Kapitel // 18 //

«Es geschah bei einem Flugzeugunglück», sagte Nava. Sie erinnerte sich an die Nacht, als wäre es gestern gewesen. «Eigentlich wollte unsere ganze Familie verreisen. Es sollte mein erster Flug werden, doch in der Woche davor hatte ich einen Albtraum … und deshalb weigerte ich mich mitzukommen.

Mein Vater blieb mit mir zu Hause, aber meine Mutter und meine Schwester sind geflogen.» Nava hielt inne. «Sie sind nicht mehr zurückgekommen.»

«Das tut mir Leid», sagte Caine. Nava nickte und nahm schweigend seine Beileidsbekundung entgegen. Sie war überrascht, wie sehr es selbst nach all diesen Jahren schmerzte, darüber zu sprechen. In gewisser Weise tat es jedoch gut, es sich von der Seele zu reden, selbst einem Fremden gegenüber. Es war ihre erste zwischenmenschliche Begegnung seit Jahren, die nicht auf Lügen basierte.

«Der erste Monat war wie ein böser Traum. Jeden Tag hoffte ich von neuem, dass meine Mutter in der Küche war, wenn ich nach Hause kam, aber …», sie hielt inne, weil ihr die Stimme versagte, «es war jeden Tag das Gleiche. Sie war fort … und ich war immer noch allein.»

«Aber Ihr Vater …»

«In gewisser Weise starb auch mein Vater an jenem Tag», sagte sie bitter. «Nach dem Unglück war er nicht mehr derselbe. Es war, als würde man mit einem Geist zusammenleben.»

Nava erinnerte sich an dieses erste Jahr, als sie noch Tanja hieß und allein mit ihrem Vater zusammenlebte. Er verzieh sich nie, dass er seine Frau und Tochter hatte weggehen lassen. Aber statt sich selbst gab er Tanja die Schuld. Und so hatte Tanja nicht nur ihre Mutter und ihre Schwester verloren, als die Bombe der Terroristen das Flugzeug in die Luft sprengte, sondern auch ihren Vater.

Jede Nacht fragte sie Gott, warum Er sie fortgenommen hatte, und weinte. Sie weinte, weil sie fort waren, weil ihr Vater sie nicht mehr in den Arm nahm und weil ihre Mutter nie wieder die Ungeheuer wegküssen würde. Vor allem aber weinte sie, weil sie insgeheim, im Grunde ihres Herzens froh war, dass es die beiden getroffen hatte und nicht sie. Und diesen Gedanken konnte sie sich niemals verzeihen.

«Ah!», entfuhr es Caine mit zusammengebissenen Zähnen.

«Entschuldigung», sagte Nava. Sie war so in Gedanken verloren gewesen, dass sie unabsichtlich gegen sein Knie gestoßen war. Sie wischte sich die Augen. «Wollen Sie das wirklich alles hören?»

«Ja», sagte Caine mit nachsichtigem Blick. «Ich glaube, es ist wichtig.»

Nava nickte. Er hatte Recht. Sie fuhr mit ihrer Geschichte fort.

«Ich war wütend. Ich war zwölf Jahre alt und suchte jemanden, dem ich die Schuld geben konnte. Eines Nachts hörte ich dann, wie mein Vater mit einem der Parteiführer telefonierte. Da erfuhr ich, dass afghanische Terroristen für den Flugzeugabsturz verantwortlich waren.

Am nächsten Tag fuhr ich mit einem Bus nach Moskau und marschierte den Lubjanka-Platz hinunter, um den KGB aufzusuchen.» Trotz ihrer Verbitterung musste Nava leicht lächeln, als sie an Tanja dachte – das ängstliche kleine Mädchen, das Terroristen töten wollte. Sie fragte sich, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn sie ihren Vater nicht belauscht hätte. Wahrscheinlich hätte sie dann nie den Mann getroffen, der ihr zweiter Vater wurde: Sein Name war Dimitri Saitzew, und er brachte ihr in den nächsten Jahren allerhand bei. Unter anderem, wie man tötete.

 

Eines Tages, wenige Wochen nachdem sie an der Lubjanka abgewiesen worden war und gerade nach Hause ging, packte ein kräftiger Arm Tanja plötzlich um die Brust, ein anderer um den Hals. Sie wurde wild, trat und kratzte mit der Heftigkeit eines in die Enge getriebenen Berglöwen. Die Arme drückten fester zu.

Sie wusste nicht, dass Dimitri sie schon von diesem ersten Moment an testete, um zu erfahren, ob sich Tanjas Mut in Luft auflöste, wenn sie mit dem Tod konfrontiert wurde. Doch sie schreckte vor dem Angriff nicht zurück, sie kämpfte härter denn je, warf immer wieder ihren Kopf gegen die Brust des unsichtbaren Mannes, bis er alles um sie her dunkel werden ließ.

Als sie erwachte, war ihr linkes Handgelenk mit Handschellen an einen hölzernen Bettpfosten gefesselt. Sie befand sich in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Nähe des Kremls. Kaum hatte sie ihre Umgebung wahrgenommen, sprang sie vom Bett und kugelte sich dabei fast den Arm aus. Sofort versuchte sie, die Handschellen zu lösen, aber es war zwecklos. Der Mann gab ihr ein paar Minuten, um sich über die Ausweglosigkeit ihrer Situation klar zu werden, bevor er sprach.

«Entspann dich.»

Tanja wirbelte herum, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr Gesicht war eine Maske des Hasses. Sie holte tief Luft und spuckte. Ihr Speichel landete auf seiner Schulter.

Er schaute darauf hinab, sah dann wieder Tanja an und lächelte. «Gut gezielt.»

Tanja sagte nichts, lockerte aber ihren angespannten Kiefer ein wenig.

«Mein Name ist Dimitri. Wie ist deiner?»

Tanja funkelte ihn zornig an.

«Lass mich dir helfen. Dein Name ist Tanja Aleksandrova. Deine Mutter und deine Schwester kamen vor drei Monaten ums Leben, als eine Bombe afghanischer Rebellen ihr Flugzeug in die Luft sprengte.» Das Blut wich aus Tanjas Gesicht. «Ich bin vom KGB – ich bekämpfe solche Terroristen. Ein Freund erzählte mir, du willst auch kämpfen. Stimmt das?»

Tanja starrte ihn an und suchte seine kalten Augen. Dann nickte sie langsam.

«Gut. Wenn du helfen willst, musst du versprechen, alles zu tun, was ich dir sage.»

«Kommt darauf an, was Sie von mir wollen.»

«Sehr gut», brummte Dimitri. «Wenn du jetzt ohne Einschränkung zugestimmt hättest, hätte ich gewusst, dass du eine Idiotin oder eine Lügnerin bist. Freut mich, dass weder das eine noch das andere der Fall ist.»

«Mich würde freuen, wenn Sie mich frei ließen», entgegnete sie und rüttelte an den Handschellen.

«Wenn ich das tue, wirst du mir dann zuhören?»

Sie nickte.

Dimitri ging zum Bett und achtete darauf, dass sie ihn nicht treten konnte. Er schloss die Handschellen auf. Tanja riss ihren Arm weg und massierte ihr rotes, geschwollenes Handgelenk.

«Das ist deine erste Lektion: Achte immer darauf, dass die Handschellen fest sitzen, sonst könnte dein Gefangener entschlüpfen.»

Tanja sagte kein Wort, aber sie lief auch nicht davon. Sie war neugierig.

«Und jetzt Lektion Nummer zwei.» Dimitri beugte sich vor, zog mit einer Hand behutsam eine Nadel aus ihrem Haar und schnappte mit der anderen die Handschellen wieder zu.

«Hey!», rief Tanja. «Sie haben versprochen, mich freizulassen!»

«Und du hast versprochen, mir zuzuhören», entgegnete Dimitri und hielt ihr die Haarnadel vors Gesicht. «Lektion Nummer zwei: Wie man ein Schloss knackt.» In den nächsten zehn Minuten erklärte Dimitri ihr den Aufbau eines Schlosses und zeigte ihr, wie man selbst eine einfache Haarnadel als Schlüssel benutzen konnte.

Nachdem er seine Vorführung beendet hatte, gab er Tanja die Haarnadel zurück. Sofort machte sie sich ans Werk. Sie benötigte zwar mehrere Versuche, aber schließlich hörte sie ein Klicken, und die Handschellen fielen auf den Boden. Sie schaute strahlend auf, seit Monaten ihr erstes Lächeln.

«Sehr gut, Tanja. Jetzt erzähl mir von deinem Vater», befahl Dimitri.

«Sein Name ist Igor …»

Dimitris flache Hand traf Tanja so hart, dass sie vom Bett fiel.

«Lektion Nummer drei: Erzähle niemals irgendjemandem etwas von dir.» Dimitri hob eine Augenbraue. «Jedenfalls nichts Wahres.»

Tanja stand langsam auf, rieb sich die Wange, die rot anlief.

«Das sind genug Lektionen für heute. Wenn du mehr lernen willst, dann triff mich morgen nach der Schule in der Gasse. Wenn nicht, vergiss, was gerade geschehen ist. Wie auch immer du dich entscheidest, erzähle niemandem davon, was heute passiert ist, besonders Igor nicht.» Dimitri sah sie spöttisch an. «Es sei denn, du willst mehr als einen Klaps ins Gesicht.»

 

«Halten Sie das», sagte Nava, als sie eine Aderpresse um Caines Oberschenkel band. Er verzog das Gesicht, tat aber, was sie sagte. Sie wusste, wie sehr es wehtat, und war beeindruckt, wie viel Schmerz er ertrug.

«Erzählen Sie weiter», bat er. Schweiß tropfte von seiner Stirn. «Lenken Sie mich ab.»

«In Ordnung», sagte Nava und erinnerte sich an die Monate, die auf ihre erste Begegnung mit Dimitri folgten. «Wir trafen uns jeden Tag nach der Schule in der Gasse. Wir gingen immer durch die Straßen von Kitai Gorod, und Dimitri unterrichtete mich in russischer Geschichte. Ob er mir erzählte, wie Peter der Große während des Nordkrieges Estland eroberte, oder ob er von Lenins sozialistischer Revolution oder über moderne marxistische Philosophie sprach, ich konnte nicht genug kriegen. Wenn ich jetzt zurückblicke, ist mir klar, dass er mich mit Parteipropaganda indoktrinierte. Doch damals … tja, damals glaubte ich jedes Wort. Er war wie ein Vater und ein Lehrer in einem, und ich war seine eifrigste Schülerin.

Schließlich brachte er mir das Spionieren bei. Er begann zunächst langsam und fragte mich über die Leute aus, die uns auf unseren Spaziergängen begegneten. Welche Farbe hatte das Kleid der dicken Frau? Wie viele Kinder hatte sie? Was verkaufte der Händler mit dem Schnurrbart von seinem Karren? Ich war ein Naturtalent und lernte schnell, die Welt um mich herum aufzunehmen. Dimitri war beeindruckt, und schon ein halbes Jahr später schickte er mich in Kneipen, um Parteimitglieder zu belauschen, die der KGB der Illoyalität verdächtigte.

Nachdem Dimitri entschied, ich sei ‹begabt›, ließ er mich auch von anderen ausbilden. Ich lernte zu stehlen.»

Nava musste die Aderpresse neu binden, und Caine keuchte plötzlich heftig auf, fasste sich aber schnell wieder und biss die Zähne zusammen. «Hören Sie nicht auf», sagte er. «Ich will mehr hören.»

Nava nickte und behandelte sein Knie weiter, während sie ihre Geschichte fortsetzte.

«Mein Lehrer hieß Fiodor.» Nava erinnerte sich an den dunklen, kleinen Mann mit den buschigen Augenbrauen. Er redete nicht viel, und im ersten Moment wirkte er völlig unscheinbar. Er war der Typ Mann, den man bereits in dem Augenblick vergessen hatte, in dem man ihn zum ersten Mal sah. Es war seine angeborene Fähigkeit, nirgendwo aufzufallen, die ihn von anderen Männern unterschied. An Fiodor vorbeizugehen war so unvergesslich, wie an einer Backsteinmauer vorbeizugehen. Nur dass man von einer Backsteinmauer nicht im Vorbeigehen ausgeraubt wurde.

Am späten Nachmittag, wenn die Moskauer von ihrer Arbeit heimkehrten, mischten sich Fiodor und Tanja unter die Passanten. Am Ende des Tages verzogen sich die beiden immer in eine Gasse, und Fiodor öffnete seine Tasche und enthüllte die Früchte seiner Arbeit: Brieftaschen, Ringe, Uhren, Geldscheine und jeder beliebige andere Gegenstand, den er beim Spaziergang mit seiner Lieblingsschülerin geklaut hatte. Mit der Zeit brachte er Tanja seine Fertigkeiten bei.

«Aber warum hat er Ihnen beigebracht zu stehlen?», fragte Caine.

«Fiodor sagte, die wichtigste Fähigkeit eines Spions sei die, Dinge zu bekommen, die man eigentlich nicht bekommen sollte. Ein Spion ist im Grunde nichts anderes als ein Dieb. Es dreht sich alles ums Stehlen. Doch während ein Dieb Juwelen stiehlt, stiehlt ein Spion Geheimnisse.

Deshalb brachte mir Fiodor bei, eine Meisterdiebin zu werden. Zuerst lehrte er mich, wie man Geldbörsen stiehlt. Dann, wie man Schlösser knackt. Vorhängeschlösser, Riegelschlösser, Kombinationsschlösser, Autoschlösser – alle erdenklichen Schlösser halt. Es gab kein Schloss, das Fiodor nicht in weniger als zwanzig Sekunden öffnen konnte. Ich war nicht so geschickt, aber nach ein paar Wochen konnte ich die meisten Schlösser in ein oder zwei Minuten knacken.

Als ich vierzehn wurde, beschloss Dimitri, dass ich eine richtige KGB-Ausbildung absolvieren sollte. Zu der Zeit sprachen mein Vater und ich kaum noch miteinander, und als ich ihm sagte, dass ich fortgehen würde, war er glaube ich dankbar. Mich in der Nähe zu haben erinnerte ihn nur an das Unglück. Ohne mich konnte er so tun, als hätte er nie eine Familie gehabt.»

Nava hielt inne. Caine, der ihre Traurigkeit spürte, ermutigte sie weiterzuerzählen. «Sie gingen also auf die Spionageschule?»

«Ja», sagte Nava mit dem Anflug eines Lachens. «Ich ging auf die ‹Spionageschule›. Sie wurde das Spezinstitute genannt. Gemeinsam mit zehn anderen begabten Kindern nahm ich an einem Pilotprogramm teil. Ich hatte acht Stunden Unterricht pro Tag, sieben Tage die Woche. Zuerst lernten wir Sprachen. Obwohl sie jedem Englisch beibrachten, entschied die Partei, dass ich wegen meiner dunklen Hautfarbe außerdem Hebräisch und Farsi lernen sollte, damit ich im Nahen und Mittleren Osten eingesetzt werden konnte.

Ich bekam außerdem Unterricht in technischen Fächern, Politik, Geschichte, Kommunismus, Soziologie und Anthropologie. Nach dem Unterricht musste ich vier Stunden zu meiner Kampflehrerin, die mir Systema beibrachte, eine russische Kampfkunst.»

Nach dem Training aß Tanja zu Abend und humpelte zurück in ihr Zimmer, übel zugerichtet und mit blauen Flecken übersät, wo sie drei Stunden lang Hausaufgaben machte, bevor sie für die sieben Stunden Nachtruhe zusammenklappte und am Morgen alles wieder von vorn begann. In den ersten Wochen wachte Tanja jedes Mal geistig und körperlich erschöpft auf, doch da es nie eine Ruhepause gab, konnte sie nur weitermachen. Der Unterricht war schwer, aber das war nichts, verglichen mit ihren Kampfstunden.

Nava lächelte, als sie sich an Raissa erinnerte – die klassische Schönheit mit weißer Porzellanhaut und langem, pechschwarzem Haar. Obwohl sie nur 55 Kilo wog, war Raissa gewöhnt, mit tödlicher Präzision gegen Männer zu kämpfen, die viel größer als sie und mehr als doppelt so schwer waren.

Raissa gehörte zu der russischen Spezialeinheit Speznaz. Monatelang übte Tanja Boxschläge, Tritte, Würge- und Haltegriffe. Je mehr Techniken sie meisterte, desto härter nahm Raissa sie ran. Kaum hatte Tanja gelernt, sich gegen einen einzelnen Gegner zu verteidigen, zwang Raissa sie, es mit zwei oder drei Angreifern gleichzeitig aufzunehmen.

Ihr Training war erbarmungslos, und Tanja war gezwungen, ihren eigenen Kampfstil zu entwickeln und sich unberechenbar zu bewegen, um andauernde Angriffe aus jeder denkbaren Position abzuwehren. Sobald sich Tanja im Kampf Mann gegen Mann sicher fühlte, ging Raissa über zum bewaffneten Kampf.

Dabei begegnete Tanja zum ersten Mal dem Kampfmittel, das später zu ihrer Lieblingswaffe wurde: ein kurzer Kindjal-Krummdolch aus Dagestan. Raissa brachte Tanja bei, die Achillessehne eines Mannes zu durchtrennen, damit er nicht mehr laufen konnte. Sie zeigte ihr, wohin man stechen musste, um sein Rückgrat zu durchtrennen, und natürlich, wie man von unten in die Hoden stieß und das Messer drehte, um ihn vollständig außer Gefecht zu setzen.

«Sobald ich Systema gelernt hatte und mich mit einem Dolch behaupten konnte, schickten sie mich in den Schießstand.»

 

Michail, ihr schlaksiger Waffenausbilder, bestand darauf, dass sie die Mechanik jeder Waffengattung und ihre technischen Grundlagen genau verstand, bevor sie einen Schuss abgab. Er brachte ihr den Unterschied zwischen einer Automatik (die mit einem Magazin oder Clip geladen wurde) und einem Revolver bei (dessen Patronen einzeln geladen wurden). Sie lernte, dass man den Hahn eines Revolvers mit Single-Action-Abzug manuell spannen musste, bevor man ihn abfeuerte, während ein Double-Action-Revolver dies automatisch tat. Sie erfuhr, dass es sich beim Kaliber einer Waffe einfach um den Durchmesser ihrer Munition handelte, dass ein Revolver Kaliber .38 Patronen mit einem Durchmesser von 0,38 Zoll hatte. Darüber hinaus lernte sie, dass Patronen größeren Kalibers langsamer flogen, aber mehr Schaden anrichteten.

Sie prägte sich die Vorteile einer halb automatischen 9-Millimeter-Pistole – Hochgeschwindigkeitskugeln, relativ leiser Schuss, nahezu perfekte Treffgenauigkeit, geringer Rückstoß und ein großes Magazin – genauso wie ihre Schwächen ein – geringe Durchschlagskraft und dadurch nur wenig blutende Eintrittswunden, höhere Blockieranfälligkeit.

Tanja lernte die drei Möglichkeiten, mit denen eine Kugel einen Menschen zur Strecke bringen konnte: Blutverlust, Schädeltrauma oder Durchdringen eines lebenswichtigen Organs wie Herz oder Lunge. Dies führte zu weiteren Lektionen, wie zum Beispiel der, dass sie auf den Kopf zielen musste, wenn sie einen Mann mit einer Waffe Kaliber .22 töten wollte, weil eine Kugel kleineren Kalibers nur genug Durchschlagskraft besaß, um in den Schädel einzudringen, nicht aber, um auszutreten, sodass die Kugel, einmal im Inneren, herumsprang und das Gehirn des Opfers pürierte. Benutzte man allerdings eine Waffe Kaliber .45, war ein Schuss in den Oberkörper tödlich, da eine 45er Kugel stark genug war, ein menschliches Organ aus der fünfzehn Zentimeter großen Austrittswunde zu pusten, die sie in den Rücken riss.

Sie lernte, dass Hohlspitzgeschosse eine abgeplattete Spitze hatten, damit sie Organe beim Eintritt in den Körper zerfetzen konnten, und dass es sich bei einer Glaser-Sicherheitspatrone einfach um eine mit flüssigem Teflon und einer Bleikugel gefüllte und mit einer Plastikkappe verschlossene Kupferhülse handelte. Beim Einschlag zerfiel die Kappe, wodurch die Energieübertragung auf die Inhalte maximiert wurde. Das Teflon und die Bleikugel schwirrten dann aus, die Wahrscheinlichkeit, eine Hauptschlagader zu treffen, nahm zu. Das bedeutete zudem, dass das Projektil nicht abprallte oder aus dem Körper austrat, was sie zu einer «sicheren» Sache für jeden außer dem Ziel machte.

Schließlich erklärte Michail ihr die verschiedenen Modelle. Die österreichische Glock, die deutsche Heckler & Koch, die schweizerische Sig-Sauer, die amerikanischen Pistolen – Smith & Wesson, Colt, Browning – die italienische Beretta und natürlich die russischen Gyurza und Tokarev.

Damals, nachdem sie mehr gelernt hatte, als sie jemals geglaubt hatte über Waffen wissen zu können, reichte ihr Michail einen altmodischen russischen Nagant-Revolver. Nachdem Tanja sorgfältig die 7.62-Millimeter-Patronen in die sieben Kammern des Zylinders geladen hatte, ging sie in Schussposition, zielte, spannte den Hahn und drückte ab. Der Rückstoß war so heftig, dass sie von den Füßen geworfen wurde und hart auf dem Rücken landete.

Es war das einzige Mal, dass sie Michail lachen sah. «Und das», sagte er, «ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.»

Zornig rappelte sich Tanja auf und feuerte einen weiteren Schuss ab. Sie fiel nie wieder hin.

Wie auch den übrigen Unterrichtsstoff lernte Tanja den Umgang mit Waffen äußerst schnell und meisterte Handfeuerwaffen jeden Kalibers, bevor sie zu anderen Gattungen überging. Zunächst gab es die Maschinenpistolen: Uzis, Browning M2HB und M60, nach deren Benutzung sich ihre Arme wie Gummi anfühlten. Danach kamen die Gewehre, wie das Baikal MP-131K und das Heckler & Koch CAWS, welches durch seinen kraftvollen Rückstoß einen blauen Fleck auf ihrer Schulter hinterließ. Schließlich brachte ihr Michail bei, wie man die Entfernung, die Windgeschwindigkeit und den Luftwiderstand berechnete, damit ihre Schüsse mit dem Scharfschützengewehr Dragunov immer ihr Ziel fanden.

Nava hielt inne. Sie hatte sein Bein fertig geschient. Caine war schweißgebadet.

«Das müsste gehen.» Sie begutachtete ihr Werk.

«Danke», sagte er.

Nava nickte, plötzlich schüchtern, und fragte sich, warum sie sich in Gegenwart dieses Mannes, den sie kaum kannte, so wohl fühlte.

«Und was passierte dann? Was hat man sich am Spezinstitute als Abschlussprüfung ausgedacht?»

«Ich musste einen Menschen töten», sagte Nava tonlos. «Er war ein Terrorist, ein afghanischer Rebell namens Khalid Myasi.»

«Und haben Sie es getan?»

«Ja», antwortete Nava. «Ich habe ihm zwei Kugeln in die Brust und eine in den Kopf gejagt, genau so, wie es mir beigebracht wurde.» Sie hatte es noch ganz deutlich vor Augen. Drei knappe Explosionen, als die einzelnen Kugeln aus der Mündung schossen. Myasis Todesschrei, abgewürgt durch das Blut, das seine Kehle emporquoll. Das dumpfe Gefühl, das sich in ihrer Brust breit machte, als sie über seinem leblosen Körper stand.

Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie war weder von Triumph erfüllt, noch war ihr Rachewunsch abgeklungen. Aber der KGB kümmerte sich nicht darum. Man hatte sie erfolgreich in eine Tötungsmaschine verwandelt, und nun wollte man die neue Waffe unbedingt benutzen.

Manchmal musste sie die Rolle eines Schulmädchens spielen, manchmal die einer jugendlichen Prostituierten. Vor allem wurde sie zur Überwachung eingesetzt, aber wenn die Situation es erforderte, bat man die siebzehnjährige Tanja zu töten. Und das tat sie.

 

Da Tanja fließend Hebräisch, Farsi und Englisch sprach, beschloss die Partei an ihrem achtzehnten Geburtstag, sie nach Tel Aviv zu schicken. Sie lebte dort fast ein Jahr, ehe Saitzew sie anwies, Moishe Drizen zu ermorden. Der Mossad-Agent mit der angenehmen Stimme war Tanjas erstes Mordopfer, dessen Tod sie hinterher in Frage stellte.

Bei allen anderen waren die Gründe offensichtlich gewesen. Sie waren Feinde der Partei und selbst Mörder gewesen. Aber Drizen war anders. Nach der vorbereitenden Überwachung war es für Tanja offensichtlich, dass er weder antirussisch noch proterroristisch eingestellt war. Im Gegenteil, er war sogar selbst im Antiterrorkampf aktiv.

Doch als Tanja Saitzew fragte, aus welchem Grund Drizen den Tod verdient hatte, lautete seine Antwort nur: «Stelle die Entscheidungen der Partei nicht in Frage.»

Und so tat Tanja, wozu sie ausgebildet worden war – sie schnitt Drizen in einer Seitengasse die Kehle durch. Damals hatte sie es nicht gewusst, doch das war ihre letzte Prüfung gewesen. Am nächsten Tag sagte Saitzew ihr, dass sie nun bereit für den verdeckten Einsatz in den Vereinigten Staaten sei.

Tanja wurde einem russischen Agentenpaar zugeteilt, das zwanzig Jahre zuvor von der Partei als Schläfer nach Amerika geschickt worden war. Sie tarnten sich als Israelis, die sich entschlossen hatten, in die Staaten zu ziehen. Kurz nach ihrer Ankunft brachte die Frau ein Mädchen zur Welt. Sie nannten es Nava.

Nava führte ein ganz normales Leben – bis zum 7. Mai 1987, als sie auf mysteriöse Weise verschwand. Denis und Tatjana Gromov – die mittlerweile Reuben und Leah Vaner hießen – waren außer sich. Aus Angst davor, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wenn sie die Polizei einschalteten, bat Denis Gromov seinen Agentenführer beim KGB um Hilfe. Saitzew sagte ihm, dass er alles in seiner Macht Stehende unternehmen würde, um das siebzehnjährige Mädchen zu finden. Aber könnten die beiden ihm in der Zwischenzeit einen Gefallen tun?

Aus Sorge um die Sicherheit ihrer Tochter taten die Vaners, was Saitzew von ihnen verlangte. Sie zogen aus ihrer kleinen Wohnung in Ohio in einen Vorort von Boston und ließen das Leben zurück, das sie sich aufgebaut hatten. Einen Monat später erfuhren sie, dass ihre Tochter in Russland in Sicherheit war und dass sie in Sicherheit bliebe, wenn sie Tanja «adoptierten». Am nächsten Tag kam Tanja bei den Vaners an. Das war der Moment, in dem Tanja Kristina Aleksandrova aufhörte zu existieren und eine neue Nava Vaner geboren wurde.

Die Vaners erfüllten ihren Teil der Abmachung, nahmen ihre Adoptivtochter bei sich auf und brachten ihr bei, eine Amerikanerin zu sein. Nach den Sommerferien ging die neue Nava zur Highschool. Als es so weit war, sich an einem College zu bewerben, schlug sich Nava ausgezeichnet und wurde von sechs Universitäten im ganzen Land angenommen. Saitzew hielt es für das Beste, dass sie an der University of Southern California studierte, da diese Uni die «amerikanischste» sei. Vier Jahre später schloss sie ihr Studium in Arabisch und Russisch als Nebenfach mit Magna cum laude ab.

Als die CIA ihre Bewerbung für den Außendienst erhielt, war man dort entzückt. Nachdem ihr gesamter sozialer Hintergrund durchleuchtet worden war, wozu auch Befragungen ihrer Highschool- und Collegefreunde sowie ihrer Eltern und Nachbarn gehörten, bot man ihr einen Platz im elitären Ausbildungsprogramm des Geheimdienstes an.

Nava war die perfekte Kandidatin.

In den nächsten beiden Jahren absolvierte Nava eine intensive Ausbildung. Während die anderen Rekruten mit all den Kampftechniken, der Waffenkunde und den fremden Kulturen große Mühe hatten, schaffte Nava das Programm spielend. Noch nie hatten ihre Ausbilder in Langley ein solches «Naturtalent» erlebt. Und so wurde sie zum zweiten Mal in ihrem Leben auserwählt, für ihr Land zu töten.

Doch zu dieser Zeit wusste Nava nicht mehr, welches Land das ihre war.

Obwohl sie in Mütterchen Russland aufgewachsen war, hatten die sechs Jahre in den Vereinigten Staaten Navas Augen in einem Maße für die westliche Kultur geöffnet, wie es ihr Unterricht am Spezinstitute nie vermocht hatte. Plötzlich war sich Nava nicht mehr so sicher, wo ihre Loyalitäten lagen. Sie merkte, dass sie den Antrieb verloren hatte, für Russland zu spionieren. Andererseits spürte sie auch kein großes Verlangen, es für Amerika zu tun.

Gerade mal einen Monat nachdem sie begonnen hatte, für die CIA als Antiterror-Agentin für den Nahen Osten zu arbeiten, geschah das Unvorstellbare: Acht altgediente Parteifunktionäre versuchten, die Regierungsgewalt der UdSSR an sich zu reißen. Jeden Tag las sie in der International Herald Tribune weitere Berichte darüber, wie Gorbatschows Vizepräsident Gennadi Janajew gemeinsam mit KGB-Direktor Vladimir Kruschkow, dem sowjetischen Premierminister Valentin Pawlow und Verteidigungsminister Dimitri Jasow die Kontrolle über die UdSSR übernommen hatte. Sie war schockiert.

Doch dann rebellierte das Volk. Angeführt von Boris Jelzin, eroberte es den Kreml zurück, und die «Bande der Acht», einschließlich Kruschkow, wurde verhaftet. Nava wusste, dass sich ihre Welt verändert hatte, als sie sah, wie die Statue Felix Dserschinskis, des Gründers der Geheimpolizei, vor dem Hauptquartier des KGB umstürzte. Sie sandte eine Nachricht an Saitzew und fragte, was sie tun sollte.

Vier Monate später erfuhr Nava durch Kanäle der CIA, dass Dimitri Saitzew, ihr Lehrer, ihr Mentor und ihr Adoptivvater tot war, gestorben durch eigene Hand. Ohne seinen geliebten KGB sah er keinen Sinn mehr im Leben. Nava war tief erschüttert, aber sie machte weiter.

Als niemand vom SVR – Russlands neu entstandenem Geheimdienst – sie bis zum ersten Jahrestag des fehlgeschlagenen Staatsstreichs kontaktierte, wurde Nava klar, dass sie «verschollen» war. Die wenigen Leute beim KGB, die ihre wahre Identität gekannt hatten, waren tot, und offizielle Berichte über ihren Status hatte es nie gegeben.

Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Nava tun, was sie wollte. Doch da sie nur zu töten gelernt hatte, blieb sie bei der CIA. In den nächsten fünf Jahren ermordete sie so viele Terroristen, dass sie aufhörte mitzuzählen. Und trotzdem schaffte sie es nie, das Schuldgefühl loszuwerden, weitergelebt zu haben, als ihre Mutter und ihre Schwester gestorben waren. Sie wusste, dass sie mit jedem Mann, den sie tötete, zahllose Leben rettete, doch diese Erkenntnis reichte nie aus, um ihre innere Leere zu füllen.

Trotzdem setzte sie ihren persönlichen Rachefeldzug fort. Und als die CIA an einem strahlenden Sommertag 1999 entschied, einen der Terroristen, den sie aufgespürt hatte, am Leben zu lassen, beschloss Nava, ihre Befehle zu ignorieren. Mit Unterstützung des Mossad exekutierte sie den Mann auf eigene Faust. Hinterher stellte sie überrascht fest, dass die israelische Regierung sie für eine Tat bezahlte, die sie gern auch gratis ausgeführt hätte.

Und so begann ein weiteres Kapitel ihrer Karriere: Sie verkaufte Geheimnisse und führte verdeckte Einsätze für jeden durch, der die Terroristen eliminieren wollte, die Amerika nicht selbst zu töten wünschte. Zuerst arbeitete sie ausschließlich für den Mossad, doch mit der Zeit erwarb sie in bestimmten Kreisen traurige Berühmtheit und wurde vom britischen MI6 und vom deutschen Bundesnachrichtendienst engagiert, um sich deren missliebiger Staatsbürger anzunehmen.

Nava erledigte ihre Aufträge zuverlässig und wurde großzügig dafür bezahlt. Doch nach weiteren fünf Jahren fühlte sie sich ausgebrannt. Sie beschloss, noch einen Auftrag zu erfüllen und dann an einen Ort zu verschwinden, an dem weder die CIA noch der SVR sie jemals finden konnten. Der Auftrag bestand darin, eine islamistische Terrorzelle zu finden, die die nordkoreanische RDEI zerstört wissen wollte.

Leider funktionierte das nicht so gut, wie sie geplant hatte.