Kapitel // 11 //

Dr. Tversky las Caines medizinische Akte zum fünften Mal. Er kannte sie praktisch schon auswendig, sah sich aber genötigt, sie noch einmal zu lesen und sich auf Caines Dopaminwerte und die chemische Analyse des experimentellen Epilepsiemedikaments zu konzentrieren. Caines Arzt war zufällig auf das auslösende Agens gestoßen, ohne es zu bemerken. Jetzt musste Tversky nur noch seine gegenwärtige Formel ein klein wenig anpassen, und dann 

Er zögerte, die neue Medikation an Julia ohne vorherige Tierversuche zu erproben, aber die Uhr tickte. Sie hatte es selbst gesagt: Mit jeder Sekunde, die verging, konnte sich die fragile Balance ihrer Hirnchemie ändern, und dann hätte er seine Chance verpasst. Es wäre ein Fehler, jetzt zu zögern. Er musste sofort damit anfangen.

Er widmete sich wieder der Akte, las sie noch einmal durch, um sicherzustellen, dass er nichts übersehen hatte. Er hatte nur diese eine Chance, es musste ein Erfolg werden. Und wenn es ein Erfolg wurde, wusste er, was als Nächstes zu tun war. Ja, dann wusste er mehr als nur das.

Dann wusste er alles.

 

«Sind Sie bereit?» Mr. Sheridan war so aufgeregt, dass er aussah, als würde er gleich aus seinem billigen Anzug platzen. Bei dem breiten, aufgesetzten Lächeln des PR-Manns wurde Tommy speiübel.

Das sind bloß die Nerven. Du bist nur so aufgeregt, weil du kurz davor stehst, berühmt zu werden.

Doch Tommy wusste, dass das nicht stimmte. Ihm war schon seit dem Aufwachen zum Kotzen zumute, und das war Stunden bevor er erfahren hatte, dass er im Fernsehen auftreten würde. Den übersäuerten Magen verdankte er nicht dem baldigen Ruhm, sondern dem traumlosen Schlaf der vergangenen Nacht.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er seine Träume als Fluch betrachtet und hätte alles darum gegeben, wenn ihn die leuchtenden Riesenziffern einmal eine Nacht lang nicht heimgesucht hätten. Doch jetzt, da es endlich so weit war, empfand er ein Gefühl der Leere. Die Zahlen fehlten ihm. Er bemühte sich, dieses Gefühl loszuwerden.

Es ergibt durchaus einen Sinn, dass die Zahlen nicht mehr kommen. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe gewonnen.

Das stimmte zwar, aber davon ging es ihm auch nicht besser.

«Los geht’s», sagte Mr. Sheridan breit grinsend und klopfte Tommy auf den Rücken. Tommy folgte Mr. Sheridan hinaus auf das kleine Podium, das die Lottogesellschaft zu diesem Anlass aufgebaut hatte. Er sah hinüber zu dem Pulk von Fotografen, doch ehe er etwas erkennen konnte, blendete ihn ein Gewitter aus Dutzenden Blitzlichtern, begleitet vom Klicken und Surren der Kameras.

Tommy setzte sein schönstes Lächeln auf und war mit einem Mal froh, dass die Visagistin zwanzig Minuten darauf verwandt hatte, seine Pickel zu überkleistern. Wie gebannt von den Lichtern, zuckte er fast zusammen, als er Mr. Sheridans Hand auf der Schulter spürte.

«… Unser Gewinner ist ein 28-jähriger Kassierer aus Manhattan. Er ist nun im Besitz von über 247 Millionen Dollar!» Sheridans ohnehin schon grotesk breites Lächeln schien noch breiter zu werden. «Jedenfalls bis sich Uncle Sam seinen Anteil schnappt.» Höfliches Gelächter auf Seiten der Reporter. «Doch kommen wir zur Sache: Es ist mir eine Freude, Ihnen Mr. Thomas DaSouza vorzustellen!»

Mr. Sheridan trat einen Schritt beiseite und zog Tommy vor den Strauß von Mikrofonen, der aus dem Pult wuchs. Wieder setzte ein Blitzlichtgewitter ein, und die Reporter riefen seinen Namen. Mr. Sheridan beugte sich vor Tommy.

«Einer nach dem anderen bitte.» Er sah sich in der Menge um und zeigte dann auf zwei Personen. «Erst Penny, dann Joel.»

Eine platinblonde Frau in einem knallroten Hosenanzug erhob sich lächelnd von ihrem Stuhl. «Wie fühlt man sich denn so als Multimillionär?»

Tommy sah zu Mr. Sheridan hinüber, der ihm zunickte und auf die Mikrofone wies. Tommy beugte sich leicht vor und versuchte, in alle gleichzeitig hineinzusprechen. «Ziemlich cool.» Gelächter.

«Wie sind Sie auf diese Zahlen gekommen?», rief ein Mann mit schütterem Haar.

«Sie sind mir im Traum erschienen.» Als ihm das über die Lippen kam, wusste er, dass es ein Fehler war, aber nun war es zu spät. Jetzt meldeten sich alle Reporter zu Wort.

«Einer nach dem anderen, einer nach dem anderen!», rief Mr. Sheridan. «Curtis, Bethany, Mike und dann Bruce.»

Ein großer Schwarzer hob die Hand, um Tommy auf sich aufmerksam zu machen. «Wie lange haben Sie schon solche Träume?»

«Fast mein ganzes Leben lang, glaube ich.»

«Und wie sind diese Träume so?», fragte eine Frau, die ihr Gesicht einmal zu oft hatte liften lassen.

Tommy schloss kurz die Augen und rief sich die riesigen schwebenden Kugeln wieder ins Gedächtnis. «Sie sind wunderschön.»

Die nächste Viertelstunde wurde Tommy mit allen möglichen Fragen bombardiert, angefangen bei: «Glauben Sie an Gott?» bis hin zu: «Sind Sie Republikaner oder Demokrat?» Tommy beantwortete die Fragen, die er beantworten konnte, und bei den übrigen stammelte er: «Keine Ahnung.» Als Mr. Sheridan dann die Fragerunde beendete, fühlte sich Tommy, als würde er fliegen.

Er war glücklich. Zum ersten Mal, solange er zurückdenken konnte, war Thomas William DaSouza glücklich. Doch als er in der Limousine, die ihm das freundliche Personal der Lottogesellschaft zur Verfügung gestellt hatte, nach Hause fuhr, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob die Träume nun tatsächlich vorbei waren – und wie, wenn dem so war, sein Leben aussehen würde.

 

Nava versuchte, Dr. Tverskys Foto aufzurufen, aber da war nichts. Grimes war wohl gerade dabei, die Bilder auf dem Server zu aktualisieren; sie musste später noch einmal nachschauen, um zu erfahren, wie ihr Opfer aussah.

Als Nächstes überflog sie die persönlichen Daten. Zweimal verheiratet, zweimal geschieden, lebte Tversky allein in einer bescheidenen kleinen Wohnung. Seine erste Ehe war wegen «unversöhnlicher Gegensätze» in die Brüche gegangen, und seine zweite Frau hatte Tversky geistige Grausamkeit und Ehebruch angelastet. Angeblich hatte er eine Affäre mit einer seiner Studentinnen.

Über eine solche Affäre hätte sich die zweite Mrs. Tversky eigentlich nicht zu wundern brauchen, wenn man bedachte, dass auch sie bei Tversky studiert hatte und wahrscheinlich der Grund für das Scheitern seiner ersten Ehe war. Nava nahm sich vor, Grimes zu bitten, die Telefonkonten von Tverskys Studentinnen zu checken, um festzustellen, mit welcher er zurzeit schlief. Nach dem, was Nava über Grimes gehört hatte, würde es ihm Spaß machen, in Tverskys Geschlechtsleben herumzuschnüffeln.

Nava würde diese Information wahrscheinlich gar nicht brauchen, aber sie war der Auffassung, dass man gar nicht gut genug vorbereitet sein konnte. Wenn sie Tversky entführen musste, war es nützlich, jede Einzelheit seines Privatlebens zu kennen, um ihn besser zermürben zu können.

Anschließend widmete sie sich seinem Lebenslauf. Er hatte mit neunzehn das College abgeschlossen und dann an der Caltech einen BSc in Mathematik und einen MA in Biologie gemacht. Er hatte an der Johns Hopkins promoviert und dort noch, bevor er vierundzwanzig wurde, seinen Doktor in Biometrie gemacht. Anschließend glich sein Lebenslauf einem Verzeichnis der führenden Universitäten: Stanford, Penn, Harvard und Columbia. Er erhielt Forschungsstipendien von den National Institutes of Health, von der Weltgesundheitsorganisation WHO vom Center for Disease Control und, nicht weiter verwunderlich, von der NSA.

Nava schüttelte den Kopf. Noch so ein Genie, das glaubte, mit der Unterstützung seiner Regierung die Welt verändern zu können. Ja, natürlich gaben sie ihm Geld, aber letztlich war er nichts weiter als ein politisches Werkzeug. Auch sie war einmal naiv gewesen, eine Waffe der Regierung ihres Heimatlands. Doch durch eine glückliche Wendung der Weltgeschichte hatte sich das alles vor über einem Jahrzehnt geändert.

Dass sie nun ein freier, ungebundener Mensch war, war angesichts ihrer kommunistischen Erziehung eine Ironie des Schicksals. Sie bezweifelte, dass Dimitri damit einverstanden gewesen wäre, aber hätte er ihr einen Vorwurf daraus gemacht? Sie war sich da nicht so sicher. Aber es spielte auch keine Rolle. Dimitri Saitzew war längst tot, und Tanja Aleksandrova auch – das Mädchen, das sie gewesen war, ehe sie Nava Vaner wurde.

Ihre Identität zu ändern fühlte sich an wie das Anziehen einer neuen Jeans. Es war zunächst unbequem – zu eng an einigen Stellen, zu weit an anderen. Doch im Laufe der Zeit machte sie sich diese neue Identität so vollkommen zu Eigen, dass sie ihr schließlich passte wie eine zweite Haut. Nach einiger Zeit begann sie, Tanja zu vergessen, bis sie schließlich weiter nichts mehr war als eine ferne Erinnerung, wie eine alte Freundin, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte.

Jetzt war Nava niemand mehr. Keine Loyalitäten, keine Familie, kein Vaterland, keine Konsequenzen. Sie lebte schon so lange so, dass sie gar nicht mehr wusste, wie es war, wirklich etwas zu empfinden. Nava wollte das ändern, wusste aber, dass das erst nach ihrem Ausstieg möglich war. Sie würde ein neues Leben beginnen, aber diesmal würde sie es richtig machen. Das Einzige, was ihr noch im Weg stand, waren Dr. Tversky und seine Testperson Alpha.

Sie musste die Identität dieser Testperson binnen der nächsten 36 Stunden ermitteln. Wenn sie aus seinen Daten nicht genug Informationen zusammenbekam, war sie gezwungen, Tversky zu observieren. Wenn auch das nichts brachte, musste sie sich die Information gewaltsam besorgen. Wenn es einmal so weit kam, musste sie den Doktor gefangen halten, bis sich die Testperson Alpha in ihrer Gewalt befand. Entweder das, oder sie musste ihn töten. Keine der beiden Optionen gefiel ihr.

Es musste doch einen einfacheren Weg geben, irgendeinen Anhaltspunkt in seinen Aufzeichnungen, der Nava die Identität der Testperson Alpha verriet. Es gab solche Hinweise – sie musste sie nur finden. Drei Stunden lang ging Nava auf der Suche nach einer Antwort die über tausendseitige Datei durch. Als sie gerade aufgeben wollte, fand sie, wonach sie suchte:

Das war es. Wenn die Dosierung ein Milligramm pro zehn Kilo Körpergewicht betrug, wog Testperson Alpha ungefähr fünfzig Kilo. Nava lächelte. Natürlich – Testperson Alpha war eine Frau. Nachdem sie erfahren hatte, dass Tversky ein Schwerenöter war, hätte sie sich das eigentlich denken können. Wahrscheinlich jemand aus seinem Labor. Nava schnappte sich ihren Mantel und lief aus dem Büro, auf der Jagd nach einer Studentin, die fünfzig Kilo auf die Waage brachte.

 

Mit seiner Fettwampe, der unreinen Haut und dem verfilzten Haar ging Elliot Samuelson nicht oft aus und war daher meist von früh bis spät im Labor. Er war genau der Richtige für Nava. Sie fand ihn an der Hotdogbude vor einem Institutsgebäude der Columbia.

Unter normalen Umständen hätte Nava im Laufe einiger Wochen eine Beziehung zu Samuelson aufgebaut und ihm langsam die Information entlockt, die sie brauchte, ohne dabei Verdacht zu erregen. Doch heute hatte sie keine Zeit für Feinheiten. Vielmehr schlüpfte sie in die Rolle einer Privatdetektivin, die im Auftrag einer Exfrau Tverskys Ermittlungen anstellte. Zunächst gab Elliot Nava nur zögernd Auskunft, doch nachdem sie ihm einen Hunderter zugesteckt hatte, hörte er gar nicht mehr auf zu reden. Nachdem er die körperlichen Merkmale fast aller Mitarbeiterinnen des Labors aufgezählt hatte, unterbrach Nava ihn.

«Sind irgendwelche zierlichen Frauen darunter? Die so um die fünfzig Kilo wiegen?»

«Hm», machte Elliot und kratzte sich den Arm. «Mary Wu ist ziemlich klein. Aber die habe ich in letzter Zeit kaum gesehen. Sie ist gerade in Cambridge und schreibt da einen Artikel – zusammen mit irgend so einem Wichtigtuer aus Harvard.»

Nava strich Wu im Geiste von der Liste der Studentinnen, die sie von Grimes bekommen hatte. Tverskys Daten zufolge hatte er in den vergangenen drei Monaten mindestens zweimal wöchentlich mit Testperson Alpha Versuche durchgeführt. Elliot fuhr fort.

«Candace Rappaport und Marla Parker sind zierlich, aber Candace ist verlobt, und von Marla habe ich gehört, dass sie lesbisch ist.»

Nava hielt nichts von solchen Einschätzungen. Ihrer Erfahrung nach schloss eine Verlobung keine Affären aus, und Elliots Lesbentheorie überzeugte sie ebenso wenig. Sie ging die übrigen Namen durch, aber Elliot zufolge passte niemand so recht ins Bild. Nava wollte schon gehen, doch Elliot hielt sie zurück.

«Warten Sie, da ist noch jemand.»

«Ach wirklich?»

«Ja. Streng genommen gehört sie nicht zum Labor, denn sie ist eine Studentin von der NYU, aber sie ist seit ein paar Jahren über ein Austauschprogramm hier. Sie ist jedenfalls klein, 1,55 oder 1,60, aber ich glaube nicht, dass sie das Mädchen ist, das Sie suchen.»

«Und warum nicht?»

«Ich weiß nicht.» Elliot zuckte die Achseln. «Sie ist ziemlich schräg drauf. Vor allem in letzter Zeit. Seit ein paar Wochen trägt sie zum Beispiel immer eine Baseballkappe. Ich weiß, dass es sie nervt, denn sie kratzt sich immer den Kopf und schiebt die Mütze hin und her, sodass sie ihr beim Mikroskopieren nicht im Weg ist, aber sie nimmt sie nie ab.»

«Sonst noch etwas?», fragte Nava. Ihre Gedanken rasten. Das Mädchen mochte nur Pech mit ihrem Friseur gehabt haben, aber Nava vermutete einen anderen Grund für ihre plötzliche Vorliebe für Kopfbedeckungen.

«Sonst nichts, nur das Gereime.»

Nava erstarrte. Tversky hatte notiert, dass Testperson Alpha erste Anzeichen von Schizophrenie erkennen lasse, darunter auch chaotische Sprachmuster – zumal Reime.

«Was meinen Sie damit?»

«In letzter Zeit sagt sie immer so Sachen wie: ‹Hey, ich hol mir mal was zum Mittagessen-pressen-fressen-tressen.› Völlig abgedreht.»

Nava gab sich uninteressiert, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie wollte nicht, dass Elliot in Erinnerung behielt, dass sie sich besonders für das Mädchen interessiert hatte, das Nava noch am gleichen Tag verschwinden lassen würde.

«Ich werde sie überprüfen, auch wenn sie wahrscheinlich nicht die ist, die ich suche», sagte Nava. «Wie heißt sie nochmal?»

 

Als Julia sich im Spiegel sah, zuckte sie zusammen – weil es ihr einen Schreck einjagte, dass eine abscheuliche Fremde in ihr Badezimmer eingedrungen war.

Das bin nur ich. So sehe ich jetzt aus. Weißt du nicht mehr?

Sie biss sich auf die bibbernden Lippen. Julia war zwar nie eitel gewesen, hatte aber stets ihr Haar, so mattbraun und widerspenstig es auch war, für das Schönste an sich gehalten. Jetzt war nichts mehr davon übrig. Sie fuhr sich mit der Hand über die kahle Kopfhaut, die übersät war mit braunen Stoppeln.

Sie sah die acht dunkelblauen Kreise, die Petey ihr auf den Kopf gezeichnet hatte, um zu markieren, wo er die Elektroden ansetzte. Im Zentrum jedes Kreises war ein kleiner roter Einstich. Sie berührte eine dieser Stellen und zuckte zusammen. Sie war noch wund von der vergangenen Nacht. Julia schniefte laut, gab sich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Die Stimme ihres Gewissens zeterte.

Wie konnte er dir das antun?

– Er macht nichts, was wir nicht beide wollen.

Soll das ein Scherz sein? Guck doch mal in den Spiegel! Wolltest du etwa, dass er dir den Kopf kahl schert? Wolltest du, dass er dich aussehen lässt wie Malen nach Zahlen?

– Hör auf. Er liebt mich, und ich liebe ihn, und außerdem sind wir ganz bald fertig damit –

Fertig bist hier bloß du. Du kommst noch um dabei. Die ganzen Medikamente haben deinen Kreislauf schon so durcheinander gebracht, dass du den halben Tag schläfst. Du isst kaum noch was, du bist richtig abgemagert. Hör auf damit, sonst ist es bald zu spät. Ich flehe dich an –

– NEIN. Endlich habe ich jemanden, und ich bin glücklich. Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Julia schloss die Augen und schob die Selbstzweifel beiseite. Sie sagte sich immer wieder: Er liebt mich. Er liebt mich. Er liebt mich.

Als sie sich ein wenig gefangen hatte, öffnete sie die Augen und setzte ihre Perücke auf. Sie sah nicht genauso aus wie ihr ursprüngliches Haar, aber durchaus so ähnlich. Sie trug sie schon seit zwei Wochen, und bisher hatte es niemand bemerkt. Und außer Petey sah sowieso kaum jemand sie richtig an.

Als Julia ihre Wohnung verließ und dann hastig die Straße überquerte, kam sie an einer großen Brünetten vorbei, die eine Zigarette rauchte. Widerlich. Sie hatte Raucher noch nie verstanden, zumal so schöne Frauen. Warum sie auf ihrem selbstzerstörerischen Verhalten beharrten, war ihr ein Rätsel. Sie sah auf ihre Armbanduhr – 14.19 Uhr. Sie musste laufen, wenn sie rechtzeitig im Labor sein wollte.

Petey mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ.

 

Nava rauchte ihre Zigarette auf und trat sie dann unterm Stiefel aus. Sie beschloss, Julia Pearlman einen halben Block Vorsprung zu lassen, ehe sie ihr folgte. Nava machte sich keine Sorgen, entdeckt zu werden – die junge Frau wirkte viel zu erschöpft, um groß auf ihre Umgebung zu achten. Und außerdem hatte Nava nicht vor, sie lange zu beschatten. Sobald sich die Gelegenheit bot, würde Nava sich die Frau schnappen.

Sie folgte Julia ein gutes Stück und sah dann zu, wie sie auf der anderen Straßenseite das zehngeschossige Gebäude betrat, in dem Tverskys Labor untergebracht war. Nachdem sie sich bei einem Sicherheitsbeamten ausgewiesen hatte, verschwand Julia außer Sicht. Nava wartete ein paar Minuten lang und betrat dann ebenfalls das Gebäude. Sie schlenderte zu dem Sicherheitsbeamten und setzte dabei ein kokettes Lächeln auf.

«Entschuldigen Sie, ich war hier vor zwanzig Minuten mit einer Freundin verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Gibt es in diesem Gebäude noch einen anderen Ausgang?»

«Nein, Ma’am», antwortete der Sicherheitsbeamte und versuchte, den Bauch einzuziehen. «Von den Notausgängen mal abgesehen, müssen alle an mir vorbei.»

«Danke», sagte Nava. «Dann muss ich sie wohl verpasst haben.»

Nava ging durch die Drehtür wieder hinaus, überquerte die Straße und kaufte sich an einem Kiosk eine Schachtel Parliament. Sie behielt das Gebäude im Blick und zog sich eine Zigarette heraus. Als das Nikotin in ihren Blutkreislauf strömte, ließ sie die Gedanken schweifen. Sie wusste, sie würde lange warten müssen, aber das machte Nava nichts aus. Sie hatte Testperson Alpha gefunden.

Letzte Zweifel waren verflogen, als Nava die billige Perücke unter Julias Baseballkappe sah. Das passte ins Bild. Wenn Tversky kontinuierlich Julias Gehirnströme maß, würde er die Elektroden immer an den gleichen Stellen ansetzen wollen. Und dazu rasierte man ihr am besten eine Glatze.

Wenn Julia das Labor verließ, würde Nava ihr folgen, sie zwingen, in den Lieferwagen einzusteigen, den sie ein Stück die Straße runter abgestellt hatte, und sie zusammen mit der CD, die Tverskys ungekürzte Forschungsunterlagen enthielt, der RDEI übergeben. Dann würde Nava den nächsten Flieger nach São Paulo nehmen, ihre Identität wechseln, von dort weiterfliegen nach Buenos Aires und verschwinden. Es war ganz einfach.

Sie musste lediglich abwarten, bis Julia wieder aus dem Gebäude kam. Anschließend würde sich alles von allein regeln.

 

Caine tat vor sich selbst so, als würde er nur zu einem Spaziergang aufbrechen, wusste aber, dass das nicht stimmte. Bei Sonnenuntergang fand er sich in der Mott Street wieder, gegenüber von Wong’s Szechwan Palace und sah zu der blinkenden Neonreklame des Restaurants hoch, die einen Berg gelbe Nudeln in einer riesigen roten Schale zeigte. Er betastete seine Brieftasche, die alles enthielt, was er besaß. Er konnte es. Er wusste, dass er es konnte. Wenn er nur langsam spielte und tief durchatmete, sobald er das Gefühl bekam, dass er gleich umkippen würde, konnte er gewinnen.

Das hatte er sich natürlich auch gesagt, bevor er zu Nikolaev gegangen war und elf Riesen verloren hatte. Aber das war etwas anderes gewesen. Ein einmaliges, äußerst unwahrscheinliches Ereignis. Ein Mordspech, das darauf hindeutete, dass ihm eine Glückssträhne ins Haus stand. Regression zum Mittelwert, ganz einfach. Er atmete tief durch.

Caine wollte nicht spielen, hatte aber keine andere Wahl. In sechs Tagen musste er Nikolaev weitere zweitausend Dollar zahlen, und das bisschen Geld, das Caine besaß, würde nicht reichen, um Kozlov davon abzuhalten, ihn krankenhausreif zu schlagen. Wenn er in den nächsten sechs Tagen nur jeweils 267 Dollar gewann, konnte er die nächste Rate bezahlen, und es blieben ihm noch vierzig Dollar fürs Essen. Caine hatte schon viel größere Glückssträhnen erlebt. Als er noch spielsüchtig gewesen war, hatte er einmal bei einem Marathon-Pokerturnier, das sechsunddreißig Stunden andauerte, über dreitausend Dollar gewonnen.

Als er noch spielsüchtig war.

Witzig. Als ob er jetzt nicht mehr spielsüchtig wäre. Ja. Außer seinem Vertrauensmann bei den Anonymen Spielern konnte er niemandem etwas vormachen. Und auch sich selbst machte Caine nichts mehr vor. Dank Nikolaev hatte er endlich seine Lektion gelernt. Er würde aussteigen, gleich danach. Wenn er nur klug spielte, würde alles gut werden.

Sobald er seine Schulden abbezahlt hatte, würde er das Spielen endgültig drangeben. Wenn nötig, würde er fünfmal am Tag zu den Treffen der Anonymen Spieler gehen. Caine nickte zu diesem Plan. Nervös, aber auch selbstsicher ging er über die Straße und betrat das Restaurant. Die Bedienung am Tresen sah kaum hoch, als er vorbeirauschte. Caine durchquerte die Küche, in der es laut herging, und betrat das Hinterzimmer.

Auch wenn der Club ziemlich unscheinbar wirkte, wusste Caine, dass Billy Wong’s einer der sichersten Orte der Stadt war. Jedermann wusste, dass Billys Bruder Jian Wong war, der Chef der Ghost Shadows, der größten und brutalsten chinesischen Gang von New York. Gemeinsam mit den Flying Dragons kontrollierten die Ghost Shadows alles in Chinatown, von Drogen und Prostitution bis hin zu Glücksspiel und Kreditgeschäften. Ja, hier war Caine absolut sicher.

«Lange nicht gesehen!», rief Billy Wong, als er Caine jenseits der mit Stahl verstärkten Tür entdeckte. Trotz seines chinesischen Erbes sprach Billy mit waschechtem Brooklyn-Akzent. «Hereinspaziert!», sagte er und legte Caine einen Arm um die Schulter.

«Schön, Sie zu sehen, Billy», sagte Caine und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass er tatsächlich so empfand.

«Haben Sie Bargeld dabei?», fragte Billy ganz nebenbei, als erkundigte er sich nach der Uhrzeit.

«Billy, Sie kennen mich doch», erwiderte Caine.

«Ja – und ich kenne Vitaly Nikolaev. Es heißt, Sie schulden ihm zwanzig Riesen.»

«Es sind nur noch zwölf, inklusive Zinsen, und ich werde es pünktlich zurückzahlen.»

«Natürlich werden Sie das», sagte Billy mit funkelndem Blick. «Aber ich sage Ihnen gleich, dass ich Ihnen keinen Kredit geben kann. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich.»

Caine nickte. Der Ernst seiner Lage bedrückte ihn. Billy und Nikolaev konnten sich nicht leiden, ja, verachteten einander unverhohlen. Wenn Billy wusste, dass Caine bei Nikolaev in der Kreide stand, wusste es also die ganze Stadt. Er musste sich ausschließlich mit eigenem Geld wieder ins Plus zocken.

«Heute ist mein Glückstag, Billy. Ich brauche keinen Kredit.»

Billy warf den Kopf zurück und lachte. «Natürlich nicht!» Er klopfte Caine auf den Rücken. «Was darf ich Ihnen denn an Chips geben?»

Caine zog das Geldbündel hervor – 438 Dollar. Er behielt davon nur zwanzig Dollar zurück – genug für ein paar Drinks im Cedar’s, falls es nicht so gut lief. Billy übergab Caine seine Chips und führte ihn dann an den Tisch, ging sogar so weit, ihm einen Stuhl hervorzuziehen.

Als Caine sich setzte, sahen die übrigen Spieler erwartungsvoll hoch. Sie hofften, das cherubinische Gesicht eines reichen Wallstreettypen mit dicker Brieftasche zu erblicken, der neu in der Szene war. Als sie Caine sahen, waren sie enttäuscht. Zwar kannten die meisten ihn nicht, aber ein Blick auf seine Augenringe und sein völlig erschöpftes Gesicht verriet ihnen alles, was sie wissen mussten: Er war kein Anfänger; er war einer von ihnen. Vielleicht war er gut, vielleicht auch nicht, aber er war keine leichte Beute.

Die Männer nickten Caine flüchtig zu und widmeten sich dann wieder ihren Karten. Caine sah bei der Partie zu, die gerade gespielt wurde, und hoffte, etwas über die einzelnen Spieler zu erfahren, ehe er einstieg. Der Pott ging an einen vogelgesichtigen Mann in der Ecke, der gleich zu Anfang hoch setzte und dann nach dem Flop alle anderen zum Passen brachte. Mit schiefem Lächeln zog er die Chips zu sich herüber und zeigte dabei überflüssigerweise allen seine zwei Damen.

Danach urteilend, wie schnell die anderen ausstiegen, wenn das Vogelgesicht den Einsatz erhöhte, schätzte Caine ihn als Angeber ein, der nur dabeiblieb, wenn er etwas wirklich Gutes auf der Hand hatte. Jetzt musste Caine nur noch herausbekommen, wie die anderen drauf waren, selbst gute Karten bekommen, cool spielen und gewinnen. Sobald er 267 Dollar zusammen hatte, würde er aufhören. Er würde sich zu nichts hinreißen lassen, würde sein Glück nicht auf die Probe stellen – er würde einfach nur aufstehen und gehen.

Das war doch ein Klacks.