte sie und presste ihre Oberschenkel zusammen, als könnte sie damit aufhalten, was passiert war. Aber es war zu spät.
Die Spülung wurde betätigt, dann trat Caine aus der Toilette.
«Kommen Sie, setzen wir uns wieder hin», sagte er ein bisschen zu schnell.
Nava spürte, dass er etwas im Schilde führte, aber da sie nicht wusste, was es war, folgte sie ihm schweigend zu ihren Plätzen. In weniger als fünf Minuten würden sie in Newark sein. Sie konnte es nicht mehr erwarten, den Zug zu verlassen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass die NSA bereits ihre Fährte aufgenommen hatte. Wenn sich der Agent, den sie betäubt hatte, an ihre Begegnung erinnerte, liefen sie womöglich direkt in eine Falle.
Nava sah sich im Waggon um und plante bereits ihre Flucht. Was würde sie an der Stelle ihrer Gegner tun? Warten, bis sie ausstiegen, und auf dem Bahnsteig zugreifen? Am Bahnhof den Zug besteigen und ihn durchsuchen? Nein. Sie würde den Zug ungefähr einen Kilometer außerhalb des Bahnhofs anhalten und dort einsteigen. Dadurch würde man die Situation am besten kontrollieren: Selbst wenn sie weglaufen wollten, könnten sie nirgendwohin.
Aber das hätte sie getan. Sie leitete den Einsatz aber nicht. Amerikaner leiteten ihn. Und in Amerika war man immer zu sehr besorgt um unschuldige Opfer und Geiselnahmen. Hier kümmerte man sich mehr darum, wie die Schlagzeilen am nächsten Tag lauten würden, als um die Erfüllung des Auftrages. Und was bedeutete das? Aus Angst vor einem Gefecht würden sie den Zug nicht entern. Sie würden die beiden überraschen wollen und den Bahnhof zu einer «kontrollierten» Umgebung ausbauen.
Sie begann, einen Plan zu schmieden.
Bill Donnelly schaute zu, wie sich das Gleis vor seinem dahinsausenden Zug aufrollte, als das Handy in seinem Overall zu summen begann. Ihm war klar, dass sich jeder über sein Outfit lustig machte – Jeans vom Kopf bis zu den Füßen, einschließlich seiner kurzkrempigen Kappe –, doch er war der Ansicht, dass Zugführer Overalls tragen sollten. Er angelte sein Handy hervor, ohne den Blick von den Gleisen zu nehmen.
«Yyyellow», sagte er. Das amüsierte Lächeln über seine Lieblingsbegrüßung verschwand, als er am anderen Ende der Leitung ein Schluchzen hörte. «Schatz, bist du’s?»
«Ja, ich bin’s.» Die Stimme seiner Frau klang matt. «Ich hatte einen Unfall.»
«Ist dir was passiert? Was ist mit dem Baby?»
«Meine Fruchtblase ist geplatzt», sagte sie und hielt dann tief durchatmend inne. «Ich muss ins Krankenhaus.»
«Aber es ist doch erst in sechs Wochen so weit!»
«Bill, ich brauche dich. Bist du bald zu Hause?»
«Ach, Schei … wir sind kurz vor Newark, aber ich beeile mich, Liebes.»
Sie schrie vor Schmerz. «Bitte, Bill. Ich habe … ich habe Angst. Ich schaffe das nicht wieder … nicht allein.» Sie brach in Tränen aus.
«Hey, hey», sagte er sanft. «Alles wird gut, mein Häschen. Ich werde schneller da sein, als du ‹Es ist ein Junge› sagen kannst.»
Sie schniefte leise, ihre Tränen versiegten. «Versprochen?»
«Ich verspreche, dass ich bei dir sein werde und deine Hand halte, wenn dieses Baby auf die Welt kommt.»
«Okay. Ich fahre jetzt ins Krankenhaus. Der Krankenwagen ist hier. Ich liebe dich.»
«Ich liebe dich auch.» Ein kurzes Klicken, dann war sie fort.
Er erinnerte sich an seine letzte Fahrt zum Kreißsaal zwei Jahre zuvor. Er hatte lange arbeiten müssen und es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft. Nicht weiter schlimm, hatte er gedacht. In den ersten paar Stunden gab es sowieso nicht viel zu sehen. Seine Schwester hatte drei Kinder bekommen, und die kürzeste Zeit, die sie in den Wehen lag, waren zwanzig Stunden gewesen. Er hätte nicht gedacht, dass neunzig Minuten etwas ausmachen würden. Aber da hatte er sich getäuscht.
Die Wehen dauerten nicht lange, und das Baby – der kleine Matthew William – wurde tot geboren. Bill hatte sich immer schuldig gefühlt, weil er in diesen ersten Momenten, in denen Jennifer allein im Krankenzimmer gelegen hatte, nicht bei ihr gewesen war. Als er schließlich mit einer Schachtel Zigarren ankam, spuckte sie ihm ins Gesicht. Es hatte sie ein ganzes Jahr Paartherapie gekostet, um zu einem gewissen Anschein von Normalität zurückzukehren. Und drei Monate später hatte sie erfahren, dass sie wieder schwanger war.
Er fragte sich oft, ob es ein Fehler gewesen war, es mit einem weiteren Kind zu versuchen. Der Stress der zweiten Schwangerschaft zerstörte fast ihre Ehe. Aber irgendwie schafften sie es. Er hatte sogar schon unbezahlten Urlaub beantragt, damit er zu Hause sein konnte, wenn es so weit war. Aber wie sagte man immer? Die ausgeklügeltsten Pläne … sind zum Scheitern verurteilt. Oder so ähnlich. Er konnte es nicht glauben. Es sollte nicht auf diese Weise geschehen. Nicht schon wieder.
Er schaute auf seine Uhr und dann auf den Fahrplan. In Trenton würde es einen zwanzigminütigen Halt für die routinemäßige Wartung geben. Außerdem mussten die Vorräte des Speisewagens aufgefüllt werden – weitere zehn Minuten. Was konnte er tun? Nichts. Aber dann dachte er an seine Frau, Jenny, allein in diesem Zimmer … im selben Krankenhaus, in dem sie Matthew verloren hatten.
Bill seufzte. Er wusste, was er zu tun hatte. Es war wert, seinen Job zu verlieren. Er drehte sich um und schloss die Tür. Er schaltete in den höchsten Gang und beschleunigte. Dann nahm er das Mikrophon, holte tief Luft und drückte den Knopf.