Kapitel // 22 //

«Verehrte Fahrgäste, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass dieser Zug ausnahmsweise an den folgenden Bahnhöfen nicht hält: Newark, Metropark, Princeton Junction und Trenton.»

Einige Fahrgäste murrten, fragten sich, was los sei.

«Amtrak bittet um Entschuldigung, wenn Ihnen dadurch Unannehmlichkeiten entstehen. Nächster Halt Thirtieth Street Station, Philadelphia.»

Beim letzten Satz gab es einen kleinen Aufruhr unter den Pendlern, aber Nava schenkte dem keine Beachtung. Ihr war klar, dass es am nächsten Tag höchstens ein paar böse Briefe geben würde, wenn überhaupt. Vielmehr wandte sie ihre Aufmerksamkeit Caine zu, der aus dem Fenster starrte.

«Was haben Sie gemacht?», fragte sie.

Caine sah sie an. «Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.»

«Quatsch», fauchte Nava. «Sie haben das verursacht, stimmt’s?»

«Sie sind ja paranoid», erwiderte Caine.

«Und Sie lügen.»

Caine antwortete nicht. Er sah wieder aus dem Fenster. Sie wusste nicht wie, aber irgendwie hatte er das geschehen lassen. Als sie zum ersten Mal Tverskys Theorie über den Laplace’schen Dämon gelesen hatte, hatte Nava nicht daran geglaubt. Nicht ernsthaft. Deshalb war sie so schnell bereit gewesen, Julia an die RDEI zu übergeben.

Bei dem Gedanken an die Nordkoreaner und das Kopfgeld, das jetzt bestimmt auf sie ausgesetzt war, weil sie sich ihnen widersetzt hatte, wurde ihr ganz anders. Sie versuchte, nicht an die eigene verzweifelte Lage zu denken, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann neben sich zu. Nava hielt es für möglich, dass er gewisse paranormale Fähigkeiten besaß. Aber dennoch … Es war ein Unterschied, ob man die Zukunft vorhersagen oder ob man sie lenken konnte.

Trotzdem: Der Umstand, dass der Zug bis Philadelphia nicht mehr hielt … wie hoch standen da die Chancen? Was konnte den Zugführer veranlasst haben, die nächsten vier Haltestellen zu überspringen? Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. Es ergab keinen Sinn. Tversky hatte geschrieben, dass Caine seine Fähigkeiten nicht bewusst einsetzte. Aber nach dem, was gerade passiert war, war sich Nava da nicht so sicher. Sie hatte gelernt, auf ihre Instinkte zu vertrauen, und im Moment schlugen ihre Instinkte Alarm.

Sie sah wieder zu Caine hinüber. Aber diesmal hatte ihr Blick nichts Forschendes. Diesmal stand Angst darin.

 

Grimes legte Fitz und Murphy auf den Lautsprecher, damit Crowe mithören konnte, was die beiden sagten. Das meiste sagte Fitz, aber Murphy warf ab und zu auch etwas ein, vor allem, um gut dazustehen – oder zumindest nicht mehr ganz so blöd, weil er einfach an dieser Wand eingepennt war. Als sie fertig waren, sah Grimes zu Crowe hoch.

«Was meinen Sie?»

«Ich meine, dass ein plötzlicher Anfall von Schlafsucht ziemlich unnormal ist. Vor allem für einen Dreiundvierzigjährigen ohne auffällige medizinische Vorgeschichte», sagte Crowe ernst.

«Aber was hat das zu bedeuten? Denken Sie, Caine und Vaner sind in dem Zug?» Das war genau Grimes’ Part. Observieren war cool, aber eine Zielperson zu jagen, zu versuchen, sie in den Tausenden von Fischaugenobjektiven überall im Land aufzutreiben, das gab ihm den letzten Kick. Und Crowe war ein Experte darin, aber hallo.

«Erzählen Sie mir von dem Zug. Irgendwas Ungewöhnliches an der Fahrt bisher?»

«Augenblick, ich überprüf’s mal.» Grimes knackte in nicht mal einer Minute die Firewall von Amtrak. Einer seiner Plasmabildschirme zeigte jetzt eine Karte der Ostküste, ein Äderwerk von Eisenbahnlinien, die die Küste entlangliefen. «Wow … das ist interessant.» Grimes stellte seinen Kopfhörer lauter. «Anscheinend ist der Zugführer durchgedreht und hat beschlossen, den Zug zu entführen. Irgendwas wegen seiner Frau, die ein Baby kriegt und so schnell wie möglich nach Philly muss. Mann, der Typ ist so was von gefeuert.»

Crowe beugte sich vor, das interessierte ihn dann doch. «Können Sie die Datenbank von Amtrak durchsuchen und herausfinden, wie oft Angestellte schon Züge entführt haben?»

«Klar doch.» Grimes brauchte nur ein paar Sekunden, dann hatte er das richtige Menü gefunden und bekam die Daten. «Hier. In den fünfzehn Jahren, die sie das jetzt aufzeichnen, ist es nur achtzehnmal passiert.»

«Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit.»

Grimes hielt das für eine merkwürdige Aufforderung, aber Crowe hatte hier das Sagen. «Mal sehen, wenn wir annehmen, dass sich der Fahrplan in den letzten fünfzehn Jahren nicht geändert hat, wären das bei hundert Fahrten am Tag 36 500 Fahrten im Jahr, multipliziert mit fünfzehn Jahren macht …» – Grimes hackte die Ziffern in sein Tastenfeld – «… 547 500 Fahrten. Und da es nur achtzehn Zugentführungen gab, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 0,003 Prozent oder etwa eins zu dreißigtausend.»

Crowe schlug sich zufrieden die Faust in die Handfläche. «Das ist Caine. Er ist in diesem Zug.»

«Wollen Sie, dass ich die Kavallerie rufe?»

«Augenblick noch.» Crowe hob die Hand. «Wie lange dauert es, bis der Zug in Philadelphia eintrifft?»

«Muss ich mal gucken, Moment.» Grimes manövrierte sich durch die Menüs zurück in die Ankunftsdaten. «Sie werden in ungefähr 47 Minuten dort eintreffen.» Er grinste. «Sind ein bisschen früh dran heute.»

«Haben wir einen Hubschrauber auf dem Dach?»

«Jau.» Grimes nickte. «Betankt und startbereit. Soll ich den Piloten verständigen?»

Crowe lief bereits den Flur zum Fahrstuhl hinab. Grimes fasste es als ein Ja auf.

 

Binnen vier Minuten waren sie anderthalb Kilometer über der Stadt. Bei 200 km/​h sollten sie gleichzeitig mit dem Zug eintreffen. Wenn sie Glück mit dem Wind hatten, sogar ein bisschen früher. Crowe drückte auf einen Knopf an seinem Kopfhörer.

«Grimes, ich will, dass sämtliche verfügbaren Agenten der Dienststelle in Philadelphia den Zug von allen Seiten einkreisen. Sorgen Sie dafür, dass alle Fahndungsbilder von Caine und Vaner haben …»

Grimes hörte eine Minute aufmerksam zu, wie Crowe seinen Plan darlegte. David Caine würde bald erfahren, was es hieß, gejagt zu werden.

 

Caine konnte nicht genau sagen, wann er erwacht war. Das sanfte Schaukeln des Zugs, hin und her, klick-klack, klick-klack, hatte die Zeit in eine Endlosschleife versetzt, und er war ein weiteres Mal von einem Déjà-vu heimgesucht worden. In einem Meer aus Watte treibend, kämpfte er sich in den Wachzustand zurück. Er gähnte und öffnete die Augen.

Da stürzte es alles wieder auf ihn ein. Erneut quälten ihn dumpfe Schuldgefühle wegen Tommy … er hätte nie sterben dürfen. Es war allein Caines Schuld. Wäre er nur dem Podvaal ferngeblieben, dann wäre das alles nicht pa-

Nein. In Wirklichkeit gab es das alles gar nicht. Nicht die Explosion, nicht die Frau, nicht den verrückten Telefonanruf. Er musste weitermachen. Wenn es sein Traum-Selbst nur zu Jasper schaffte, dann kam alles in Ordnung. Er sah zu Nava hinüber. Unter anderen Umständen wäre er hocherfreut gewesen, mit dieser Wahnsinnsfrau davonzulaufen. Aber hier – in diesem Hirngespinst – flüchteten sie nicht vor Alltagsproblemen, sondern vor Killern.

«Verehrte Fahrgäste, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Wir erreichen in wenigen Minuten Thirtieth Street Station. Wir möchten uns noch einmal dafür entschuldigen, falls Ihnen durch die Fahrplanänderung Unannehmlichkeiten entstanden sind. Vielen Dank für Ihr Verständnis.»

Wieder überkam Caine ein Gefühl des Déjà-vu, und auf einmal war ihm klar, dass er in den Speisewagen musste. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

 

Nava fragte sich, ob Caine jetzt endgültig übergeschnappt war. In der einen Sekunde schlief er tief und fest, in der nächsten zerrte er sie hektisch zum Speisewagen. Dort angekommen, kaufte er zehn Tüten Chips. Ehe Nava etwas dazu sagen konnte, riss er die ersten Tüten schon mit den Zähnen auf und hinkte zum Wagenende.

Caine betätigte das schwarze Schaltfeld an der Tür, sie glitt auf und ließ ihn auf den beweglichen Metallboden hinaustreten, der den Speisewagen mit dem nächsten Waggon verband. Durch die kleinen Lücken im Boden sah Nava die Gleise vorbeirasen. Caine bückte sich und fing an, Chips durch die Lücken rieseln zu lassen. Als Caine die letzte Tüte geleert hatte, warf er sie zu den anderen.

«Sind Sie verrückt?», fragte Nava.

«Ja, Nava», sagte Caine. «Das bin ich wohl.»

«Warum haben Sie das gerade getan?», wollte sie wissen.

«Ich … ich weiß nicht genau», stammelte Caine, einen abwesenden Ausdruck in den Augen.

Nava fröstelte. «Dann wissen die, dass wir in diesem Zug sind?»

«Ja … ich glaube schon.» Caine nickte.

Bei einer normalen Mission wäre sie jetzt ihre Ausweichpläne durchgegangen, aber heute arbeitete sie ohne Netz und doppelten Boden. Und wenn sie Caine benutzte? Er hatte es schließlich irgendwie geschafft, sie nach Philadelphia zu bringen, nicht wahr? Aber wenn sie ihn drängte, seine … Fähigkeiten einzusetzen, hatte das womöglich verheerende Folgen. Dann dachte sie wieder daran, was auf sie wartete, und beschloss, dass es das Risiko wert war. Sie wandte sich um und starrte Caine in die smaragdgrünen Augen.

«David, ich möchte, dass Sie sich vorstellen, wie wir unverletzt aus dem Bahnhof entkommen.»

«Nava, ich glaube, so funktioniert das nicht.»

«Aber Sie wissen es nicht, nicht wahr? Also los. Profisportler visualisieren das Spiel, bevor sie aufs Spielfeld gehen. Soldaten machen sich Gedanken über die Schlacht, bevor sie Gefechtsformation annehmen. Bitte, David, tun Sie mir den Gefallen.» Dann, einen Moment später: «Irgendwo muss Vertrauen anfangen.»

Caine sah aus, als wolle er protestieren, aber dann nickte er. «Sie haben Recht.» Er schloss gerade die Augen, da fing die Sprechanlage an zu knistern.

«Verehrte Fahrgäste. Wir erreichen Thirtieth Street Station, Philadelphia. Allen, die jetzt aussteigen, danken wir herzlich, dass Sie mit Amtrak gefahren sind. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Stadt der brüderlichen Liebe.»

 

Sekunden nachdem das Metallungeheuer vorbeigedonnert war, schwang sich eine schwarzgrau gefleckte Taube vom dunklen Himmel herab und landete auf den Gleisen. Sie pickte die zerkrümelten Kartoffelchips auf, die überall verstreut lagen. Sie musste nehmen, was sie kriegen konnte, bevor der Schwarm kam. Plötzlich hörte sie ein Fiepen, und als sie sich umsah, huschten fünf pelzige Tiere auf sie zu. Ohne zu zögern, schoss sie in die Luft hinauf.

Den riesigen brüllenden Vogel bemerkte sie erst, als es zu spät war.

 

Der Ring schloss sich um die Flüchtenden. Crowe lauschte dem FBI-Team über Kopfhörer. Er hatte keine Ahnung, wie, zum Teufel, Forsythe so schnell Amtshilfe hatte kriegen können, geschweige denn wie er es hinbekommen hatte, die FBIler der NSA unterzuordnen. Crowe war ein Spitzenmann der NSA und damit zugleich auch der leitende Special Agent hier. Irgendjemand beim Bureau war wahrscheinlich seinen Job los, sobald man dort mitbekam, dass Crowe die Zügel in die Hand bekommen hatte, aber für solche Lappalien fehlte ihm jetzt die Zeit. Der Zug fuhr in neunzig Sekunden in den Bahnhof ein.

Wie es aussah, schaffte er es noch rechtzeitig zum Zugriff. Es fing gerade zu regnen an, als der Pilot in den Sinkflug ging. Crowes Magen hob sich. Er hielt sich an seinem Gurt fest und lehnte sich auf dem Sitz zurück. Plötzlich blieb der Hubschrauber mit einem Ruck, der ihm die Eingeweide stauchte, stehen und begann dann wieder zu steigen, mit scharfer Schräglage nach links.

«Was, zum Teufel, war das?», brüllte Crowe über das Donnern der Rotoren hinweg. Der Pilot ignorierte ihn und kämpfte mit dem Steuerknüppel, versuchte den Hubschrauber auszugleichen.

«Ich glaube, wir haben einen Vogel in den Heckrotor gekriegt!» Er legte einige Schalter um und setzte den Sinkflug fort, langsamer jetzt. «Ich habe Probleme mit der Steuerung, Sir! Ich werd ihn dort auf dem Parkplatz runterbringen müssen!» Der Hubschrauber ruckte wieder, ging in einen steilen Sturzflug, dann hatte der Pilot ihn wieder unter Kontrolle.

«Hauptsache, Sie bringen uns heil runter!» Während der Hubschrauber hin und her taumelte, brüllte Crowe in sein Mikrophon: «Ist Ihnen so etwas schon mal passiert?»

«Noch nie, Sir!», erwiderte der Pilot, während der Hubschrauber sich dem Boden näherte.

Crowe glaubte nicht an Zufälle. Er hatte keine Ahnung wie, aber irgendwie musste David Caine das verursacht haben. Zum ersten Mal im Leben fragte sich Martin Crowe, ob er der Jäger oder der Gejagte war.

 

Wenn Caine es zu Jasper schaffen wollte, dann brauchte er Nava, was bedeutete, dass er ihr vertrauen musste. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich auf ihr Entkommen zu konzentrieren. Er stellte sich vor, wie Nava und er davonfuhren, wie sie ihre Verfolger abhängten und ein schwarzes Loch hinter sich ließen. Immer wieder spielte er diese Szene im Kopf durch.

Er kam sich vor wie bei den Basketball-Entscheidungsspielen im März, wenn er auf den Fernseher starrte, sein Bier fest in der Hand, und hoffte – nein, wollte –, dass der Foul Shot richtig gut wurde. Er sah zu, wie der Spieler sich aufwärmte, und feuerte ihn die ganze Zeit an, immer mit dem Gefühl, dass er irgendwie, wenn er es sich nur stark genug wünschte, Einfluss darauf hatte.

Als der Zug in den Tunnel einfuhr, wurde Caine äußerst sensibel für seine Umgebung: das Quietschen der Bremsen, der Rhythmus der Räder, die über die Schienen rollten, das Flackern der Neonlampen des Waggons, als sie in die dunkle Höhle des Bahnhofs einfuhren. Er spürte alles, was geschah. Er war im wahrsten Sinne des Wortes gegenwärtig – mehr als je zuvor.

Gleichzeitig hatte er aber das Gefühl, sich von außen zu betrachten. Sein Gegenstück befand sich in … einem Auto? Ja, in einem großen schwarzen Auto, das davonraste. Nava saß am Steuer. Ein bekanntes Gesicht hing zwischen ihnen. Für sein Gegenstück war das Jetzt bereits Vergangenheit. Caine versuchte, die Gedanken seines zukünftigen Ichs zu lesen, in seine Erinnerungen vorzudringen und nach dem Wie zu fragen, aber es kam nichts.

Sein Bewusstsein verließ seinen Doppelgänger und kehrte in die Gegenwart zurück: kämpfte und rang mit sich selbst und der Welt um ihn herum, damit das, was er wollte, Realität wurde. Er wusste, dass es möglich war … er musste es nur noch wahrscheinlich machen. Aber er wusste nicht, was er tun sollte, also dachte er einfach weiter, konzentrierte sich, wollte.

«David! David!» Nava schnippte vor seinen Augen mit den Fingern. Caine blinzelte und taumelte in die Gegenwart zurück; das Gefühl einer neuen Realität zog sich in seinen Hinterkopf zurück. In dem einen Moment war es noch glasklar gewesen, im nächsten nur noch eine ferne Erinnerung, so als wäre Caine plötzlich aus einem surrealen Traum erwacht. Nach ein paar Sekunden war auch die Erinnerung daran verschwunden.

«Geht es Ihnen gut?», fragte Nava. Ihre Finger gruben sich in seinen Bizeps. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn das nicht zum ersten Mal fragte.

«Ja … Was ist passiert? Bin ich ohnmächtig geworden?»

Caine wollte noch mehr fragen, aber da glitten die Türen auf.

Nava lehnte sich an Caine und flüsterte: «Sie werden uns auf übersichtlichem Gelände festnehmen wollen, um die Gefahr zu verringern, dass wir jemanden verletzen. Auf dem Bahnsteig dürften wir sicher sein, solange sie glauben, dass wir nichts ahnen. Wenn wir aus dem Zug steigen, nicht umsehen und keinen nervösen Eindruck machen! Verhalten Sie sich einfach nur wie ich. Sind Sie bereit?»

«Ich bin bereit.» Obwohl Caine den Ausdruck schon öfter benutzt hatte, wurde ihm erst jetzt seine Bedeutung klar: Ich bin alles andere als bereit, aber los geht’s.

Als sie aus dem Zug stiegen, nahm Nava seine Hand und drückte sie aufmunternd. Mit einem Mal dachte Caine, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, nach Philly zu fahren.

 

Der Hubschrauber setzte anderthalb Kilometer vom Bahnhof entfernt auf dem Parkplatz einer Bank auf. Die Landung war rau, aber das war Crowe egal; er war in einer Sekunde aus der Kanzel heraus und stand im strömenden Regen. Es goss mit solcher Heftigkeit, dass er binnen Sekunden klatschnass war.

Er lief zum nächstbesten Auto, einem schwarzen Honda Civic, und schlug mit dem Griff seiner Glock kräftig ans hintere Seitenfenster. Ein Netz von Rissen bildete sich um den Einschlagpunkt. Er stieß seinen Ellbogen in das Zentrum, und das Glas brach.

Im Nu saß er am Steuer. Er strich sich die Haare zurück, wischte sich das Wasser aus den Augen und bückte sich unter das Armaturenbrett. Beim zweiten Versuch bekam er den Motor zum Laufen, raste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz herunter und fuhr um ein Haar einen Teenager über den Haufen, der hektisch mit beiden Armen winkte. Wahrscheinlich der Fahrzeughalter.

«Status!», bellte Crowe in sein Headset.

«Zielperson lokalisiert, Sir», antwortete der Teamleiter.

«Ist er allein?»

«Nein. Zielperson wird von Vaner begleitet.» Mist. Zwar hatten alle erwartet, dass sie auf seiner Seite war, aber es war trotzdem ein ziemlicher Schlag. Während des Hubschrauberflugs hatte er das Team aus Philly über Vaner informiert. Sie war gefährlich. Ihre Festnahme war zwar vorzuziehen, aber dieses Ziel stand dahinter zurück, Caine unverletzt zu bekommen. Als Crowe seinen nächsten Befehl gab, redete er sich ein, dass es keine Rolle spielte und dass sie eine Verräterin war, aber sein Gewissen ließ sich durch seine Lügen nicht täuschen.

«Wenn nötig», sagte Crowe, «finale Mittel einsetzen, um Vaner zu stoppen.»

«Bestätige: finale Mittel gegen Vaner.»

Crowe versuchte, nicht über seinen letzten Befehl nachzudenken und sich auf die Mission zu konzentrieren. «Team eins, sind Sie in Position?»

«Eins bestätigt.»

«Team zwei?»

«Zwei in Position, Sir.»

Crowe überfuhr eine rote Ampel, während er das vor ihnen liegende Szenario durchdachte. «Team eins, Sie sind dran.»

«Team eins: Start», wiederholte der Teamleiter in seinem Kopfhörer. Mit ein bisschen Glück war alles gelaufen, bis Crowe am Bahnhof ankam. Das Problem war nur, dass sie Caine zum Gegner hatten; das Glück würde nicht auf ihrer Seite sein.

 

Hier unten war das Risiko geringer, von einem Scharfschützen erledigt zu werden; abgesehen davon, bot der Bahnhof jedoch keinerlei Vorteile. Es gab keinen Weg nach draußen, nur die Doppeltüren, die an den Bahnsteigenden zu den Rolltreppen führten – es sei denn, sie nahmen die leeren Gleise auf dem anderen Bahnsteig. Die Schienen liefen hinter dem Bahnhof noch ungefähr hundert Meter weiter, dahinter konnte Nava dunstiges Tageslicht sehen.

Sie erwog diese Möglichkeit, aber damit wären sie völlig ungeschützt gewesen. Blieb also nur noch die Rolltreppe, eine fast ebenso gefährliche Alternative. Wenn oben Agenten auf sie warteten, würden sie ihnen in die Arme laufen wie das Vieh zur Schlachtbank. Nava sah sich die Menge auf dem Bahnsteig an.

Niemand schien ihnen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, aber wenn die Agenten ihren Job nur einigermaßen gut machten, war das auch nicht zu erwarten. Sie klammerte die eindeutigen Schafe aus: Mütter, Kinder, alte Leute. Damit fielen vierzig Prozent der Menschen weg, die hier herumliefen. Zu wenig. Wieder erwog sie die Gleise.

Nava verspürte den plötzlichen Drang, sich Caine zu greifen, hinunterzuspringen und abzuhauen. Aber so wenig es ihr auch schmeckte, war ihr doch klar, dass ihre Chancen am größten waren, wenn sie sich mit Unbeteiligten umgaben und die Rolltreppe nahmen. Dann war auch leichter zu erkennen, wer möglicherweise auf sie schießen würde. Nava sah sich um und entdeckte eine junge Mutter, die ihre Zwillingstöchter in den Griff zu kriegen versuchte und gleichzeitig ein Kleinkind in einem Buggy schob. Perfekt.

Nava verlangsamte ihre Schritte, sodass die vier sie einholen würden. Sie drückte kurz Caines Arm; er verlangsamte ebenfalls. Nava suchte weiter im Gewimmel nach verräterischen Zeichen. Zwei sportliche Typen glotzten sie an, aber ihre Blicke waren sexueller Natur, nicht professioneller. Eine athletische Frau ein paar Schritte weiter sah nach einer Agentin aus, war aber mit drei Einkaufstüten bepackt. Nava glaubte schon, sie hätten ihre Verfolger abgehängt, da entdeckte sie ihn.

Der Mann in der abgetragenen Jeans und dem alten Sweatshirt, das am Halsausschnitt ausfranste. Die Kleidung passte nicht zu ihm. Er hatte einen adretten Kurzhaarschnitt und einen perfekt getrimmten Schnauzbart. Ein rascher Blick auf seine nagelneuen Turnschuhe beseitigte jeden Zweifel.

Er beobachtete sie nur aus dem Augenwinkel, aber da er Nava nun aufgefallen war, war klar, dass er sie beschattete. Nava lehnte sich an Caine und warf noch einen Blick zu Mr. Schnauzbart hinüber, der jetzt über ihre Schulter starrte. Sie sah nach vorn und begegnete dem Blick einer jungen Frau in Geschäftskleidung. Die Frau war gut, sie hatte sich im Griff und wartete ein paar Sekunden, ehe sie wieder in ihre Zeitung guckte. Aber Nava erspähte die Ausbeulung einer Schusswaffe, bevor der Philadelphia Inquirer sie wieder verdeckte.

«Schnauzbart im Sweatshirt, sieben Uhr. Blonde mit Zeitung, zwei Uhr.»

Caine nickte und hielt den Blick strikt nach vorn gerichtet. Nicht schlecht, er lernte dazu. Nava holte tief Luft. Ihr war klar, dass sie es allein auf Caine abgesehen hatten, sie selbst also verzichtbar war. Sie hielt einen Moment die Luft an, dann beruhigte sie sich. Kein Grund zur Panik, sie würde es überleben oder dabei umkommen, wie jedes Mal.

Sie verlangsamte ihre Schritte und schaffte es, sich so neben die dreifache Mutter zu schieben, dass die Kinder zwischen Caine und Mr. Schnauzbart blieben. Ihre linke Flanke war gedeckt, nun richtete Nava ihre Aufmerksamkeit auf die rechte. Sie waren jetzt beinahe bei der Agentin; die Menge schob sie langsam vorwärts. Die Rolltreppe war keine drei Meter mehr entfernt. Die Frau drehte sich ein paar Grad nach rechts und korrigierte ihre Haltung, machte sich kampfbereit. Wenn die Agenten sie noch auf dem Bahnsteig schnappen wollten, war das ihre letzte Chance.

Und es sah ganz danach aus, als wollten sie sie jetzt ergreifen.

 

Caine bemerkte nichts Auffälliges an der Frau in Geschäftskleidung, aber wenn Nava sagte, sie sei eine von denen, dann nahm er es als Tatsache hin. Er war sich die ganze Zeit ihrer Nähe bewusst, während er weiter zur Rolltreppe ging. Zwei Meter. Er wollte langsamer gehen, aber die Menge ließ es nicht zu. Ein Meter. Und dann war er neben ihr. Sie duftete nach Parfüm. Er war ihr so nahe, dass er nicht widerstehen konnte und sie durch seine dunkle Sonnenbrille direkt ansah.

Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Sie wirkte nicht gefährlich. Unter anderen Umständen hätte er sie anziehend gefunden mit ihrer frischen Ausstrahlung und ihrem, wie Jasper es genannt hätte, «Idealkörper kollektiver Pornophantasien». Caine lächelte zurück, vergaß für eine Sekunde, dass er verfolgt wurde. Dann sah er etwas in ihrer rechten Hand glitzern. Es sah aus wie ein übergroßer silberner Kugelschreiber.

Caine sah sie wie gebannt an. Dann begriff er, dass der Kuli in Wirklichkeit der federgetriebenen Spritze glich, die Nava in New York benutzt hatte. Unvermittelt stieß die Agentin die Spritze auf ihn zu.

Die Nadel dringt in sein Fleisch ein und –

(Schleife)

Sie stößt die Spritze auf ihn zu; er versucht, ihren Arm abzublocken, aber es gelingt ihm nicht. Er spürt einen schmerzhaften Stich und –

(Schleife)

Er schwingt sein verletztes Bein in die Flugbahn der Nadel, wehrt den Angriff ab und –

Die Spritze ging direkt über seinem Knie ins Ziel, grub sich in die hölzerne Beinschiene. Als die Nadel abbrach, packte die Frau Caine beim Arm und riss ihn aus dem Gleichgewicht. Einen Augenblick lang versuchte er stehen zu bleiben, aber es half nichts, also machte er aus seinem Sturz das Beste. Er warf sich nach vorn und rammte ihr seine Schulter unters Kinn.

Sie taumelte zurück, zog Caine mit sich hinunter. Sie drehte sich im Fallen und landete auf der Seite, ihm zugewandt. Er wollte sie gerade wegstoßen, da spürte er die Mündung ihrer Waffe hart an seinem Bauch.

«Ich will Sie nicht töten, aber wenn Sie sich bewegen, schieße ich», sagte die Frau. «Und wenn das passiert, werden Sie sich wünschen, ich hätte Sie getötet.»

Caine glaubte ihr. Auf einmal fing eine Frau zu kreischen an, und die Menschenmenge war keine sorglose Herde mehr, sondern eine Meute verschreckter Tiere. Jemand trat auf Caines verletztes Knie. Ein unerträglicher Schmerz schoss durch sein Bein, und er krümmte sich.

Dann hörte er den Schuss.