Abdul Aziz war nur mäßig überrascht, als der Mann am Steuer des schwarzen Lieferwagens ein Blaulicht auf sein Armaturenbrett knallte und ihn aus dem Verkehr winkte. Er hätte wissen müssen, dass die Frau in Schwierigkeiten steckte, als sie ihm den Hunderter gab.
Der Taxifahrer sah kurz seinen seltsamen Fahrgast an und richtete den Blick dann wieder auf die Straße. Nachdem er angehalten hatte, sprangen drei Männer aus dem Lieferwagen und umstellten mit gezückten Waffen sein Taxi. Aziz sah, wie die anderen Autofahrer abbremsten, um sich die Festnahme anzuschauen.
«Steigen Sie beide aus dem Wagen und legen Sie die Hände hinter den Kopf! Sofort!»
Das musste man Aziz nicht zweimal sagen. Er wusste, wie die Polizei in solchen Situationen mit Leuten seiner Hautfarbe umsprang. Egal. In Zeitlupe entriegelte er seine Tür und zog am Griff. Er stieg aus seinem Taxi und hob die Hände hoch über den Kopf.
«Runter auf die Knie!»
Aziz gehorchte. Kaum hatte sein rechtes Knie die Straßendecke berührt, stieß ihn ein Paar rauer Hände mit dem Gesicht zu Boden, und ein zweites Paar Hände bog ihm die Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. Ein Stiefel drückte seinen Nacken hinab, stieß seine Wange in den Schotter.
«Was ist los?»
«Wo ist sie hin, verdammt?»
«Scheiße!»
Sekunden später zog ihn ein Mann an den Haaren hoch. «Wo hast du die Frau rausgelassen?»
«Nirgendwo», antwortete Aziz. Er stöhnte auf, als sein Unterleib Bekanntschaft mit einem Stiefel machte.
«Willst du mich verarschen? Ich frage noch einmal: Wo hast du sie rausgelassen?»
«Tun Sie mir bitte nicht weh! Ich sage die Wahrheit!» Aziz rang nach Atem. «Sie ist gar nicht in mein Taxi gestiegen. Sie gab mir nur …»
«Sir!», rief eine Stimme und schnitt Aziz das Wort ab. «Ich glaube, Sie sollten sich das mal anschauen.»
Die Hand ließ sein Haar los, und Aziz schlug mit dem Kinn auf den Asphalt. Er schmeckte Blut in seinem Mund. Ehe er sich rühren konnte, war die Hand wieder da und riss erneut seinen Kopf hoch.
«Das hier? Hat sie dir das gegeben?»
Aziz starrte auf das kleine silberfarbene Gerät, das der Mann in der Hand hielt.
«Ja. Sie hat es auf den Rücksitz gelegt und gesagt, ich solle nach Downtown fahren und es in einem Bürogebäude in der Broad Street abgeben. Habe ich etwas falsch gemacht?»
Caine spürte den plötzlichen Impuls zu fliehen – einfach in ein Taxi nach La Guardia zu springen, den nächsten Flug irgendwohin zu nehmen, ohne zurückzuschauen. Einfach alles hinter sich zu lassen, nichts leichter als das. Irgendwo neu zu beginnen, wo die Leute seinen Namen nicht kannten und nicht wussten, wie er sein Leben verpfuscht hatte.
Aber wie alle Fluchtträume war es unmöglich. Es gab keinen Ort auf der Welt, wo er seiner Krankheit entkommen konnte. Wohin er auch ging, die Zeitbombe in seinem Kopf würde mit ihm reisen. Caine schwor sich, dass er, sollte Dr. Kumars Medikament langfristig anschlagen, sein Leben ändern würde. Doch zuvor musste er ein paar Dinge regeln. Und das bedeutete, Nikolaev auszuzahlen und nie wieder einen Fuß in einen Pokerclub zu setzen.
Er seufzte und ging zu dem Plattenladen, in dem Tommy und er sich früher stundenlang aufgehalten hatten, wenn sie nach Manhattan kamen. Als er um die Ecke bog, sah er, dass Tommy bereits dort war.
Der gute, alte Tommy, immer pünktlich. Er war mit einem abgetragenen Wintermantel der New York Giants bekleidet, wahrscheinlich demselben, den er schon in der Highschool getragen hatte. Er lehnte an einem alten Chevy und hielt einen großen Aktenkoffer aus Metall in der Hand. Caines Rettung. Er fragte sich, ob sie den Preis seiner Selbstachtung wert war, wusste aber, dass er die Entscheidung bereits getroffen hatte.
Als sich Tommy umdrehte und Caine sein Lächeln sah, konnte er nicht anders, als das ansteckende Grinsen seines alten Freundes zu erwidern. Caine winkte scheu und beschleunigte seine Schritte. Dann umarmten sich die beiden. Caine hatte plötzlich ein Déjà-vu-Gefühl, in das sich Furcht mischte, aber er verdrängte es. Tommy war mit dem Geld hier.
Was konnte noch schief gehen?
Tversky atmete tief aus, als er Caine sah. Julia hatte Recht gehabt. Obwohl er damit gerechnet hatte, wurde ihm jetzt klar, dass er bis zu diesem Moment nicht wirklich daran geglaubt hatte. Doch jetzt stand der Beweis fünfzehn Meter unter ihm.
Sollte auch alles andere eintreten, was Julia vorhergesagt hatte, würde er vorbereitet sein. Mit zitternden Fingern tippte Tversky den sechsstelligen Code ein. Der Sprengkörper war nun aktiviert. Es hatte ihn ebenso erstaunt wie erschreckt, wie einfach der Bau der ferngesteuerten Rohrbombe gewesen war. Die Anleitungen im Internet hatten ihn über alles informiert. Die Einzelteile hatte er bei Radio Shack erhalten. Außer dem Schießpulver, das aus den Flintenpatronen stammte, die er bei Trike gekauft hatte.
Er überprüfte noch einmal die drei Videokameras, die vom Gehsteig aus auf den Wagen gerichtet waren. Jede war mit seinem Laptop verbunden. Er betrachtete den Monitor wie jemand, der sich einen Film anschaute, wissend, dass der Höhepunkt unmittelbar bevorstand. Zu seiner Überraschung hörte er sich eine Entschuldigung flüstern.
«Tut mir Leid, David. Ich wünschte, es würde eine andere Möglichkeit geben.»
Er sah auf die Uhr. Noch zehn Sekunden. Er atmete gleichmäßig und hoffte, dass es schnell gehen würde, sollte die Explosion David töten.
Auf der anderen Straßenseite entsicherte Nava ihre Waffe, während sie beobachtete, wie Caine den Aktenkoffer von dem Mann im Giants-Mantel entgegennahm. Sie spitzte die Ohren, um zu hören, was sie sagten, doch die Wanze in dem GPS-Sender erzeugte plötzlich ein hohes Pfeifen.
Sie wollte es ignorieren, aber ihre Erfahrung und ihr Instinkt schalteten sich ein. Das hier war eine ernst zu nehmende Anomalie. So starke Funkstrahlung schwirrte nicht wahllos durch die Luft. Sie hatte ein Ziel. Sie spielte den Klang im Geiste erneut ab, während sie die mit Baugerüsten verkleideten Gebäude in der Umgebung absuchte. Dann sah sie ihn.
Auf dem Dach fast direkt über ihr stand ein Mann, der eine Box mit einer kleinen Stabantenne hielt. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Was auch immer der Mann eingeschaltet hatte, es befand sich wahrscheinlich in Caines Nähe. Dann sah sie es – ein kleines, dunkles Etwas, versteckt unter dem Chevy. Das konnte kein Zufall sein. Julias Botschaft, Caines Treffen, der Mann mit der Fernbedienung, das Paket.
Es konnte sich nur um eines handeln.
«Eine Bombe!»
Caine schaute hinüber zu der schreienden Frau auf der anderen Straßenseite und hatte erneut ein überwältigendes Déjà-vu-Gefühl. Ohne nachzudenken, trat er einen Schritt von Tommy zurück und hielt den Koffer wie einen Schild vor sich. Plötzlich gab es einen enormen Hitzeschwall und ein ohrenbetäubendes Geräusch, das ihm durch Mark und Bein ging und seine Haare aufrichtete.
Caine wurde vom Boden gehoben, und eine große Stichflamme schoss über den Gehsteig. Er flog durch die Luft und wirbelte mit ausgetreckten Armen umher wie Superman, der in einem Comic von einer Riesenhand geschlagen wurde. Er landete hart und schürfte sich die Hände auf, ehe sein linkes Knie auf den Gehweg knallte und seinen Sturz aufhielt.
Er lag auf dem Boden und versuchte zu atmen. Alles tat weh. Er drehte sich auf den Rücken und versuchte sich aufzusetzen und den brennenden Schmerz in seinen Händen zu ignorieren. Die Straße hatte sich in ein Inferno verwandelt. Er spähte durch den dicken, schwarzen Rauch, der aus einem Haufen verbogenen Metalls an der Kreuzung strömte, einen halben Block entfernt. In dem Feuer konnte er drei verschiedene Formen erkennen, die schnell zu einem einzigen riesigen Klumpen verschmolzen. Im Umfeld des Explosionsherdes loderten mehrere kleinere Feuer.
«Tommy!», schrie Caine. Seine Augen brannten vor Qualm. Er versuchte aufzustehen, doch als er sein linkes Bein belastete, mahlten die Knochen in seiner gebrochenen Kniescheibe aufeinander, und er klappte zusammen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, lag er auf der Seite und umklammerte mit blutigen Händen sein zerschmettertes Knie.
Die nächste Explosion spürte er eine halbe Sekunde bevor er sie hörte. Glutheiße Luft strömte ihm übers Gesicht, und als erneut ein apokalyptisches Tosen ertönte, bebte der Gehsteig.
Ein weiteres Auto war explodiert, glühende Metall- und Glassplitter prasselten herab. Er hielt sich die Hände schützend vors Gesicht, und die Einzelteile landeten rund um ihn herum. Als er aufschaute, stakte wenige Zentimeter von seinem Kopf ein Nummernschild im Gehsteig. Er musste hier weg. Sein Glück würde nicht ewig andauern, der nächste metallische Feuerregen würde ihn töten, davon war er überzeugt.
Er versuchte sich wieder aufzurichten, verlagerte diesmal sein ganzes Gewicht auf das rechte Bein und benutzte einen nahen Hydranten als Krücke. Er stand schon fast, als sein linker Fuß am Rinnstein hängen blieb und sich sein Knie schmerzhaft verdrehte.
Einen solchen Schmerz hatte er noch nie verspürt. Es kam ihm vor, als wäre sein Bein wie ein Streichholz abgeknickt worden. Schweißgebadet biss er sich so fest auf die Zunge, dass sie anfing zu bluten. Dann zwang er sich hinabzuschauen.
Zuerst war er verwirrt – Caine sah auf seinen rechten Fuß, dann wieder auf den linken. Bei dem Anblick wäre er beinahe ohnmächtig geworden; er spürte, wie sein Bewusstsein darum bettelte, wegsacken zu dürfen, verweigerte ihm jedoch den Wunsch und biss sich noch fester auf die Zunge. Ein Strom salzigen Blutes füllte seinen Mund.
Sein linker Fuß war um 180 Grad verdreht und zeigte nach hinten. Damit würde er es unmöglich bis zur nächsten Ecke schaffen. Er würde das Bein herumdrehen müssen. Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um, und Säure schoss ihm in den Mund und brannte auf seiner verletzten Zunge. Er spuckte auf den Gehweg, eine schleimige Mischung aus Galle und Blut.
Caine hüpfte hinüber zur Hausmauer und stöhnte bei jedem Schritt vor Schmerzen auf, wenn sein verdrehtes Bein auf den Gehweg knallte. Er fiel genau in dem Moment gegen die Mauer, als ihn das Schwindelgefühl übermannte. Er schaute hinab auf sein Bein, doch der Anblick hatte keine Wirkung mehr auf ihn. Er stand bereits unter Schock.
Mit ohrenbetäubendem Tosen explodierte ein weiterer Wagen. Wieder prasselten Metallteile herab, während Caine seinen Kopf bedeckte. Als er die Augen öffnete, sah er, dass sich eine Stoßstange um den Hydranten gewickelt hatte, auf den er sich gerade noch gestützt hatte. Er presste seinen Rücken an die Mauer und versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. Mit beiden Händen griff er hinab und drehte sein Bein mit einer schnellen Bewegung in den normalen Winkel.
Höllenqualen.
Schiere, durch nichts geminderte Schmerzen. Schweiß vernebelte seinen Blick, sodass er den Eindruck hatte, er würde aus dem Inneren eines Aquariums auf die Straße schauen. Der Wagen vor ihm fing Feuer. Wie hypnotisiert konnte Caine nur noch hinstarren. Das Feuer breitete sich über die eleganten schwarzen Ledersitze aus wie eine träge alte Katze, die ihre Beine streckte. Dann entwickelten die Flammen ein Eigenleben und züngelten über das Lenkrad, das Armaturenbrett und das Dach. Das Lenkrad begann zu schmelzen und fiel in sich zusammen, während sich die Sitze vor seinen Augen verflüssigten, ihre Form und ihr Wesen verloren.
Plötzlich
…
Der Wagen vor ihm explodiert. In Zeitlupe fliegt er auseinander. Glassplitter jagen von den Fensterrahmen in alle Richtungen. 47 winzige Schnitte verletzen sein Gesicht, seine Arme, seine Beine. Die Türen platzen aus den Angeln, rasende Metallsplitter flirren wie Miniaturraketen durch den Qualm. Eine dreht sich in der Luft und fliegt waagerecht auf Caines Unterleib zu.
Die scharfe Kante schneidet in sein Fleisch und fährt durch seinen Bauch wie durch Butter. Selbst in Zeitlupe passiert es so schnell, dass es schmerzlos ist. Bis der Splitter seine Wirbelsäule trifft. Mit der Wucht eines an einen Güterzug geschweißten Speeres jagt ein Schmerz durch seinen Rücken.
Seine Augen öffnen sich so weit, dass er für einen Augenblick Angst hat, sie springen ihm gleich aus dem Schädel. Er hört das unerträgliche Knirschen, während die Metallrakete ihre Flugbahn fortsetzt. Der Splitter trifft auf die Backsteinmauer hinter ihm, prallt zurück und zerstört, was von seinen inneren Organen noch übrig war.
Caine stirbt.
Die erste Explosion hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, wie sie Nava noch nie gesehen hatte. Das Feuer breitete sich wie ein Flammentornado aus, geschürt von einem Tankwagen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Nava machte sich auf den Weg zu der Stelle, wo sie Caine zuletzt gesehen hatte, konnte ihn aber durch den Qualm nicht mehr erkennen.
Sie versuchte, zu ihm zu gelangen, doch drei undefinierbare Fahrzeuge, jedes in einem anderen Stadium der Zerstörung begriffen, versperrten ihr den Weg. Das erste Wrack war formlos zusammengeschmolzen, wie ein Stück Schokolade, das in der Sonne liegen geblieben war. Das zweite loderte weiß glühend, Sitze und Räder waren aber noch zu erkennen. Das letzte war eine Feuersäule, ein völlig unkenntlicher Haufen aus verbogenem Metall.
Sie versuchte, sich einen Weg durch die Trümmer zu bahnen, doch überall stieß sie auf die gleiche Flammenwand. Sie lief hin und her wie eine eingesperrte Löwin, suchte nach einer Möglichkeit, zu Caine zu gelangen, aber um das noch rechtzeitig zu schaffen, hätte jetzt schon eine Brücke vom Himmel fallen müssen.
Caine öffnete die Augen und atmete verqualmte Luft ein. Sofort hustete er sie aus. Er war gestorben, doch nun war er am Leben. Was, zum Teufel, war passiert? Er schaute hinab auf seinen Körper – er war unversehrt, aber sein Knie war noch immer zertrümmert. Der Wagen vor ihm war noch ganz, auch wenn er ein paar Flammen sehen konnte, die langsam über die Sitze züngelten.
Er musste ohnmächtig geworden sein … oder eine weitere Vision gehabt haben. Aber sie war ihm so lebendig, so real erschienen. Er erinnerte sich daran, wie das Metall durch seinen Bauch gefahren war, und an den unbeschreiblichen Schmerz, als es sein Rückgrat durchtrennt hatte. Himmel, vielleicht war er verrückt. Vielleicht …
In dem Wagen vor ihm breiteten sich die Flammen aus. Der Anblick versetzte ihn in einen hypnotischen Zustand. Schon wieder ein Déjà-vu. Er kniff die Augen zu und versuchte, das Gefühl abzuschütteln. Vision hin oder her, wenn der Wagen explodierte, würde er sterben.
Er versuchte sich fortzubewegen, doch der Schmerz schoss wieder durch sein Knie. Er konnte nicht. Um von hier wegzukommen, brauchte er ein Wunder. Und zwar schnell.
Caine war nie religiös gewesen, aber nun fand er, dass es dazu nie zu spät war. Er schloss die Augen, um zu beten, und machte dabei eine völlig unerwartete Entdeckung: Er konnte immer noch sehen.
…
Das Feuer, die Straße und sich selbst in der Mitte, gebrochen und blutend. Und während er zusieht, wirft er ein silbernes –
…
Eine weitere Explosion erschütterte die Straße und riss Caine aus seiner Trance. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Ohne nachzudenken, packt er den Griff des metallenen Aktenkoffers. Mit aller Kraft holte er Schwung, riss den Arm nach vorn und schleuderte das silberne
…
– Rechteck.
Der Koffer fällt herab und kracht auf die Motorhaube des Wagens neben dem Auto vor ihm. Caine fällt zurück an die Mauer, bereit, sein Schicksal hinzunehmen, wenn der Wagen explodiert. Als das Dach davonfliegt, schießt der Metallkoffer wie eine Scudrakete über die Straße. Er prallt von dem Gebäude ab und schlittert unter einen Geländewagen, glühende Funken mit sich ziehend, die eine Benzinlache entzünden und eine weitere Explosion auslösen. Der Geländewagen fliegt in die Luft und kracht in das Gerüst des Gebäudes.
Die Kettenreaktion beginnt.
…
Ein silbriger Gegenstand schoss durch die Luft, dann explodierte der Geländewagen und krachte mit einem gewaltigen Knall in das Gebäude. Steine und Gerüstteile prasselten auf den Gehweg herab. Wenn Nava es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geschworen, dass gerade eine Panzerfaust abgefeuert worden war. Ein metallisches Ächzen durchschnitt die Luft und ließ sie zusammenzucken. Sie sah hoch, konnte jedoch außer der großen Feuerleiter, die sich am Gebäude emporschlängelte, nichts erkennen.
Überall war Rauch, und die Feuerleiter schien leicht hin und her zu schwanken. Sie hörte ein weiteres Ächzen. Nava sah genauer hin, dann schnappte sie nach Luft. Die Leiter sah nicht nur so aus, sie schwankte tatsächlich.
Als die Explosion das Gerüst umgerissen hatte, war wahrscheinlich ein Teil der Verankerung der Feuerleiter zerstört worden. Das und die Hitze mussten die gesamte Konstruktion in Mitleidenschaft gezogen haben. Ein weiteres Ächzen, dieses Mal lauter. Es sah aus, als würde sie jeden Augenblick …
Mit einem letzten Quietschen berstenden Metalls riss die Feuerleiter vom Gebäude und stürzte.
Die Feuerleiter kracht auf den Boden. Sie landet inmitten des Feuers und beginnt zu schmelzen.
(Schleife)
Caine wirft den Koffer. Der Wagen explodiert. Der Koffer prallt vom Gebäude ab. Glühende Funken entzünden das Benzin unter dem Geländewagen. Eine weitere Explosion. Das Baugerüst stürzt ein. Die Feuerleiter fällt und bricht beim Aufprall in zwei Teile.
(Schleife)
Caine wirft den Koffer. Der Wagen explodiert. Der Koffer prallt vom Gebäude ab. Glühende Funken entzünden das Benzin unter dem Geländewagen. Eine weitere Explosion. Das Baugerüst stürzt ein. Die Feuerleiter fällt und hält abrupt inne; noch mit dem Gebäude verbunden, hängt sie in der Luft und zeigt in einem Winkel von 45 Grad in den Himmel –
(Schleife)
Die Bilder beschleunigen sich, sein Hirn kann kaum verarbeiten, was er innerhalb der Schleifen sieht. Wieder und wieder löst Caine die Kettenreaktion aus, durch welche die Feuerleiter herabkracht, bis sie schließlich … in die richtige Position fällt.
Nava konnte der Feuerleiter gerade noch ausweichen, als sie mit einem ohrenbetäubenden Knall auf die Straße fiel. Wundersamerweise blieb das Metallgitter ganz und war nur dort leicht gebogen, wo es die Reihe der brennenden Wagen überspannte. Ungläubig starrte Nava die Leiter an. Dann wurde ihr klar: Sie hatte ihre Brücke.
Sie schälte sich aus ihrem Mantel, schnitt mit einem Hieb ihres Dolchs drei lange Stoffstreifen ab, wickelte sich je einen um die Hände und band sich einen vor Mund und Nase. Ohne auf das Feuer zu achten, stieg sie auf die Feuerleiter und kletterte über das geborstene Metall.
Es hatte sich bereits aufgeheizt, doch die Stofffetzen schützten ihre Hände. Sie kam schnell voran, froh um ihre Kletterausbildung am Gora Narodnaja im nördlichen Ural. Der Rauch und der Schweiß, der von ihrer Stirn tropfte, machten es fast unmöglich, etwas zu sehen, doch sie kletterte weiter und ertastete sich ihren Weg über die zerborstene Leiter. Sie hielt inne, kauerte sich nieder, packte die heißen Metallstreben mit ihren umwickelten Händen und starrte nach vorn. Sie war einen Meter vor der höchsten Stelle der Feuerleiter. Ihr Ziel befand sich auf der anderen Seite der Flammenwand.
Sie sah sich nach einer sicheren Stelle zum Hinabspringen um, doch es gab keine. Auf beiden Seiten wüteten die Flammen; die einzige Möglichkeit war, weiter geradeaus zu gehen. Sie schaute sich erneut um und suchte nach einem Weg. Sie war sich nicht sicher, glaubte aber, hinter der Feuerwand die andere Seite der Brücke sehen zu können. Die Leiter begann zu glühen, brannte aber noch nicht. Es war die einzige Möglichkeit.
Sie widerstand dem Drang, tief einzuatmen, da die Luft schwarz und rußig war. Sie kauerte sich zusammen, lenkte all ihre Kraft auf die Waden und sprang mit ausgestreckten Armen nach vorn.
Die Welt hüpft.
Da ist eine schöne Turnerin.
Sie klettert über die Feuerleiter und springt durch eine sechs Meter hohe Flammenwand; sie versucht, einen Teil des weiß glühenden Metalls zu packen, und greift daneben. Sie fällt auf das lodernde Gerippe eines Autos und schreit vor Schmerz.
(Schleife)
Er wirft den Koffer. Die Kettenreaktion folgt. Die Feuerleiter fällt und bildet die Brücke. Die Turnerin erklimmt die Feuerleiter und stolpert, bevor sie zu springen versucht; mit wild um sich schlagenden Armen stürzt sie von der Metallbrücke in ein loderndes Benzinfeuer.
(Schleife)
Er wirft den Koffer. Die Kettenreaktion folgt. Die Feuerleiter fällt und bildet die Brücke. Die Turnerin erklimmt die Feuerleiter, springt durch die Flammen und verfehlt die weiß glühende Strebe, während einer der Wagen explodiert und Metallsplitter durch ihren Körper jagt.
(Schleife)
Caine sieht die Frau hundertmal sterben. Tausendmal. Millionen Mal. Und dann –
Obwohl sich das Metall unter ihrem plötzlichen Abstoß bewegte, bekam Nava einen sauberen Sprung zustande. Einmal in der Luft, streckte sie sich und machte ihren Körper steif. Die Flammen erhitzten ihre Arme, ihren Bauch, ihre Beine … dann war sie durch. Sie öffnete die Hände weit und wartete, dass sie das Metall auf der anderen Seite berührten. Und dann –
Sie schloss die Hände um etwas, das sich wie eine Feuerstange anfühlte, und hielt sich fest. Den Griff leicht lockernd, schwang sie sich an der Stange nach vorn und ließ dann los. Sie flog mit den Füßen voran nach unten. Wenn kein scharfes Metallteil dazwischenkam, würde sie heil landen.
Sie fiel auf festen Boden und kauerte sich hin. Noch ehe sie Luft schnappen konnte, hörte Nava ein metallisches Ächzen. Sie sprintete davon und bahnte sich einen Weg durch die brennenden Stahlüberreste. Als sie die hinter sich hatte, schaute sie sich um und sah die Feuerleiter in die Flammen stürzen.
Nava rannte weiter.
Die Turnerin lief auf ihn zu, sie hatte ihre Feuerprobe überlebt. Caine fragte sich, ob er bereits tot war und ob die Frau eine Art Engel war.
«Können Sie gehen?», fragte der Engel, der plötzlich vor ihm stand.
Caine starrte sie an. Was sagte man einem Engel? Sie wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen bückte sie sich und warf ihn sich über die Schulter. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein gebrochenes Knie, und Caine schrie auf, doch der Engel nahm keine Notiz davon und lief los.
Caine sah, dass der Wagen hinter ihnen wie erwartet explodierte. Diesmal geschah es in Echtzeit und nicht in Zeitlupe. Das Glas zersprang, rasiermesserscharfe Metallsplitter stoben davon und jagten in die Mauer. Nur stand Caine dieses Mal nicht davor.
Er wäre gestorben, wenn der Engel ihn nicht weggerissen hätte. Sein Knie verdrehte sich wieder und schickte peinigende Schmerzwellen durch seinen Körper. Da er sich nun in den Armen des Engels befand, musste er nicht mehr gegen die Ohnmacht ankämpfen.
Und so ließ Caine sich fallen.