Kapitel // 9 //

Jasper war fort, als Caine erwachte. An der Couch klebte ein kleiner gelber Zettel, auf dem stand: Muss was erledigen, komme später wieder. Caine wusste nicht, was sein Bruder zu erledigen hatte, machte sich aber weiter keine Sorgen. Jasper war zwar geistig ein wenig labil, aber es war offensichtlich, dass er in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern. Caine war es, der Probleme hatte.

Er konnte kaum fassen, was in der Nacht geschehen war. Es kam ihm so unwirklich vor. Er beschloss, Kaffee aufzusetzen; Koffein half ihm immer beim Denken. Als er lauschte, wie die Flüssigkeit in die Kanne tropfte, bemerkte er, dass das rote Lämpchen an seinem Anrufbeantworter hektisch blinkte. Resigniert drückte er auf den Wiedergabeknopf. Dann erfüllte Vitaly Nikolaevs samtige Stimme den Raum.

«Hallo, Caine, Vitaly hier. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Ihnen geht. Warum kommen Sie nicht mal im Club vorbei? Ich mache mir Sorgen um Sie.»

«Das glaube ich gern», sagte Caine. Bei den übrigen fünf Nachrichten hatte der Anrufer aufgelegt. Das Gleiche bei der Mailbox seines Handys. Es war jetzt Dienstag; er schuldete Nikolaev die elftausend Dollar seit zwei Kalendertagen. Da Nikolaev fünf Prozent Zinsen verlangte, stand er nun mit 11 157 Dollar bei ihm in der Kreide. Er steckte bis zum Hals in der Scheiße.

Auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause hatte er sein Girokonto leer geräumt. Die 438,12 Dollar, die er besaß, entsprachen nicht einmal den Zinsen für eine Woche. Er musste sich überlegen, was er in Sachen Nikolaev unternehmen sollte. Caine ging das Problem an wie ein guter Statistiker: Er ermittelte die möglichen Ergebnisse der einzelnen Szenarien, um so zu entscheiden, wie er am besten vorging.

Dummerweise blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: bezahlen oder verschwinden.

Doch wegen seiner Anfälle kam Zweiteres nicht in Frage. Er konnte unmöglich die Mücke machen und gleichzeitig weiter das experimentelle Medikament einnehmen. Er musste zweimal wöchentlich zur Blutabnahme ins Krankenhaus, und er hatte nur zwanzig Tabletten, die würden gerade mal zehn Tage reichen. Selbst wenn er eine Möglichkeit fand, Kozlov zu entkommen – seinen Anfällen entkam er nicht. Nein, er musste weiter an Dr. Kumars Studie teilnehmen, und sei es auch nur, um es wenigstens versucht zu haben.

Also musste er zahlen. Entweder das oder Frieden schließen mit Nikolaev. Vielleicht konnte er seine Schulden abarbeiten. Caine schüttelte den Kopf, als ihm dieser Einfall in den Sinn kam. Als was denn abarbeiten? Als Gangster? Doch wohl eher nicht. Er seufzte. Er kam nicht umhin: Er musste das Geld besorgen.

Doch wie sollte er so viel Geld beschaffen? Die Antwort lag auf der Hand: genau so, wie er es verloren hatte: mit Zocken. Unwillkürlich betastete er das dünne Geldbündel in seiner Tasche. Er konnte mit seinen vierhundert Dollar in einen anderen Club gehen und versuchen, etwas daraus zu machen. Dass es ihm gelang, war nicht völlig unwahrscheinlich.

Wenn er Glück hatte, konnte er bis zum Morgen ein paar Tausender gewinnen. Wenn er verlor, steckte er natürlich noch tiefer in der Scheiße. Und wenn Nikolaev erfuhr, dass Caine in einem anderen Club spielte, würde das den Russen nicht erfreuen.

Wie wäre es mit Atlantic City? Er konnte mit dem Bus dorthin fahren und vielleicht am Pokertisch ein paar Touristen ausnehmen. Er würde auf jeden Fall gewinnen, wenn er vorsichtig spielte; das Problem war bloß, dass es zu lange dauern würde. Die todsicheren Verlierer setzten nur ein paar Dollars, und außerdem saß an jedem Tisch mindestens ein echter Könner. Bei solch kleinen Einsätzen konnte Caine nur zwanzig bis dreißig Dollar die Stunde verdienen. Das war nicht schlecht, aber es war zu wenig, und es kam zu spät. Selbst wenn er sechzehn Stunden am Stück spielte, sackte er nur 320 bis 480 Dollar ein; bei dieser Quote musste er 116 Tage nacheinander gewinnen.

Nein, ein Spielkasino kam nicht in Frage. Und was einen anderen Pokerclub anging: Diese Option wollte sich Caine für ein andermal offen halten. Die Alternative bestand darin, sich eine Arbeit zu suchen, aber er konnte unmöglich schnell genug einen normalen Job finden. Nicht bei dieser Wirtschaftslage und nicht mit seinem Lebenslauf, in dem eine riesige Lücke der Untätigkeit klaffte. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das Vorstellungsgespräch ablaufen würde:

«Also, Mr. Caine, was haben Sie denn seit 2002 gemacht?»

«Na ja, ich war ein paar Monate lang ans Bett gefesselt, weil ich dazu neige, ein paar Mal die Woche Wahnvorstellungen zu bekommen, und dann kriege ich Krämpfe. Aber seit September bin ich Stammgast in Vitaly Nikolaevs Pokerclub. Beim Texas Hold ’Em bin ich kaum zu schlagen. Ach, und apropos: Könnten Sie mir elftausend Dollar vorschießen? Die muss ich an die Russenmafia zahlen, sonst bringen die mich um.»

Oder vielleicht konnte er einem seiner Professoren ein Forschungsstipendium aus dem Kreuz leiern. Das war eine gute Idee, aber in der Theorie wahrscheinlich besser als in der Praxis. Bei diesen Stipendien gab es immer mehrere Bewerber; und er würde unmöglich einen so hohen Vorschuss bekommen; außerdem sprangen dabei sowieso nur ein paar Kröten raus. Das große Geld kam aus dem privaten Sektor, und deshalb hatten die führenden Professoren auch alle nebenbei Beraterverträge bei Wallstreet-Unternehmen.

Plötzlich hatte Caine eine Idee: Er konnte seinen Doktorvater bitten, ihn für eins seiner Projekte zu engagieren. Wenn Caine ihn auf Knien anflehte, würde Doc ihm vielleicht die analytische Kärrnerarbeit übertragen. Ja, wenn er Glück hatte, würde ihm Doc sogar ein wenig Geld vorschießen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach zehn.

Doc gab normalerweise um halb Elf eine Einführungsveranstaltung zur Statistik an der Columbia. Solche Veranstaltungen waren ihm lieber als Seminare, denn so blieb ihm mehr Zeit für seine Forschungen. Wie den meisten Professoren war Doc das Unterrichten zuwider, auch wenn man das nicht geahnt hätte, wenn man einmal gesehen hatte, was für eine Show er vor den Studenten abzog.

Ein Anruf bei der Univerwaltung bestätigte, dass heute Docs erste Veranstaltung des Semesters stattfand. Wenn Caine sich beeilte, konnte er Doc noch vorher abpassen. Er schnappte sich seine Lederjacke, und da fiel ihm das Fläschchen mit den weißen Kapseln aus der Tasche, was ihn daran erinnerte, dass es Zeit war, das Medikament zu nehmen. Als er sich eine Tablette auf die Hand schüttete, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob die akustischen Halluzinationen der vergangenen Nacht durch das experimentelle Medikament ausgelöst worden waren.

Er hatte Angst davor, eine weitere Pille zu nehmen, hatte aber noch größere Angst davor, was passieren würde, wenn er keine nahm. Ehe er womöglich noch die Nerven verlor, schluckte er die Kapsel trocken herunter und verließ dann die Wohnung. Als er die Treppe hinunterlief, glaubte er, etwas vergessen zu haben, kam aber einfach nicht drauf, was es war. Caine gab es schnell auf, darüber nachzugrübeln, denn er wusste, dass es ihm früher oder später wieder einfallen würde.

So war das schließlich immer.

 

Zwanzig Minuten später atmete Caine einmal tief durch und betrat dann den Hörsaal. Er nahm ganz hinten Platz. Sein Herz pochte wild, aber noch hatte er nicht das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Er würde es durchstehen. Es war nur ein Raum wie jeder andere. Es war ja nicht so, dass er unterrichten musste. Alles würde gut gehen, solange er einfach nur dort saß.

Vorn im Saal nahm sich Doc gerade ein Stück Kreide und schrieb in großen Lettern an die Tafel:

Ein paar Studenten lachten. «Ist jemand anderer Meinung?» Niemand meldete sich. «Also gut, da wir das nun hinter uns gebracht haben, möchte ich Ihnen versichern, dass diese Veranstaltung Ihre Zeit wert sein wird, denn heute werden wir nicht über Wahrscheinlichkeitstheorie sprechen. Wir werden über das Leben sprechen. Und das Leben ist interessant. Zumindest meines. Ich weiß natürlich nicht, wie es bei Ihnen aussieht.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist das Leben – nur in Zahlen ausgedrückt», fuhr er fort. «Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben. Dafür brauche ich einen Freiwilligen.» Etliche Hände wurden hochgerissen. Genau in diesem Moment knallte die Tür hinten im Hörsaal zu, und alle sahen sich zu dem Zuspätkommenden um. Der Student schlich sich schon zu einem Platz, die Augen fast hinter dem Schirm einer Baseballkappe verborgen. Doc ging mit zügigen Schritten zu ihm und packte seinen Arm.

«Das nenne ich einen Zwangsfreiwilligen.» Doc hielt den Arm des Studenten hoch wie ein Ringrichter den eines Profiboxers. «Wie heißen Sie?»

«Mark Davis.»

Die beiden gingen nach vorn, Doc nahm ein beschriftetes Blatt Papier von seinem Pult und reichte es Mark. «Was ist das?»

«Äh … Sieht aus wie eine Namensliste.»

«Genau. Und jetzt sagen Sie mir: Wie viele Studenten sind da aufgelistet?»

Mark schwieg eine Weile und hob dann wieder den Blick. «Achtundfünfzig.»

«Und sind neben den Namen die Geburtsdaten angegeben?»

«Nein.»

«Das wird ein Spaß», sagte Doc verschwörerisch zum Auditorium und wandte sich dann wieder an Mark. «Wetten Sie gern?»

«Klar.»

«Ausgezeichnet!» Doc faltete die Hände. Er zog fünf druckfrische Eindollarscheine aus der Tasche und zeigte sie den Studenten, wie ein Zauberer, der gleich ein Kunststück vorführen wird. «Ich wette mit Ihnen um fünf Dollar, dass mindestens zwei Leute hier im Saal am gleichen Tag Geburtstag haben. Was meinen Sie?»

Mark sah die Studenten an und wandte sich dann mit einem süffisanten Lächeln wieder an Doc. «Okay. Ich halte dagegen.»

«Phantastisch. Dann lassen Sie mal sehen.»

Mark runzelte verwirrt die Stirn.

«Das Geld, die Knete.»

Mark zuckte die Achseln und zog einen verknüllten Fünfdollarschein aus der Hosentasche.

Doc zupfte ihm den Geldschein aus der Hand und knallte ihn auf das Pult. Dann wandte er sich wieder ans Auditorium und zeigte lächelnd mit dem Daumen auf Mark. «Was für ein Trottel», sagte er. Die Zuhörer lachten, und Mark wurde rot. «Wenn Mark sich auch nur ein bisschen mit dem Leben auskennen würde – das heißt mit der Wahrscheinlichkeit –, dann wüsste er, dass er gerade einen sehr dummen Fehler gemacht hat. Kann mir jemand sagen, warum?»

Keine Reaktion.

«Also gut, dann brauchen wir weitere Freiwillige.» Niemand meldete sich. Da entdeckte Doc Caine. Caine versuchte sich zu ducken, aber es war schon zu spät. «Wir haben heute einen ganz besonderen Gast. Einen meiner besten Doktoranden: David Caine. David, heben Sie die Hand.» Caine hob zögernd eine Hand. Seine Kehle war trocken. Die übrigen Zuhörer drehten sich um und starrten ihn an. «Ich nenne David immer Rain Man, denn er ist der Einzige in der ganzen Fakultät, der keinen Taschenrechner braucht. Würden Sie mir helfen, David?»

«Habe ich denn die Wahl?», fragte Caine und versuchte zu ignorieren, dass sein Herz pochte, als würde es jeden Augenblick platzen.

«Nein, haben Sie nicht», erwiderte Doc.

«Also dann ist es mir eine Ehre.» Die Studenten kicherten. Caine zwang sein Herz, langsamer zu schlagen. Das war wie Fahrrad fahren. Er würde das hinbekommen.

«Ausgezeichnet», sagte Doc und faltete die Hände. «Wie hoch ist die Chance, dass Sie und ich den gleichen Geburtstag haben?»

«Ungefähr 0,3 Prozent.»

«Erklären Sie uns Normalsterblichen bitte, wie Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind.»

«Das ist eins geteilt durch 365.»

«Genau. Da jeder von uns an einem der 365 Tage des Jahres geboren wurde, steht die Chance genau eins zu 365, dass Sie und ich am gleichen Tag geboren wurden.» Doc lief zur Tafel und schrieb:

«Haben das alle verstanden?» Papiergeraschel und Gemurmel ertönten. Den Studenten wurde klar, dass es Zeit war, sich Notizen zu machen. «Also gut, wenn ich Sie gefragt hätte, ob Sie wetten wollen, dass wir nicht den gleichen Geburtstag haben, hätten Sie mitgemacht, nicht wahr?»

«Ja.»

«Und das wäre eine kluge Entscheidung gewesen; Sie hätten wahrscheinlich gewonnen. Ich wurde am neunten Juli geboren. Wann ist Ihr Geburtstag?»

«Am achtzehnten Oktober.»

«Sehen Sie. Die Chance stand eins zu 365, dass wir den gleichen Geburtstag haben, und 364 zu 365, dass dem nicht so ist. Jetzt sagen Sie mir, wie hoch die Chance ist, dass Sie den gleichen Geburtstag haben wie irgendjemand hier im Raum, mich eingeschlossen.»

Caine dachte kurz nach und hob dann wieder den Blick. «Die beträgt 14,9 Prozent.»

«Genau. Erklären Sie das bitte.»

«Wenn man berechnen will, wie groß die Chance ist, dass ich am gleichen Tag Geburtstag habe wie einer der übrigen 59 Menschen hier im Raum, muss man zunächst berechnen, wie groß die Chance ist, dass ich nicht am gleichen Tag Geburtstag habe wie jemand anders, und das ist 364 durch 365 hoch 59. Das heißt, ich berechne die Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht am gleichen Tag Geburtstag habe wie ein anderer hier, und potenziere das mit 59.»

Doc schrieb es währenddessen an die Tafel:

«Da», fuhr Caine fort, «die Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht am gleichen Tag Geburtstag habe wie jemand anders, 85,1 Prozent beträgt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass ich am gleichen Tag Geburtstag habe wie jemand anders, 14,9 Prozent.»

«Ausgezeichnet», sagte Doc. «Können alle noch folgen?» Etliche Köpfe nickten, und die Studenten schrieben weiter Docs Gleichungen mit.

«Okay, dann gehen wir nochmal einen Schritt zurück. Wenn wir wissen, dass Sie und ich nicht den gleichen Geburtstag haben, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl Sie als auch ich an einem anderen Tag Geburtstag haben als alle anderen hier?»

Caine räusperte sich. «Da muss man zunächst die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass ich nicht am gleichen Tag Geburtstag habe wie jemand anders – die, wie wir bereits wissen, 85,1 Prozent beträgt –, und anschließend die Wahrscheinlichkeit, dass Sie nicht am gleichen Tag Geburtstag haben wie jemand anders, wobei man berücksichtigt, dass wir beide nicht am gleichen Tag Geburtstag haben.»

«Halt halt, das geht viel zu schnell», sagte Doc dramatisch. Er warf sein Kreidestück quer durch den Raum Caine zu, der es instinktsicher fing. «Können Sie herkommen und mir zeigen, was Sie meinen?»

Alle drehten sich zu ihm um. Seine Hände waren schweißnass, und sein Herz pochte, aber irgendwie gelang es ihm aufzustehen. Als er dann nach vorne zum Podium ging, kam ihm jeder Schritt wie eine Ewigkeit vor. Und dennoch wurde er umso selbstsicherer, je näher er der Tafel kam. Bis er sie schließlich erreichte und vor den Studenten stand, wie er es immer getan hatte. Er blinzelte rasch ein paarmal, aber die Welt blieb im Gleichgewicht. Dr. Kumars Medikament wirkte. Er war wieder da, wo er hingehörte.

«Äh, also gut», sagte Caine und wandte sich an das Auditorium. «Wie ich schon sagte, wissen wir bereits, dass Doc und ich nicht am gleichen Tag Geburtstag haben. Um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, dass keiner von uns beiden am gleichen Tag Geburtstag hat wie jemand anders hier, muss man zunächst die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass Doc nicht am gleichen Tag Geburtstag hat wie jemand anders hier.

Das mache ich auf die gleiche Weise, wie ich schon berechnet habe, dass ich nicht am gleichen Tag Geburtstag habe wie jemand anders hier, bloß dass ich diesmal 363 als Zähler nehme und 364 als Nenner, denn ich weiß ja bereits, dass wir nicht am gleichen Tag Geburtstag haben, und muss daher einen Tag abziehen. Dann potenziere ich diesen Bruch mit 58 statt 59, denn ich muss ihn ja nur noch mit 58 Leuten hier im Raum vergleichen, nicht mehr mit 59, denn mich selbst schließe ich dabei aus.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Doc nicht am gleichen Tag Geburtstag hat wie jemand anders hier, beträgt folglich 85,3 Prozent.»

Caine wandte sich wieder ans Auditorium. Einen widerlichen Moment lang sah er kurz die Palmenhände und spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Es war alles in Ordnung. Die Palmen waren verschwunden. Er atmete tief durch und fuhr fort.

«Wenn Sie also wissen wollen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass keiner von uns beiden am gleichen Tag Geburtstag hat wie jemand anders hier, müssen Sie die beiden Wahrscheinlichkeiten miteinander multiplizieren.»

«Die Wahrscheinlichkeit, dass weder Doc noch ich am gleichen Tag Geburtstag haben wie jemand anders hier, beträgt 72,5 %. Die Wahrscheinlichkeit, dass entweder Doc oder ich am gleichen Tag Geburtstag haben wie jemand anders hier, beträgt daher 27,5 Prozent.»

«Können noch alle folgen?» Docs Zwischenruf überraschte Caine. Caine hatte fast vergessen, dass er selbst hier gar nicht der Dozent war. «Ausgezeichnet», sagte Doc, als alle nickten. «Okay, letzte Frage: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei beliebige Leute hier den gleichen Geburtstag haben?»

«Also», sagte Caine und wandte sich wieder zur Tafel um, «vorausgesetzt, wir wissen nicht, dass wir beide nicht den gleichen Geburtstag haben, wiederholt man die Berechnung, mit der ich ermittelt habe, ob wie beide den gleichen Geburtstag haben, für jeden einzelnen Studenten hier und zieht dabei jeweils vom Zähler eins ab.

«Da es nur eine Chance von 0,6 Prozent gibt, dass niemand hier den gleichen Geburtstag hat wie ein anderer, liegt die Chance bei 99,4 Prozent, dass mindestens zwei Leute den gleichen Geburtstag haben.»

Doc klatschte langsam in die Hände. Er drehte sich um, steckte die Geldscheine ein und klopfte Mark auf den Rücken. «Danke für Ihr Geld, Mr. Davis. Sie können sich jetzt wieder setzen.»

«Moment mal», protestierte Mark.

«Was möchten Sie?»

«Nur weil Ihr Kumpel sagt, dass ich falsch liege, muss das noch lange nicht stimmen.»

«Ah, ein Ungläubiger. Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht an die Wahrscheinlichkeitstheorie glauben?»

«Nicht immer», sagte Mark grinsend.

«Blasphemie!», rief Doc und hob die Hände wie ein Prediger. «Meine Brüder und Schwestern, wir haben einen Ungläubigen unter uns! Helft mir, die Seele dieses Mannes zu erretten! Alle, die im Januar geboren wurden, stehen jetzt bitte auf.»

Vier Studenten erhoben sich von ihren Plätzen. «Nennen Sie einer nach dem anderen Ihren Geburtstag, von hinten nach vorn.»

Alle hatten an unterschiedlichen Tagen Geburtstag. Marks Grinsen wurde breiter. Doc zuckte nur mit den Achseln. «Das Grinsen würde ich mir an Ihrer Stelle verkneifen. Das wird gleich sehr dumm aussehen.» Doc wandte sich wieder ans Auditorium. «Okay, die Januarkinder setzen, die Februarkinder aufstehen und Geburtstage nennen.»

Diesmal erhoben sich fünf Studenten. Wiederum hatten keine zwei am gleichen Tag Geburtstag. Das gleiche Ergebnis bekam er im März, April, Mai und Juni. Mark grinste immer süffisanter. Bis dann die im Juli Geborenen dran waren, ihren Geburtstag zu nennen.

Ein dünner Maschinenbauer: «Dritter Juli.»

Ein großer, sportlicher Kerl mit Bürstenhaarschnitt: «Zwölfter Juli.»

«Hey, ich auch! Zwölfter Juli!», rief eine zierliche Asiatin, die ein rosa T-Shirt trug.

Doc strahlte übers ganze Gesicht, breitete die Arme aus und verbeugte sich. «Quod erat demonstrandum.»

Marc fluchte und setzte sich wieder.

«Was ist also die Moral von der Geschicht? Erstens: Je größer das Sample, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit. Mit anderen Worten: Bei genauer Beobachtung kann – und wird – alles einmal passieren, ganz egal, wie unwahrscheinlich es ist. Wenn wir heute, sagen wir mal, zu zehnt wären, würde Mark vielleicht nicht als Verlierer nach Hause gehen, denn dann läge die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen den gleichen Geburtstag haben, bei … Rain Man, helfen Sie mir.»

Caine schloss für ein paar Sekunden die Augen. «Bei nur etwa zwölf Prozent.»

Doc lächelte. «Genau. Wo war ich? Ach ja, die zweite Moral von der Geschicht.» Er sah Mark direkt an. «Die Wahrscheinlichkeitstheorie irrt nie. Glauben Sie daran, denn sie ist der einzig wahre Gott.»

Doc verbeugte sich knapp, und ein paar Leute applaudierten tatsächlich. Er strahlte. «Also gut, und nun zu Ihrer Lektüre.»

Caine nahm das als Stichwort, sich wieder zu setzen. Als er den Gang hinaufging, spürte er überwältigende Freude. Er hatte es geschafft. Obwohl immer noch zwei Damoklesschwerter namens Epilepsie und Vitaly Nikolaev über seinem Kopf hingen, kümmerte sich Caine für einen Moment nicht darum. Ein paar Minuten lang hatte er Studenten unterrichtet. Zum ersten Mal seit fast anderthalb Jahren glaubte Caine, dass er vielleicht in sein altes Leben würde zurückkehren können. Wenn er das früher gewusst hätte, hätte er nicht so lange gezögert, an Dr. Kumars klinischem Versuch teilzunehmen.

Eine Dreiviertelstunde später beschloss Doc die Veranstaltung. «Das war’s für heute. Wir sehen uns am Mittwoch wieder. Und wenn wir Glück haben, wird sich Mr. Caine vielleicht wieder zu uns gesellen.»

Die meisten Studenten drängten sich schnell aus dem Hörsaal, aber Caine sah auch einige Streber, die sich um Doc scharten und ihm Fragen stellten. Als auch sie gegangen waren, ging Caine zu seinem alten Mentor.

«Es ist sehr schön, Sie wieder zu sehen, Caine.» Doc klopfte ihm auf die Schulter. «Wissen Sie, wir sollten wirklich mal mit unserer Show auf Tournee gehen.»

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dafür Eintritt zahlen würde.»

«Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! 58 Studenten, und jeder von ihnen zahlt 14 000 Dollar Studiengebühren für vier Kurse wie den hier. Das macht …»

Caine blinzelte. «134,62 Dollar pro Student und Veranstaltung.»

«Genau!»

«Nicht schlecht», sagte Caine. «Dann beläuft sich meine Hälfte für heute auf 3904 Dollar. Können Sie mir einen Scheck ausstellen?»

 

Der weiße Lieferwagen mit der weltweit bekannten Aufschrift in blau-orangen Blockbuchstaben hielt direkt gegenüber von Sam’s Diner, und der Motor wurde abgestellt. Der FedEx-Laster war einer von vierzig, die eine Deckfirma im Auftrag der NSA erworben hatte. Vom äußeren Erscheinungsbild abgesehen, hatte der Wagen aber kaum etwas gemeinsam mit den anderen LKW des Frachtunternehmens; er war nun mit einem leistungsstarken Motor und ausgefeilter Überwachungstechnik ausgerüstet.

Keiner der drei Männer im Wagen konnte sich mit irgendetwas ausweisen – nur mit den falschen Namensschildern auf den gestohlenen Uniformen. Steven Grimes war der Teamleiter. Er war einer der führenden Überwachungsspezialisten des Landes, auch wenn er mit seinem fettigen schwarzen Haar und dem gespenstisch blassen Teint nicht unbedingt danach aussah.

Wenn er im Überwachungszentrum war, saß er auf einem großen, ledernen Kapitänsstuhl, von dem aus er zehn Monitore sehen und auf fünf Tastaturen zugreifen konnte. Draußen im Feld jedoch musste er sich ein wenig einschränken; dort hatte er nur drei Monitore, zwei Tastaturen und einen kleinen, am Boden festgeschraubten Drehstuhl. Dennoch war er in dem Wagen in seinem eigentlichen Element, denn Grimes war im Grunde seines Herzens am liebsten draußen im Einsatz.

Vor allem liebte er es zu beobachten. Wenn es um Voyeurismus ging, war Grimes nicht zu schlagen. Trotz geringer Schulbildung war er ein Elektronik-Genie und dank seines Verbrechervaters auch ein sehr erfahrener Einbrecher. Diese beiden Fähigkeiten ermöglichten es ihm, winzige Kameras zu bauen und an beliebiger Stelle anzubringen, womit er in seinem zweiten Jahr auf der Highschool in der Mädchenumkleide begonnen hatte. Nachdem er von der Schule geflogen war, beschloss Grimes, das Beobachten zu seinem Beruf zu machen, und bewarb sich bei der NSA. Als seine erste Bewerbung kurz und knapp abgelehnt worden war, gelang es ihm, die Personalabteilung umzustimmen, indem er als Hacker ins Netzwerk der NSA eindrang und dem Leiter der Kryptographischen Abteilung einen persönlichen Brief schrieb, der auf dem Bildschirm des Mannes auftauchte, als dieser sich einloggte.

Grimes wurde vom Fleck weg engagiert, und die nächsten acht Jahre glichen dem Wunschtraum eines jeden Voyeurs. Er bekam ein eigenes Elektroniklabor und ein fast unbeschränktes Budget für die Entwicklung von Spionagegerätschaften. Das Einzige, was ihm an seinem Job gegen den Strich ging, waren die bürokratischen Hemmnisse und sein Vorgesetzter, Dr. James Forsythe. Forsythe – oder, wie Grimes ihn gerne nannte, Dr. Jimmy – war eine absolute Nervensäge, schlimmer als die ganzen Militärwichser zusammengenommen.

Bis vor kurzem hatten sie ein wechselseitig vorteilhaftes, wenn auch bissiges Verhältnis zueinander gehabt. Das war jedoch, bevor Grimes dank eines Aktientipps von Forsythe sein ganzes Geld verloren hatte. Wäre Dr. Jimmy nicht gewesen, dann hätte Grimes immer noch über zweihunderttausend Dollar auf der hohen Kante. Zwei Monate zuvor jedoch hatte Grimes sein ganzes Erspartes in die Firma philoTech investiert, weil Dr. Jimmy ihm erzählt hatte, Senator Daniels würde ein großes Rüstungsvorhaben unterstützen, das dem Unternehmen einen fetten Staatsauftrag einbringen würde.

Als die Nachricht über das Rüstungsprogramm einige Wochen später über die Ticker ging, schoss der Aktienkurs des Unternehmens von 20 ¼ auf 101 ½ Dollar in die Höhe. Doch statt abzukassieren, investierte Grimes noch einmal den gleichen Betrag, da er wusste, dass der Regierungsauftrag das dreifache Volumen dessen hatte, wovon die Wallstreet ausging. Er war fest entschlossen, ein Vermögen zu verdienen, doch dann starb Daniels eines Nachts, und damit war auch das Geschäft gestorben. Kein Daniels, kein Rüstungsvorhaben, kein Regierungsauftrag für philoTech. Und das war, bevor der Buchhaltungsskandal Schlagzeilen machte.

Der Börsenkurs fiel am nächsten Tag binnen einer Stunde um 98 Prozent, und Grimes war ruiniert. Was er investiert hatte, war nun nicht einmal mehr zehntausend Dollar wert. Aber teilte Forsythe sein Leid? Von wegen. Das Arschloch hatte abgesahnt, sobald der Aktienkurs einen dreistelligen Wert erreichte, und hatte einen Riesenhaufen Geld verdient.

Grimes konnte nichts mehr daran ändern. Und schlimmer noch: Sich an Forsythe zu halten war für ihn die einzige Möglichkeit, wieder an Geld zu kommen, und da saß er nun und tat, was der kleine Kerl von ihm verlangte. In diesem Moment läutete sein Telefon, und er drückte an seinem Pult auf einen Knopf. Statt der MP3-Datei, der er gelauscht hatte, erklang nun Dr. Jimmys nervige Stimme.

«Können Sie schon was hören?», fragte Forsythe, ohne auch nur Hallo zu sagen.

«Immer schön locker bleiben, Dr. Jimmy», sagte Grimes und genoss das Gekicher der anderen Männer im Wagen. «Augy arbeitet daran. In ein paar Minuten sind wir auf Sendung.»

«Gut», knurrte Forsythe. «Machen Sie es dann über Ethernet zugänglich, wenn Sie so weit sind.»

Dr. Jimmy legte auf, und Grimes widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Monitor, der irgendeinen älteren Kerl in einem Restaurant zeigte. Er fragte sich, was an Tversky so wichtig war, dass Dr. Jimmy Grimes’ Team befohlen hatte, dem Typ beim Mittagessen zuzusehen.