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EX-NSA-DIREKTOR WEGEN HOCHVERRATS VOR GERICHT
Von Patrick O’Beirne
Washington, D. C. (AP) – Dr. James P. Forsythe wurde heute in 131 Fällen der Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten und des Hochverrats beschuldigt. Die Anklageerhebung gegen den ehemaligen Leiter der Abteilung Science and Technology Research bei der National Security Agency fand in einem überfüllten Washingtoner Gerichtssaal statt.
Die Behörden erhielten erstmals Kenntnis von Dr. Forsythes mutmaßlichen Verbrechen, als am 7. Februar nach einer Bombenexplosion in einem New Yorker Bürogebäude die Feuerwehr vor Ort erschien (siehe Bericht). Das Rettungspersonal barg nicht nur Dr. Forsythe und sein Personal aus den Trümmern, sondern auch die Leichen dreier Erschossener sowie Computer mit Hunderten illegalen Dateien. Diese Dateien soll Dr. Forsythe der NSA entwendet haben, nach dem er wegen der Veranlassung einer «nicht genehmigten FBI-Operation» im Zusammenhang mit der Schießerei auf einem Amtrak-Bahnhof in Philadelphia (siehe Bericht) seines Amtes enthoben worden war, hieß es aus Kreisen in Washington.
Trotz der laut Anklagebehörde «erdrückenden Beweislast» plädierte Dr. Forsythe in allen Punkten auf nicht schuldig. Die Staatsanwaltschaft hingegen ist optimistisch, einen Schuldspruch erwirken zu können.
«Wir haben eine Fülle an Beweismaterial und einen wichtigen Zeugen … Es ist äußerst wahrscheinlich, dass er [Dr. Forsythe] schuldig gesprochen wird.» Der zentrale Zeuge der Anklage ist Mr. Steven R. Grimes, ein Mitarbeiter der NSA.
«Ich war ehrlich gesagt schockiert, dass sich das alles direkt vor meiner Nase abgespielt hat», erklärte Mr. Grimes heute der Presse. «Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass Jimmy [Forsythe] vertrauliche Dokumente mitgehen lassen würde … Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die Staatsanwaltschaft in dieser Angelegenheit zu unterstützen. Ich bin Amerikaner – für Verräter habe ich nichts übrig.»
Tversky überflog den Rest des Artikels, aber sein Name wurde nirgends erwähnt. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Zwar wollte die Polizei noch immer wegen Julias Tod mit ihm reden, aber er wusste, dass der Fall von den Behörden inzwischen als Selbstmord eingestuft wurde. Tversky lächelte. Er hatte unfassbares Glück gehabt. Hätte er in dieser Nacht nicht das Labor verlassen, wäre er ebenfalls geschnappt worden. Zum Teufel, er hätte sogar bei der Explosion umkommen können.
Wenn man bedachte, was alles passiert war, konnte es ihm kaum besser gehen. Wo Forsythe der Verschwörung angeklagt war, war Tversky so gut wie aus dem Schneider. Selbst wenn Forsythe irgendjemandem erzählte, dass Tversky Julia umgebracht hatte – wozu für Forsythe kein Grund bestand –, wer würde ihm glauben? Das war fast zu schön, um wahr zu sein.
Schade nur, dass ihm der Großteil seiner Daten verloren gegangen war, aber Tversky war zuversichtlich, dass sich David Caines hirnchemische Situation nachbilden ließ. Er brauchte nur Zeit, und daran mangelte es ihm hier in Mexiko nicht. Jeden Morgen warf Tversky einen Würfel, um festzulegen, wohin er als Nächstes fuhr. Wenn er sich nach dem Zufallsprinzip durch das Land bewegte, würde David ihn hoffentlich nicht aufspüren können.
Er loggte sich aus, bezahlte dem Mann hinter dem Tresen zwanzig Pesos und trat auf die Straße. Binnen Sekunden war er in Schweiß gebadet. Die Sonne Mexikos brannte herab, und Tversky schirmte die Augen ab. Herrgott, war das heiß. Und dann dieser Mülltonnengeruch, ein ekelhafter Gestank, der alle anderen Sinneseindrücke überlagerte.
Tversky machte sich raschen Schrittes auf den Weg zurück zu seiner Cabana, um dem Gestank zu entkommen, da sah er drüben auf der anderen Straßenseite einen Eisverkäufer. Der kam ihm gerade recht, denn seit ihm dieser Gestank in die Nase gestiegen war, hatte er unvermittelt ein ungeheures Verlangen nach Schokoladeneis empfunden. Ohne nach links und rechts zu schauen, lief er über die Straße zu dem Eiskarren.
Den Bus sah er erst, als es zu spät war. Der Aufprall schleuderte Tversky durch die Luft. Er landete gerade rechtzeitig auf dem Boden, um von den Vorderrädern des Busses zerquetscht zu werden. Seine Rippen zersplitterten in Hunderte von Bruchstücken, die sich gleichzeitig in sein Herz und in die Lungenflügel bohrten.
Er hörte mehrere Menschen auf Spanisch nach einem Arzt rufen, aber er wusste, dass es zu spät war. Als die Dunkelheit ihn einhüllte, war er froh, dass zumindest der Gestank wieder verschwunden war. Was hatte ihn so unwiderstehlich auf die Straße gezogen? Hätte er noch einige Sekunden länger gelebt, wäre ihm vielleicht die Bedeutung des Geruchs aufgegangen, aber dazu blieb ihm keine Zeit mehr.
Während sein Bewusstsein erlosch, schoss ihm ein letzter Gedanke durch den Kopf: Eigentlich mag ich doch gar kein Eis.
Einen Monat zuvor, in einem Müllcontainer, drückte Julia ein letztes Mal Navas Hand und starb, ein Lächeln auf den Lippen und Schokoladeneis im Sinn.