Docs Lieblingsrestaurant hatte eine große Neonreklame über der Tür, die für die «weltberühmten Burger und Suppen» warb. Caine hatte das immer für eine seltsame Kombination gehalten. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Burger und Suppe gegessen zu haben, aber das Essen hier war wirklich gut. Während Doc ihm von den neusten Fachartikeln berichtete, versuchte Caine den Mut aufzubringen, seinen alten Professor um einen Job zu bitten. Aber er war nervös. Doc war irgendwie … anders als sonst. Er hatte die Kellnerin zusammengestaucht, als sie ihre Getränkebestellung durcheinander gebracht hatte, und das war eigentlich gar nicht seine Art.
Caine beschloss, dass ihm seine Phantasie nur Vorwände lieferte, und er wollte das Thema gerade ansprechen, als dummerweise ein Mann hereinkam und Doc erwartungsvoll ansah. Der winkte ihn sofort herüber. Der Mann war äußerlich das genaue Gegenteil von Doc, trug einen adretten Dreiteiler und eine dunkelrote Fliege. Caine erkannte ihn als Docs gelegentlichen Forschungspartner, konnte sich aber nicht an den Namen des Mannes erinnern.
«Sie erinnern sich doch noch an David, nicht wahr?», fragte Doc den Mann, ohne sich die Mühe zu machen, ihn Caine vorzustellen.
«Natürlich. Schön, Sie wieder zu sehen», sagte der Mann und schüttelte Caine mit schlaffem Griff die Hand, wobei er ihn anstarrte, als wäre Caine ein Tier in einem Zoogehege.
«Wo drückt denn der Schuh?», fragte Doc seinen Kollegen. «Sie sehen sauer aus.»
Der Mann mit der Fliege fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar und grummelte: «Ach, heute ist einfach ein Scheißtag. Ich habe mich gerade mit jemandem über Heisenberg gestritten. Davon habe ich Kopfschmerzen bekommen.»
«Erzählen Sie mir davon», sagte Doc, mit einem Mal nachdenklich. «Ich bin nie ein großer Fan von ihm gewesen. Sie, Rain Man?»
«Was?», fragte Caine, verdutzt darüber, dass Doc ihn ins Gespräch einbezog. «Ach, ich weiß nicht … Heisenberg habe ich nie richtig verstanden.»
«Tatsächlich nicht?», fragte Doc mit funkelndem Blick. «Was genau haben Sie denn nicht verstanden?»
Caine hätte sich treten können. Er hatte Docs unstillbare Lust, komplizierte Phänomene zu erklären, ganz vergessen. Im Laufe der Jahre hatte Caine viele Stunden damit verbracht, sich Docs ellenlange Vorträge anzuhören – vom Urknall bis zur Chaostheorie.
Caine sah Hilfe suchend zu dem Mann mit der Fliege hinüber, doch der hatte sich bereits in die Speisekarte vertieft und hörte nicht mehr hin. Schließlich sagte Caine: «Ich habe nie verstanden, warum die Physiker annehmen, dass Teilchen keine bestimmte Position haben, nur weil sie nicht rausfinden können, wo diese Position ist. Es ist ja nicht so, dass Teilchen gleichzeitig an zwei Orten sein können.
«Doch, in gewisser Weise ist das so», entgegnete Doc, froh, dass er das Gespräch auf ein Thema gelenkt hatte, bei dem er dozieren konnte. «Physiker haben das mit dem Doppelschlitzexperiment bewiesen.»
«Aha, interessant», sagte Caine. Er wusste, Doc war jetzt nicht mehr aufzuhalten, also konnte er bei der Gelegenheit auch gleich etwas lernen. «Was ist denn das Doppelschlitzexperiment?»
«Stellen Sie sich vor, Sie leiten einen Lichtstrahl durch einen Schlitz in einem Blatt Papier auf diesen Teller hier. Was würden Sie da sehen?»
Caine zuckte die Achseln. «Einen Lichtstreifen vermutlich.»
«Genau.» Doc zog eine dünne Ketchuplinie mitten über seinen leeren Teller. «Die Photonen, die durch den Schlitz dringen, treffen auf dem Teller auf und erzeugen einen geraden Lichtstreifen.» Er hielt inne und trank einen Schluck Wasser. «Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie leiten das Licht auf ein Blatt Papier, das zwei Schlitze hat. Was würden Sie dann sehen?»
«Zwei Lichtstreifen.»
«Falsch», sagte Doc. «Sie würden verschwommene Lichtstreifen und Schatten sehen, etwa so.» Doc zog, parallel zur ersten, eine zweite Ketchuplinie über den Teller und verwischte sie dann mit einer Fritte. «Wenn man sich das Licht als Welle vorstellt, ist dieses Ergebnis nicht erstaunlich, denn dann versteht man, dass es zwischen den einzelnen Lichtstrahlen auf dem Weg vom Papier zum Teller zu Interferenzen kommt, die dieses verschwommene Muster erzeugen.
Und auch wenn man sich Licht als das vorstellt, was es ist – als eine Abfolge von Teilchen –, kann man dieses Muster erklären, da jedes Photon eine eigene Frequenz hat. Wenn sie interferieren, entsteht ebenfalls das verschwommene Muster auf dem Teller.»
«Okay, dann lässt es sich also erklären. Und was ist jetzt so besonders daran?», fragte Caine.
Doc hob einen Zeigefinger. «Dazu komme ich gleich. Vor kurzem haben einige Physiker eine Lichtquelle entwickelt, die zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur ein Photon abgeben kann, und damit haben sie das Experiment wiederholt. Und stellen Sie sich vor, es kam genau das gleiche Interferenzmuster heraus.»
Caine runzelte die Stirn. «Wie soll denn da ein Interferenzmuster entstehen, wenn immer nur einzelne Photonen durch den Schlitz dringen? Wie kann es denn da zu Überlagerungen kommen?»
«Jedes einzelne Photon überlagert auf der anderen Seite des Papiers sich selbst, denn es dringt bei dem Experiment gleichzeitig durch beide Schlitze.» Doc lächelte triumphierend.
«Wie das?»
«Weil das Photon, das man früher für ein Teilchen hielt, auch eine Welle ist. Wenn nur ein Schlitz vorhanden ist, verhält es sich wie ein Teilchen, aber bei zwei Schlitzen verhält es sich wie eine Welle. Photonen haben gleichzeitig den Charakter einer Welle und eines Teilchens. Man bezeichnete das als ‹Welle-Teilchen-Dualismus›.
Und im Grunde ist die gesamte Materie zweierlei, mit unterschiedlichen Eigenschaften und an unterschiedlichen Orten zur gleichen Zeit, bis sie dann gemessen wird.»
«Aber das ergibt doch keinen Sinn», sagte Caine.
«Willkommen in der Quantenphysik», sagte Doc, eine Fritte kauend.
Nun meldete sich der Mann mit der Fliege doch noch zu Wort. «Wenn Sie ihn komplett durcheinander bringen wollen», sagte er zu Doc, als wäre Caine gar nicht anwesend, «erzählen Sie ihm von Schrödingers Katze.»
Caine hob eine Hand. «Das ist wirklich nicht nötig –»
«Ach, das geht schnell», sagte Doc. «Kurz und schmerzlos, das verspreche ich Ihnen.»
«Also gut.» Caine hatte ganz vergessen, wie entspannt man sich unterhalten konnte, wenn man sich nicht ständig fragen musste, ob das Gegenüber bluffte. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er sich gestattet, seine Probleme zu vergessen und sich ganz dem Augenblick hinzugeben. Es war ein schönes Gefühl – auch wenn sie über Quantenphysik sprachen.
«Erwin Schrödinger war zwar einer der Väter der Quantenphysik, aber ihm war auch bewusst, wie unlogisch das Ganze war, zumal, wenn man es auf die reale Welt anwandte. Also schlug er 1935 ein hypothetisches Gedankenexperiment vor, in dem es um eine Katze ging.
Es ging dabei um Folgendes: Stellen Sie sich ein radioaktives Atom vor, das sich in zwei Zuständen befinden kann: zerfallen, dann gibt es Radioaktivität ab, und nicht zerfallen, dann ruht es. Die Quantenphysik sagt uns, sobald wir das Atom beobachten, wird es sich in einem der beiden Zustände befinden, aber solange wir es nicht beobachten, befindet es sich im Grunde gleichzeitig in beiden Zuständen – genau, wie sich das Photon im vorigen Beispiel gleichzeitig an zwei Orten befand.
Schrödingers Gedankenexperiment war nun Folgendes: Was würde geschehen, wenn man eine Katze in einen Kasten setzen würde, in dem sich eine Flasche mit einem tödlichen Gas, ein radioaktives Atom und eine Hammervorrichtung, die ausschlägt, sobald sie Energie feststellt, befinden? Wenn das radioaktive Atom zerfällt, schlägt der Hammer die Flasche kaputt, das Gas wird freigesetzt und die Katze stirbt. Wenn das Atom aber nicht zerfällt, bewegt sich der Hammer nicht, und die Katze überlebt.
Bis man jedoch den Kasten öffnet und das Atom beobachtet, ist es weder zerfallen noch nicht zerfallen. Die Frage ist also: Was geschieht mit der Katze, solange der Kasten geschlossen ist?»
Caine dachte einen Moment lang darüber nach. «Ich schätze mal …» Er verstummte, dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. «Ah, jetzt verstehe ich. Da sich das Atom theoretisch gleichzeitig in zwei verschiedenen Zuständen befindet, ergeht es der Katze genauso. Sie ist gleichzeitig tot und lebendig – bis man dann den Kasten öffnet und das Atom beobachtet. Ab dann befindet sich auch die Katze definitiv in dem einen oder dem anderen Zustand.»
Doc lächelte. «Sehen Sie. Und Sie sagen, Sie verstehen die Quantenphysik nicht.»
«Der springende Punkt», schaltete sich der Mann mit der Fliege ein und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf Caine, «ist, dass die Quantenmechanik, so stimmig sie auch sein mag, noch unlogischer wird, wenn man sie statt auf unsichtbare subatomare Teilchen auf die reale Welt anwendet.»
«Wollen Sie damit sagen, dass Sie Heisenberg nicht glauben?», fragte Doc den Mann mit der Fliege.
«Glauben Sie ihm?», entgegnete der.
Doc zuckte die Achseln. «Ich glaube zunächst mal nur das, was ich mit eigenen Augen sehen kann. Alles andere ist bloße Theorie.» Dann wandte er sich wieder an Caine. «Entschuldigen Sie, Sie wollten mich etwas fragen, ehe wir vom Thema abgekommen sind.»
Caine nahm sich eine von Docs Fritten. Plötzlich war es ihm peinlich, um Hilfe zu bitten, zumal vor einem Dritten.
«Also, ich stecke gerade ein bisschen in der Klemme …»
«Oh», sagte Doc besorgt. «Was ist denn?»
«Ich … bin knapp bei Kasse.»
«Sie wissen, dass ich Ihnen sofort Ihre Dozentenstelle wiedergeben würde, aber angesichts Ihrer … ähm … Probleme würde die Fakultätsleitung das nie zulassen. Zumindest nicht dieses Semester. Aber es gibt ja immer noch ein nächstes Jahr.»
«Ja, ich weiß. Es ist bloß, dass ich ziemlich dringend Geld brauche.» Caine war die Sache äußerst peinlich, zumal Docs Forscherkollege keine Anstalten machte, sie allein zu lassen. Vielmehr starrte er auf Caine herab, als ginge von ihm ein sehr eindringlicher Geruch aus. Caine gab sich alle Mühe, den Biometriker mit der Fliege zu ignorieren, und sagte: «Wenn Sie bei einem Ihrer privaten Forschungsprojekte Hilfe brauchen, wäre ich gerne bereit dazu. Ich bin ein wenig verzweifelt.»
Doc betrachtete einen Augenblick lang gedankenverloren die Decke. Als er Caine wieder ansah, ließ sein Gesicht keine Hoffnung erkennen. Er schüttelte langsam den Kopf.
«Wenn ich Ihnen irgendwie helfen könnte, würde ich es tun. Aber im Moment habe ich nichts für Sie.»
Caine gab sich alle Mühe, nicht auf seinem Sitz zusammenzusacken, auch wenn es ihm schwer fiel.
«Es tut mir Leid», sagte Doc.
«Schon okay», sagte Caine und dachte dabei, dass seine Situation nicht im Entferntesten okay sei. «Es war mir klar, dass das wahrscheinlich nichts wird. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde mir etwas einfallen lassen.»
Caine sah auf den Tisch, damit er Docs Blick nicht begegnete. Er nahm die letzte Fritte vom Teller, tunkte sie in den Ketchup von Docs Doppelschlitz-Illustration. Als er sie zum Mund führte, löste sich ein Ketchupklecks und fiel auf den Teller, wobei er rund um die Aufprallstelle winzige rote Linien hinterließ.
Während Caine zusah, spürte er, wie die Zeit mit einem Mal langsamer verging.
…
Die roten Linien werden dicker, erstrecken sich bis zum Tellerrand. Der kleine Tropfen ist nun eine leuchtend rote Lache, die immer größer wird und pulsiert. Sie nimmt solche Ausmaße an, dass sie auf den Tisch schwappt, wobei rote Spritzer durch die Gegend fliegen.
(92,8432-prozentige Wahrscheinlichkeit)
Sie fliegen in Zeitlupe auf Docs Gesicht und das seines Kollegen zu, hinterlassen Streifen auf ihrer Stirn und ihren Wangen und große Flecken auf ihren Hemden. Die Tropfen ätzen sich durch ihre Kleidung und Haut. Jetzt bluten die beiden Wissenschaftler; dunkelrotes Blut läuft ihnen übers Gesicht und spritzt ihnen aus der Brust.
(96,1158-prozentige Wahrscheinlichkeit)
Caine springt auf, es verschlägt ihm den Atem. Docs Mund bildet Wörter, aber man hört nichts. Seine Kehle ist voller Blut, das ihm aus dem Mund schwappt. Caine kommt es vor, als wäre alle Atemluft aus dem Raum gewichen. Er schnappt nach Luft, aber da ist nichts, nur Leere und ein peinigender Kopfschmerz.
(99,2743-prozentige Wahrscheinlichkeit)
Es ist so weit. Ein weiterer Anfall. Aber diesmal kommt es ihm nicht wie ein Anfall vor. Er hatte schon visuelle Halluzinationen, aber nicht solche. Er möchte schreien, möchte verhindern, was da passiert, aber er kann nicht –
Doc, sein Kollege, die anderen Gäste sind reglos wie Statuen; das Blut hängt in der Luft wie die schimmernden Tropfen eines roten Regens. Und dann setzt sich ganz langsam alles wieder in Bewegung. Aber irgendetwas stimmt nicht. Caine braucht einen Moment, dann wird ihm klar, dass alles rückwärts abläuft.
(98,3667-prozentige Wahrscheinlichkeit)
Die roten Tropfen fliegen dorthin zurück, wo sie herkamen. Wunden schließen sich und heilen, doch vorher stoßen sie noch Glassplitter aus, die an Caines Gesicht vorbei zu dem großen Fenster fliegen, das nun nur noch ein klaffendes Loch in der Wand ist.
(94,7341-prozentige Wahrscheinlichkeit)
Sie bewegen sich schnell, und der verbogene Kühlergrill des Pickups taucht aus dem Nichts auf und fliegt über ihren Tisch hinweg rückwärts wieder aus dem Restaurant. Der Wagen ist verschwunden; die Glassplitter fügen sich zusammen wie ein riesiges Puzzle und verschmelzen miteinander, werden wieder zur Scheibe.
…
Caine stockte der Atem.
Doc und sein Kollege waren wieder ganz die Alten – unversehrt. Caine sah auf seinen Teller, und die Blutlache war verschwunden, ersetzt durch einen kleinen Ketchuptropfen. Er öffnete entsetzt den Mund, und die Fritte entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden.
«David. David?» Das war Doc, der nicht wie üblich fröhlich guckte, sondern besorgt. «Geht es Ihnen gut?»
«Was?», fragte Caine und schüttelte den Kopf, als wäre er kurz eingenickt. «Was ist passiert?»
Blut … so viel Blut.
«Sie waren einen Moment lang weggetreten.» Doc starrte Caine an.
Caine blinzelte kurz und erwiderte Docs Blick, sah aber bloß das Blut, das ihm übers Gesicht lief. Langsam streckte Caine seine zitternde Hand aus. Doc regte sich nicht. Caine machte sich darauf gefasst, gleich feuchtes, klebriges Blut zu spüren. Doch als seine zitternden Finger Docs Gesicht berührten, spürte er lediglich ein paar zarte Bartstoppeln. Das Blut war fort.
«Rain Man?», sagte Doc, leiser diesmal, so als fürchtete er, einen im Nachbarzimmer schlafenden Tiger zu wecken. Mit einem Mal verstand Caine. Der Pickup. Der Pickup war durchs Fenster geflogen und hatte sie alle getötet. Hatte? Nein, hatte er nicht. Alles war so durcheinander, so verworren. Nicht hatte – würde. Der Pickup würde durchs Fenster fliegen. Die Frage war bloß, ob sie dann immer noch hier sitzen würden.
…
(94,7341-prozentige Wahrscheinlichkeit)
…
«Wir müssen hier weg», flüsterte Caine mit belegter Stimme.
«Wie meinen Sie das?», fragte Doc.
«Der Pickup … das Blut», sagte Caine. Ihm war bewusst, wie unverständlich seine Worte waren. «Wir müssen hier weg, sonst sterben wir.»
«Okay, David, gern», sagte Doc, und seine Stimme nahm den beschwichtigenden Tonfall an, mit dem man geistig labile Personen anspricht. «Ich zahle nur noch schnell die Rechnung, und dann gehen wir. Einverstanden?»
Caine schüttelte den Kopf. «Nein. Wir müssen hier sofort weg!», rief er, wissend, dass – ja, das war das richtige Wort, nicht wahr? – wissend. Denn er wusste, irgendwie wusste er, dass sie mit 94,7341-prozentiger Wahrscheinlichkeit nur noch zehn Sekunden zu leben hatten.
«Immer schön locker bleiben», sagte der Mann mit der Fliege und verzog die Nase. «Sie machen hier ja eine Szene.»
Caine schloss die Augen und versuchte nachzudenken. Alles war so verwirrend, so durcheinander. Hatte er einen schizophrenen Schub? Es kam ihm alles ganz real vor, aber Jasper hatte ja gesagt, dass es so sein würde. Dennoch verrieten ihm die Schreie in seinem Hirn, dass ihm jetzt nicht einmal mehr fünf Sekunden blieben. Im Bruchteil einer Sekunde traf Caine eine Entscheidung. Er öffnete die Augen und stand auf.
Noch vier Sekunden.
Er packte die beiden Wissenschaftler bei den Armen. Er riss sie hoch.
Drei Sekunden.
Caine ging einen Schritt nach hinten und prallte dabei mit jemandem zusammen –
…
Sie ist Kellnerin, sie heißt Helen Bogarty, sie wohnt in einem fünfstöckigen Mietshaus in der Thirteenth Street, sie beschließt, ein kleines chinesisches Mädchen zu adoptieren.
…
– riss Doc und seinen Kollegen mit sich.
Zwei.
«Hey!», rief die Kellnerin, und vier Kaffeebecher aus Porzellan fielen krachend zu Boden. Caine kümmerte sich nicht darum. Nach dem Unfall würde auch sie sich nicht mehr darum kümmern.
«Runter!», schrie Caine und riss sie alle zu Boden.
Eins.
Die Luft war erfüllt von Lärm – von Metall und fliegenden Glassplittern. Caine sah das nicht, denn er hatte die Augen zugekniffen, aber er wusste es. Er konnte sich die Szene vorstellen, als wäre es ein Filmausschnitt, den er schon tausendmal gesehen hatte. Die abertausend – 19 483, um genau zu sein – Glassplitter in der Luft, der Kühlergrill des Chevrolet Silverado Z71, der durch das Loch ragte, ihr Tisch unter den Reifen zerdrückt, zerstört, als der Pickup herniederstürzte, nachdem er am Bordstein abgehoben hatte.
Und dann änderte sich alles. Alles war mit einem Mal anders. Die Glassplitter nahmen andere Flugbahnen, als sie sich aus dem weichen Fleisch lösten, in das sie sich zuvor gegraben hatten. Bloß dass es nicht zuvor war. Es war jetzt. Aber nicht dieses Jetzt. Ein anderes Jetzt. Ein Jetzt, das geschehen wäre, aber nicht geschehen war.
In diesem Moment wurde Caine ohnmächtig. Wenn er während der ersten Sekunde seiner Bewusstlosigkeit noch empfindungsfähig gewesen wäre, hätte er alles verstanden. Aber das war er nicht, und daher spürte er nichts – und das war gut so … vorläufig.
Rauch.
Das war das Erste, was Caine wahrnahm, als er wieder zu sich kam. Der Rauch brannte ihm in der Lunge und in den Augen. Er spürte die Hitze rund um sich herum. Dann nahm er wahr, dass jemand ihn durch das zog, was von dem Restaurant noch übrig war. Als sein Retter ihn auf dem Boden absetzte, sah er Licht durch die geschlossenen Lider, und die Luft war kühl und sauber.
Caine sog vorsichtig Luft ein und stellte erleichtert fest, dass er wieder atmen konnte. Er hustete und atmete gierig die frische Luft ein.
«David, ist alles in Ordnung mit Ihnen?»
Caine sah blinzelnd zu dem Umriss hoch, der vor ihm aufragte. Es war Doc. «Ja, ich glaube schon.» Doc streckte eine Hand aus und half ihm sich aufzusetzen. Caine sah sich um. Er konnte den Mann mit der Fliege nirgends entdecken. «Wo ist …?»
«Es geht mir gut», sagte Docs Kollege und kam herbei. «Das habe ich Ihnen zu verdanken.»
«Was?» Caine schwirrte immer noch der Kopf.
«Wenn Sie uns nicht weggerissen hätten, hätte der Wagen uns zerquetscht.» Der Wissenschaftler neigte den Kopf ein wenig und senkte die Stimme. «Woher wussten Sie das?»
Caine starrte ihn an; sein Haar war in Unordnung, und sein maßgeschneidertes Tweedsakko war übel angesengt. Caine wusste nicht, was er sagen sollte. Er schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern. Die Bilder, die ihm in den Sinn kamen, waren ein einziges Durcheinander, zusammengeschnitten wie ein schlechtes Musikvideo. Ketchup. Blut. Glas. Pickup. Tod.
«Ich … ich weiß nicht», sagte Caine. Plötzlich war ihm zum Kotzen zumute. Er rappelte sich hoch. Als er das Sirenengeheul hörte, beschloss er, dass es besser war, nicht mehr vor Ort zu sein, wenn die Polizei anfing Fragen zu stellen. «Ich muss weg.» Er wandte sich zum Gehen, doch dann wurde er am Arm zurückgehalten.
«David, ich glaube, wir sollten über das reden, was gerade passiert ist», sagte der Wissenschaftler.
Als Caine dem Mann in die Augen starrte, gefiel ihm nicht, was er da sah. «Es ist nichts passiert. Ich habe den Wagen nur aus dem Augenwinkel kommen sehen, weiter nichts. Und jetzt lassen Sie mich los.» Ganz langsam löste der Mann mit der Fliege seinen Griff, aber sein Blick änderte sich nicht. Caine wandte sich an Doc. «Ich rufe Sie an.»
Dann wandte er sich an den Mann mit der Fliege. «Auf Wiedersehen, Professor.»
«David, lassen Sie doch die Förmlichkeit beiseite. Ich heiße Peter.»
Caine sagte nichts darauf. Er ging weg.
Caine wusste nicht, wie lange er durch die Stadt gewandert war. Er ging kreuz und quer, überließ den Ampeln die Entscheidung, wohin er als Nächstes gehen sollte. Und während er so herumirrte, gingen ihm die Geschehnisse im Restaurant nicht mehr aus dem Kopf.
Es gab keine vernünftige Erklärung dafür. Aber das stimmte nicht ganz, oder? Es gab eine ausgesprochen vernünftige und plausible Erklärung dafür, aber er wollte es sich nicht eingestehen: Das Medikament gegen seine Anfälle hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Das alles war Teil eines schizophrenen Schubs, einer unglaublich realistischen Halluzination.
Aber es war doch geschehen. Ein Blick auf seine angesengten Kleider bewies es doch, oder? Aber wenn auch das eine Wahnvorstellung war? Wenn er ziellos in sauberer Kleidung durch die Stadt lief, von der er nur glaubte, sie stinke nach Rauch? Ergab das nicht mehr Sinn als …? Er wollte nicht einmal daran denken. Ach, zum Teufel, warum eigentlich nicht. Sprich es ruhig aus: Präkognition.
Das war es, womit er es hier zu tun hatte.
Was war nun plausibler – dass er ein Wahnsinniger war oder ein Hellseher? Er musste sich zusammenreißen. Er musste mit jemandem sprechen. Eine Straße überquerend, klappte er sein Handy auf. Das Display zeigte drei Anrufe in Abwesenheit an. Er war absichtlich nicht drangegangen.
Wen ruft man an, wenn man wahnsinnig wird? Auf diese Frage gab es nur eine gute Antwort. Caine scrollte sich durch sein Adressbuch, wählte den entsprechenden Namen aus und drückte dann auf «Wählen». Nach nur einem Klingeln meldete sich am anderen Ende eine Stimme.
«Hi, hier ist Jasper, und das ist mein Piep.» Piep.
Caine überlegte, eine Nachricht zu hinterlassen, entschied sich dann aber dagegen. Was sollte er sagen? Hey, Jasper, ich verliere gerade den Verstand. Ruf mich an. Er klappte das Telefon zu, und im gleichen Moment begann es zu vibrieren. Er sah auf das Display, ehe er das Gespräch annahm, für den Fall, dass es wieder Nikolaev war. Er war es nicht. Caine kannte die Nummer nicht, aber die ersten Stellen waren ihm bekannt: Da rief jemand von der Columbia aus an.
«Hallo?», sagte Caine zögernd.
«David, schön, dass ich Sie erwische. Hier ist Peter.»
Caine schwieg.
«Hören Sie, ich will gleich zur Sache kommen. Ich glaube, ich habe etwas Interessantes für Sie. Dabei würden zweitausend Dollar für Sie rausspringen.»
Caine hielt jäh inne. «Sagten Sie gerade zweitausend?»
«Ja.»
«Ich bin ganz Ohr.»
«Ich führe gerade eine Studie durch, und ich glaube, Sie wären ein geeigneter Kandidat …»
Caine starrte an die Decke und zählte rückwärts von hundert. Er hasste Spritzen, aber das hier war es wert: In zehn Minuten würde er um zweitausend Dollar reicher sein. Die Laborantin zog Caine die Kanüle wieder aus dem Arm und legte einen kleinen Wattebausch auf die Stelle.
«Eine Minute lang festhalten», sagte sie geistesabwesend und beschriftete die drei kleinen Fläschchen Blut. Caine tat wie ihm geheißen, froh, dass die Ereignisse des Tages bald vorüber sein würden. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so vielen Tests unterzogen zu haben, nicht einmal, als man damals seine Epilepsie diagnostiziert hatte. Vier Magnetresonanztomographien, drei CAT-Scans, eine Urinprobe und nun auch noch ein Bluttest. Peter hatte ein großes Geheimnis daraus gemacht, als Caine ihn gefragt hatte, was er denn erforsche, und Caine hatte, obwohl er neugierig war, nicht weiter nachgefragt. Es zählte einzig und allein, dass er bar bezahlt wurde.
Nach dem Telefonat mit Peter am Vortag hatte Caine Nikolaev angerufen und eine Abmachung mit ihm getroffen: Vitaly willigte ein, ihn nicht weiter unter Druck zu setzen, und Caine erklärte sich bereit, ihm sieben Wochen lang jeweils zweitausend Dollar zu zahlen – vierzehntausend Dollar insgesamt. Caine hatte keine Ahnung, woher er die zweite Rate nehmen sollte, aber was Nikolaev nicht wusste, tat ihm auch nicht weh. Caine brauchte bloß Zeit. Wenn er nur genug Zeit hatte, würde ihm schon ein Ausweg einfallen.
Eine Stunde nach dem abschließenden Bluttest betrat Caine das Chernobyl; Nikolaev und Kozlov erwarteten ihn bereits. Kozlov schielte auf Caine herab, als hoffte er auf einen Vorwand, ihn sich zur Brust zu nehmen. Caine bemühte sich, ihn zu ignorieren, und konzentrierte sich auf Nikolaev.
«Hallo, Vitaly.»
«Caine, es freut mich, dass Sie wieder auf den Beinen sind», sagte Nikolaev mit einem Lächeln. «Aber Sie sind ein bisschen blass.»
«Ich hatte einen langen Tag», sagte Caine. Nach den fünfstündigen Untersuchungen fühlte er sich noch ein wenig schwach.
Nikolaev nickte. Caine wusste, dass sich der Mann nicht die Bohne dafür interessierte, wie es ihm ging, solange er nur sein Geld bekam. Nikolaev legte eine starke Hand auf Caines Schulter. «Gehen wir doch in mein Büro und unterhalten uns.»
Caine folgte Nikolaev in den Keller, bückte sich dabei in dem engen Treppenhaus, und Kozlov folgte ihm auf dem Fuß. Im Podvaal angelangt, blinzelte Caine ein paar Mal, um seine Augen an die schummrige Beleuchtung zu gewöhnen. In der Ecke lief ein Spiel, die meisten am Tisch waren Stammgäste. Er nickte ihnen zu, und von denen, die schon gepasst hatten, nickten einige zurück.
Caine betrat Nikolaevs beengtes Büro, in dem gerade mal genug Platz war für eine Couch, einen kleinen Schreibtisch und einen Drehstuhl. Er setzte sich auf die Couch, die von Dutzenden Brandflecken überzogen war, und Nikolaev setzte sich an seinen Schreibtisch. Kozlov blieb stehen, lehnte seine massige Gestalt an die Wand, so als würde er das Gebäude stützen.
Ohne auf eine Aufforderung zu warten, zog Caine ein dickes Geldbündel aus der Tasche und zählte zwanzig Hundertdollarscheine ab. Nikolaev hielt eine der Banknoten gegens Licht, um das Wasserzeichen zu betrachten. Als er zufrieden gestellt war, ließ er die Scheine in seiner Jackentasche verschwinden.
«Tut mir Leid mit Ihrer Wohnung», sagte Nikolaev, «aber Geschäft ist Geschäft.»
«Selbstverständlich», erwiderte Caine, so als wäre es ganz normales Geschäftsgebaren, einem Mann den Fernseher, den Videorecorder und die Stereoanlage zu klauen.
Nikolaev beugte sich vor, die Hände flach auf dem Tisch. «Also, woher nehmen Sie das Geld, das Sie mir zurückzahlen? Ich frage nur, weil ich … besorgt bin, dass diese Rate die erste und die letzte sein könnte.»
Caine stand auf und lächelte. Er ließ sich nichts anmerken. «Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe alles im Griff.»
Nikolaev nickte. Caine bezweifelte, dass der Mann ihm Glauben schenkte, aber das spielte keine Rolle. Caine würde entweder in einer Woche weitere zweitausend zahlen, oder Kozlov würde ihm den Arm brechen. So einfach war das. Nikolaev erhob sich und schüttelte Caine die Hand. Sein Griff war ein klein wenig zu fest, sein Blick kalt und durchdringend.
«Bleiben Sie zum Essen? Geht aufs Haus.»
«Danke, aber ich habe schon gegessen», sagte Caine. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig bei Nikolaev zu bleiben. «Vielleicht ein andermal.»
«Klar», sagte Nikolaev, «ein andermal.»