Kapitel // 26 //

«Was haben Sie sich bei dem Mist eigentlich gedacht?»

Forsythe hielt den Hörer von seinem Ohr weg. Er holte tief Luft, bevor er dem stellvertretenden Direktor des FBI antwortete, der stocksauer über das Debakel auf dem Bahnhof war.

«Sam, ich konnte doch nicht ahnen, dass es so in die Binsen –»

«Sie können mich mal mit Ihrem Scheiß-‹Sam›!», brüllte Sam Kendall ins Telefon. «Sie haben gesagt, Sie bräuchten ein paar Männer, um einen Zivilisten festzunehmen – von einer abtrünnigen CIA-Agentin war nicht die Rede!»

«Sam … ähm, ich meine …», stammelte Forsythe. Er hatte keine Ahnung, wie Kendall das mit Vaner so rasch herausgefunden hatte.

«Sparen Sie sich die Mühe, James. Ich weiß, dass Sie mich angelogen haben. Gratuliere. Wer hat Sie dazu angestiftet? Nielsen?» Forsythe versuchte gar nicht erst, ihn zu unterbrechen; er ließ ihn einfach schimpfen. «Klar, wer sonst», knurrte Kendall mehr zu sich selbst als zu Forsythe. «Zum Teufel mit ihm, zum Teufel mit euch beiden! Und dann sind Sie auch noch so dreist, Martin Crowe zu engagieren? Es ist ein verfluchtes Wunder, dass niemand dabei draufgegangen ist!»

Kendall holte Luft, dann setzte er seine Schimpfkanonade fort. «Gerade habe ich gehört, dass MacDougal Sie nächsten Monat rauswerfen will. Eins sage ich Ihnen: Nach dem Bock, den Sie gerade geschossen haben, fliegen Sie hochkant, und zwar fristlos.»

Forsythes Finger krampften sich um den Hörer. «Sie sind nicht dazu befugt –»

«Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie sprechen?» Kendalls Stimme überschlug sich. «Ich bin der stellvertretende Direktor des FBI, und ob Sie es glauben oder nicht, ich habe in dieser Stadt einiges zu sagen! Ich habe mit Senator MacDougal über die Eskapade heute Morgen gesprochen, und wir sind uns einig, dass Sie am besten noch heute Ihren Abschied nehmen.

Sie haben dreißig Minuten, Ihren Krempel zusammenzupacken; dann wird die Militärpolizei Sie hinausbegleiten. Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit, Sie Idiot.» Kendall knallte den Hörer so fest auf die Gabel, dass das Geräusch in Forsythes Ohren nachhallte.

Forsythe war wie betäubt. Er war noch nicht so weit. Sicher, Tverskys Arbeit war viel versprechend, aber wenn nun nichts dabei herauskam? Er war davon ausgegangen, dass ihm mindestens noch ein Monat zum Durchforsten der STR-Datenbank bleiben würde, bevor er in die freie Wirtschaft wechselte und daher keinen Zugriff mehr auf die NSA-Ressourcen hatte. Jetzt aber war er mittellos. Ihm blieben nur noch Tversky und sein «Dämon» – und den hatte er noch nicht einmal. Forsythe brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen, dann bat er Grimes in sein Büro.

«Steven, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, aber …» Er machte eine Pause, damit Grimes das Schlimmste befürchtete, bevor er ihm seine Lüge auftischte. «Wir sind gefeuert. Heute ist unser letzter Tag.»

«Was? … Also, dass Sie erledigt sind, war mir klar, aber … warum ich?»

«Aus politischen Gründen, nehme ich an», sagte Forsythe. «Aber wer weiß, vielleicht ist es sogar besser so.»

«Worauf wollen Sie hinaus?» Grimes verzog das Gesicht.

Forsythe überlegte, wie er es Grimes am besten sagte. Grimes musste ja nicht unbedingt wissen, dass er das letzte halbe Jahr über vorgehabt hatte, sich ohne ihn davonzumachen. Forsythe verfügte bereits über ein nahezu vollständig eingerichtetes Forschungslabor und zusätzliche zehn Millionen Dollar auf der Bank. Ihm fehlten nur noch die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Er hatte sie sich auf dem freien Markt besorgen wollen, anstatt der STR eins ihrer «Talente» wegzunehmen, doch nun blieb ihm keine Zeit mehr.

Hinzu kam, dass er nur ungern auf die Forschungsdaten verzichtete, die sich bei der STR abgreifen ließen. Da Grimes in Wahrheit gar nicht gekündigt war, würden seine Sicherheitscodes aktiv bleiben, bis irgendjemand Forsythes Täuschungsmanöver bemerkte – bis dahin sollten sie alle nötigen Informationen haben. So ungern Forsythe es auch zugab, Grimes war unentbehrlich.

«Ich wollte Sie eigentlich damit überraschen, aber …» Forsythe verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten damit, Grimes seinen Plan zu erläutern, wobei er die Tatsache betonte, dass bisher nur Forsythe von Grimes’ Rauswurf wusste und Grimes es daher besser niemandem gegenüber erwähnte.

Als er fertig war, rieb sich Grimes das pickelige Kinn. «Ich will eine Beteiligung.»

«Bitte?»

«Sie haben richtig verstanden», sagte Grimes. «Wenn Sie wollen, dass ich mitmache, dann will ich auch ein Stück vom Kuchen.»

«Wie viel?», fragte Forsythe und ballte unter dem Tisch die Fäuste, entspannte sie wieder.

«Zehn Prozent.»

Forsythe pfiff, langsam, leise. Für Auseinandersetzungen war keine Zeit, und Grimes war mit Sicherheit naiv, was Verhandlungstaktiken betraf. Forsythe wusste sofort, wie er es anzugehen hatte.

«Steven, wenn mir das gesamte Unternehmen gehören würde, würde ich Ihnen gerne zehn Prozent geben. Aber achtzig Prozent gehören bereits den Risikokapitalgebern.» Die Lüge ging ihm ganz leicht über die Lippen; die Risikokapitalgeber waren zwar gierig, aber sie hatten nur eine 35-prozentige Beteiligung für ihre zwölf Millionen Dollar verlangt – von denen er zwei bereits für das Labor ausgegeben hatte. «Wie wäre es damit: Sie kriegen zehn Prozent von dem, was mir gehört.»

«Das sind ja nur zwei Prozent», schnaubte Grimes.

«Ein faires Angebot, Steven.» Forsythe verzog keine Miene.

«Machen Sie drei draus, und ich schlage ein.»

«Einverstanden.»

Grimes hielt ihm eine verschwitzte Hand hin. Forsythe schüttelte sie und wischte sich dann rasch die Hand an der Hose ab.

«Sehr schön», sagte Forsythe, darauf bedacht, wieder zur Hierarchie von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückzukehren. «Und jetzt verbinden Sie mich bitte mit Crowe.»

«Aber klar doch Partner.» Grimes ließ ein breites, gelbzähniges Lächeln blitzen und verließ das Büro. Achtzehn Sekunden später blinkte das rote Lämpchen an Forsythes Telefon. Er atmete tief durch und hob ab.

«Mr. Crowe, hier spricht James Forsythe», sagte er. «Die Pläne haben sich ein wenig geändert …»

 

Nachdem Crowe aufgelegt hatte, sah er zum Himmel hinauf. Die Sonne lugte endlich wieder zwischen den Wolken hervor, und ein Regenbogen wurde sichtbar. Betsy hatte Regenbogen immer geliebt. Immer, wenn einer am Himmel zu sehen war, waren sie ins Auto gestiegen und herumgefahren, um nach dem Goldtopf zu suchen.

Sein Blick trübte sich. Betsy war immer so stolz auf ihren Vater gewesen. Er fragte sich, was sie wohl sagen würde, wenn sie ihn in seinem augenblicklichen Zustand sähe. Forsythes Autoverkäuferstimme ließ Schlimmes befürchten, aber es ging um zu viel Geld, als dass Crowe jetzt einen Rückzieher machen konnte.

Wenn Forsythe immer noch wollte, dass er ihm Caine lieferte, dann musste er sich eben etwas einfallen lassen. Er scrollte im Adressbuch seines Handys, bis er fand, was er gesucht hatte. Jim Daltons Nummer leuchtete blau vor dem weißen Hintergrund des Displays.

Crowe hatte sich geschworen, nie wieder mit Dalton und seinen Gangsterkumpanen zusammenzuarbeiten, nachdem der Söldner ihn mit einem Trick dazu gebracht hatte, die Security für einen Drogendealer zu übernehmen. Andererseits, was war schon ein gebrochenes Versprechen mehr? Außerdem waren die Söldner, die er sonst so kannte, auch nicht gerade die Ehrlichsten. Solange er Daltons Neigung zur Brutalität unter Kontrolle behalten konnte, gab es nun einmal niemand Fähigeren.

Mit einem leichten Gefühl der Resignation drückte Crowe die Wahltaste. Dalton hob beim ersten Klingeln ab.

«Marty, was gibt’s?», fragte Dalton.

«Ich hab einen Job und brauche ein bisschen Verstärkung», sagte Crowe.

«Wann?»

«Sofort.»

«Scheiße, ich würde dir wirklich gern helfen, aber ich hab gerade jemanden hier, der mich für ein paar Botengänge braucht. Wie wär’s nächste Woche?»

«Ich kann nicht warten», sagte Crowe und zog die Brauen zusammen. «Wie viel verdient ein Botenjunge denn heutzutage so?»

Dalton antwortete erst nach einer Sekunde. «Dreißig, für fünf Tage Arbeit.»

«Für dich oder für die ganze Crew?»

«Nur für mich. Rainer, Leary, McCoy und Esposito kriegen jeder fünfzehn.»

Es war vermutlich gelogen, aber das kümmerte Crowe nicht. War ja Forsythes Geld.

«Mein Auftraggeber zahlt euch vieren hundertfünfzig die Woche», sagte Crowe. «Ihr könnt sie aufteilen, wie ihr wollt.»

Dalton pfiff. «Was ist das für ein Auftrag, Marty?»

«Nichts Schlimmeres als sonst. Bist du dabei oder nicht?»

«Worum geht es?»

«Etwas Aufklärung, ein Zugriff und dann vielleicht noch ein bisschen Bewachung.»

«Wer ist die Zielperson?», fragte Dalton misstrauisch.

«Niemand, den man vermissen wird. Bloß ein Zivilist.»

«Wozu das viele Geld? Hört sich nach etwas an, womit du allein fertig wirst.»

«Er hat einen Bodyguard.»

«Und?»

«Und», sagte Crowe, der die Fragerei allmählich leid war, «sie war früher mal bei der CIA, verdeckte Operationen. Ein harter Brocken.»

«Sie?» Dalton lachte. «Okay, wenn du die Jungs und mich brauchst, um mit einer Frau klarzukommen, dann können wir dir bestimmt behilflich sein. Aber ich will das Geld im Voraus.»

«Kommt nicht in Frage. Die Hälfte im Voraus; den Rest, wenn wir die Zielperson haben.»

Dalton schwieg für einen Moment, aber Crowe machte sich keine Sorgen. Er wusste, dass Dalton einschlagen würde.

«Meinetwegen», sagte Dalton, als würde er Crowe einen Gefallen tun. «Wo geht die Sache über die Bühne?»

«Steht noch nicht fest, aber wahrscheinlich in der Tri-State Area.»

«Sollen wir irgendwo zu dir stoßen?»

«Nein», sagte Crowe und überlegte. «Trommel einfach die Jungs zusammen, mit der üblichen Ausrüstung. Dann haltet euch bereit und bleibt nüchtern.»

«Alles klar», sagte Dalton.

«Sobald ich weiß, wo, ruf ich dich an.»

«Null problemo. Nett, mal wieder mit dir zusammenzuarbeiten, Marty.»

Eine Minute nachdem Crowe aufgelegt hatte, summte sein Handy. Dalton war einer von der schnellen Truppe, was die Nennung seiner Kontonummer anging. Crowe leitete die Nachricht an Grimes weiter, zusammen mit der Summe, die zu überweisen war. Danach ging er zu seiner Wohnung zurück, um sich kurz auszuruhen. Es war eigentlich noch zu früh, aber er wollte versuchen zu schlafen, solange er noch konnte. Er hatte das Gefühl, dass es eine lange Nacht werden würde.

Während er einschlief, kreisten seine Gedanken um die bevorstehende Mission. Er war zuversichtlich, dass Grimes Caine finden würde, ganz egal, wo er steckte. Es war nur eine Frage der Zeit. Und dann würde Crowe ihn sich greifen – und Vaner wahrscheinlich töten.

Er musste nur noch warten.

 

Caine starrte auf seine Cola hinab. «Ich hätte mir etwas Stärkeres bestellen sollen.»

«Werden Sie es versuchen …?», fragte Doc.

«Keine Ahnung», sagte Caine. «Selbst wenn, ich wüsste gar nicht, wie ich es anstellen sollte.»

«Ich finde immer noch, dass es zu gefährlich ist», sagte Nava. «Solange wir auf der Flucht sind, ist es zu riskant.»

«Sie hatten kein Problem damit, als ich es im Zug gemacht habe», konterte Caine.

«Das war etwas anderes», sagte Nava. «Außerdem kannte ich da die Risiken noch nicht.»

«Aber was, wenn sie uns jetzt gerade auf den Fersen sind?», fragte Caine. «Vielleicht ist es auch zu riskant, es nicht zu versuchen.»

Nava runzelte die Stirn, drückte geistesabwesend ihre Zigarette aus.

«Da ist was dran», sagte Doc.

«Versuch’s, David. Die Stimme –» Jasper brach ab. «Ich meine, irgendwie wird es langsam Zeit.»

Caine sah seinen Bruder an. Jasper hatte ihm noch immer nicht alles erzählt – zum Beispiel, wie er darauf gekommen war, Doc anzurufen, kurz nachdem Caine ihn entführt hatte –, aber Caine war klar, dass er dafür seine Gründe haben musste. Nach Jaspers Physikvorlesung jedenfalls schienen alle vergessen zu haben, dass David nicht der einzige Caine war, der mit übernatürlichen Fähigkeiten gesegnet war.

Was nur einleuchtete. Sie waren immerhin eineiige Zwillinge. Caine hatte keine Ahnung, ob er seinem Bruder darum mehr oder weniger vertrauen sollte. Aber als er Jasper in die Augen sah, stand seine Entscheidung fest.

«Ich werd’s versuchen», sagte Caine. Trotz der Bestimmtheit in seiner Stimme hatte er Angst. All seine anderen Probleme – seine akademische Laufbahn, seine Anfälle, Nikolaev – kamen ihm auf einmal nichtig und klein vor. Wenn Nava nun Recht behielt? Wenn er für immer dort hängen blieb, in irgendeinem zeitlosen Nichts? Würde er dann verrückt werden? Oder war er es schon längst …? Nein. Er war nicht verrückt. Es war gar kein Wahnzustand gewesen – er hatte nur zu viel Angst gehabt, sich die Wahrheit einzugestehen.

Caine holte tief Luft. Er musste seine Angst beiseite schieben und es tun, bevor es zu spät war. Aber sicher doch. So wie damals, als er sich abgekapselt und vor seinen Freunden versteckt hatte, seinen Studenten, seinem Leben. Nein, das war etwas anderes gewesen. Da war ihm nichts anderes übrig geblieben. Wirklich nicht? Rückblickend wurde ihm klar, was für ein Feigling er gewesen war. Na schön, nun würde er eben kein Feigling mehr sein.

Er schloss die Augen und