«Aha», sagte Caine auf dem Weg nach unten und zeigte auf die drei fehlenden Streben im Geländer, die ihm nun als Schiene und Stock dienten. Nava nickte nur und half ihm, die enge Treppe hinabzukommen. Im Erdgeschoss angelangt, wappnete sie sich gegen alles, was sie draußen erwarten mochte, und trat dann aus der Haustür.
Einen Moment lang hielt Nava den Atem an – wenn die NSA aus irgendeinem Grund wusste, dass sie hier waren, würde es jetzt passieren. Sie fragte sich, ob sie die Kugel spüren würde, wenn sie sich in ihre Stirn bohrte.
Nichts.
Sie spürte nur den Regen auf ihrer Haut. Durch den Wolkenbruch klebte Navas Kleidung sofort am Körper, die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Sie sah kurz zum Himmel hoch, ein schiefergrauer Hintergrund, der mit schweren schwarzen Wolken verhangen war. Doch sie war noch am Leben, und das war schon mal ein Erfolg. Nun, wo die beiden die erste Hürde genommen hatten, wägte Nava ihre Situation ab.
Die NSA würde diesen Einsatz so still und leise wie möglich handhaben wollen, besonders angesichts der Tatsache, dass es bereits ein Todesopfer gegeben hatte. Wenn sie Caine jedoch wirklich für eine Art «allwissende Intelligenz» hielt, würde sie ihn nicht kampflos entkommen lassen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: 9.03 Uhr. Caine war schon fast fünfzehn Stunden von ihrem Radar verschwunden. Wenn Forsythe noch keine Verstärkung herbeigerufen hatte, würde er es bald tun.
Zuerst mussten sie aus New York verschwinden, dem Fokus der Fahndung. Sie spielte mit der Idee, das Land zu verlassen, wollte aber nicht riskieren, am Flughafen Ziel einer durch den 11. September verschärften Sicherheitskontrolle zu werden. Damit blieben drei Fluchtmöglichkeiten: Auto, Bus oder Bahn.
Sie konnte mit Leichtigkeit einen Wagen knacken, fürchtete aber, durch irgendwelche Mautstellen zu kommen, und die würden beobachtet werden. Caine und sie konnten mit einer U-Bahn die Stadt verlassen und in einem der Außenbezirke einen Wagen kurzschließen, doch auch in den U-Bahn-Stationen fürchtete sie die Kameras. Sollten sie im Untergrund von einem Einsatzkommando in die Enge getrieben werden, würde es keinen Ausweg geben.
Die Idee, einen Bus zu nehmen, gefiel ihr nicht, da Busse schnell im Verkehr stecken blieben und leicht von einer Straßensperre gestoppt werden konnten. Ihr war klar, dass auch ein Zug angehalten werden konnte, aber der war wenigstens groß genug, um in einem solchen Fall ein Versteck zu bieten.
Sie rieb sich den Kopf, unsicher, was sie tun sollte. Normalerweise war sie ein sehr entschlussfreudiger Mensch, doch Caine hatte etwas an sich, das sie entmutigte und an sich zweifeln ließ. Sie versuchte ihre Unsicherheit abzuschütteln.
Caine, der ihre Zweifel spürte, sah sie an. Ihre Blicke trafen sich, und dann tat er etwas sehr Merkwürdiges: Er kniff die Augen zu, als hätte ihn grelles Licht geblendet.
Sie packte seinen Arm. «David, was ist los?»
Für einen Moment reagierte er nicht. Es war, als hätte sein Bewusstsein seinen Körper verlassen. Und dann kam er plötzlich wieder zu sich. Er öffnete die Augen und rang nach Atem.
«David, was ist passiert?»
«Nichts», sagte er, ein bisschen wackelig auf den Beinen. «Mir geht’s gut.» Und dann: «Wir müssen die Stadt verlassen.»
«Ich weiß», sagte Nava. «Fragt sich nur wie.»
«Zug», platzte er heraus. «Wir müssen den Zug nehmen.»
«Warum?»
«Keine Ahnung, aber das müssen wir tun.»
«Sind Sie sicher?»
«Ja», sagte Caine ein wenig resigniert, «aber fragen Sie mich nicht warum.»
«Okay, aber zuerst müssen wir Sie neu einkleiden.» Sie zeigte auf sein zerrissenes Hosenbein und das nackte Knie darunter. Die Haut rund um den blutigen Verband hatte sich dunkelviolett verfärbt.
«Gute Idee», sagte er. «Sie könnten wahrscheinlich auch ein paar neue Klamotten gebrauchen.» Nava sah auf ihre blutverschmierte Hose hinab. So schnell Caine konnte, führte sie ihn in einen Armeeladen zwei Blocks weiter. Zehn Minuten später verließen sie das Geschäft in neuer Kleidung.
Nava trug eine Bomberjacke über einem engen schwarzen Tanktop, ihr langes braunes Haar hatte sie unter einer grünen Bandana versteckt. Caine trug eine weite Tarnhose und eine gebrauchte Armyjacke, um seine Wunden zu verdecken. Seinen selbst gemachten Gehstock hatte er gegen einen schwarzen Spazierstock mit einem silbernen, glatt gewetzten Griff in Form eines Schlangenkopfes eingetauscht. Trotz des Regens setzte Caine eine billige Sonnenbrille auf. Die beiden machten keinen guten Eindruck, aber wenigstens sahen sie nicht mehr wie wandelnde Verwundete aus.
Nava winkte ein Taxi herbei.
«Wohin?», fragte der Fahrer mit breitem indischem Akzent.
«Penn Station», sagte Nava. «Je schneller, desto besser.»
Forsythe ging unruhig in seinem Büro auf und ab. Caine wurde bereits seit fast fünfzehn Stunden vermisst. Fünfzehn verdammte Stunden. Forsythe konnte es nicht fassen, dass er ihnen entwischt war. Es war Grimes’ Schuld. Forsythe hätte niemals zulassen dürfen, dass dieser pickelgesichtige kleine Scheißer das Überwachungsteam leitete.
Noch war es nicht zu spät, einen neuen taktischen Leiter zu berufen, doch er beschloss abzuwarten, bis er von Grimes auf den neuesten Stand gebracht worden war. Er ging hinaus zum Überwachungszentrum, einem großen runden Raum ohne Deckenbeleuchtung. Das gesamte Licht kam von den hundert leuchtenden Monitoren, drei für jede Workstation. Die Schreibtische fächerten sich in konzentrischen Kreisen auf, in deren Mitte Grimes auf einem überdimensionalen Ledersessel saß, umgeben von Plasmabildschirmen und Tastaturen.
«Sind Sie weitergekommen?», blaffte Forsythe.
Grimes wirbelte herum und sah ihn finster an. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, das noch fettiger war als sonst. Unter den Augen hatte er dunkle Ringe, und auf seinem Kinn blühten zwei neue Pickel. «Er ist von der Bildfläche verschwunden. Keine ein- oder abgehenden Anrufe auf seinem Handy, und seit der Explosion war er nicht mehr zu Hause.
Ich habe sein E-Mail-Postfach überprüft, aber da hat es keine Aktivitäten gegeben. Den Großrechner habe ich mit einer Aufzeichnung seiner Stimme gefüttert und sie mit allen Anrufen verglichen, die in den letzten fünfzehn Stunden in New York und den angrenzenden Bundesstaaten getätigt wurden. Keine Übereinstimmungen. Dann habe ich seine uns bekannten Freunde in der Stadt überprüft. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er mit ihnen in Kontakt getreten ist.»
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen starrte Forsythe zu Boden. «Konnten Sie feststellen, ob die Frau bei der Explosion Vaner war?»
Grimes nickte. «Ich habe mir noch einmal das Satellitenfoto angeschaut. Wir haben zwar kein Bild von ihrem Gesicht aufgezeichnet, aber wir haben eine Großaufnahme ihres Kopfs von oben und eine weitere von einer Hand.»
«Und?» Forsythe hasste es, wenn Grimes seine Berichte in die Länge zog. Nie sagte er einfach, was er wusste, immer spannte er seine Zuhörer auf die Folter.
Grimes zeigte auf einen seiner Monitore, auf dem man eine Frau aus der Vogelperspektive sah. «Ich habe die Haarfarbe und die Hautpigmentierung von den Aufnahmen des Satelliten mit unseren Überwachungsbändern von gestern verglichen. Sie stimmen vollkommen mit Agent Vaner überein.» Er drückte ein paar weitere Knöpfe, dann erschien ihr Dossier auf dem Bildschirm.
«Wussten Sie, dass Vaner die Verantwortung für Mordanschläge auf mehr als ein Dutzend Mitglieder von Al Qaida, Hamas, PLO –»
Forsythe schnitt ihm das Wort ab. «Ihr Hintergrund ist mir bekannt. Die Frage lautet nicht wer, sondern warum.»
Grimes trank einen Schluck Kaffee und zuckte mit den Achseln. «Ich schätze, da müssen Sie Vaner schon selbst fragen. Vielleicht arbeitet sie immer noch für die CIA.»
Ohne zu antworten, stürmte Forsythe in sein Büro und knallte die Tür zu. Er musste Ruhe bewahren. Er schloss die Augen und zählte bis zehn. Als er sie wieder geöffnet hatte, setzte er sich und griff zum Telefonhörer.
Nachdem er die Situation Doug Nielsen erklärt hatte, dem gegenwärtigen stellvertretenden Direktor der CIA, hörte Forsythe den Mann seufzen.
«Gott, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, James», sagte Nielsen mit seinem breiten Südstaatenakzent. «Vaner war eine unserer Besten. Ganz ehrlich, ich bin schockiert, dass so etwas passieren konnte.»
«Und Sie haben nichts damit zu tun?»
«Hören Sie mal zu, James», antwortete Nielsen, in dessen Stimme sich Unmut schlich, «die CIA muss sich um größere Fische kümmern und hat keine Zeit, sich mit einem Ihrer Forschungsprojekte abzugeben.» Forsythe war kurz davor zu kontern, doch die Verachtung in Nielsens Stimme verriet ihm, dass er die Wahrheit sagte.
Jetzt war Forsythe an der Reihe zu seufzen. «Okay. Wie finden wir sie?»
Nielsen schnaubte. «Sie finden sie nicht.»
«Das ist inakzeptabel.»
«Tja, was wollen Sie machen, mein Freund? Sie verfügen nicht über das nötige Personal, um …»
«Ich nicht, aber Sie.»
Einen Moment lang schwieg Nielsen. Dann sagte er mit gedämpfter Stimme: «Was erwarten Sie von mir? Soll ich Ihnen wie General Fielding ein Einsatzkommando rüberschicken?»
«Woher wissen Sie …»
«Es ist mein Job, so etwas zu wissen, James. Mir ist zum Beispiel auch bekannt, dass Sie, laut Senator MacDougal, in ungefähr drei Wochen arbeitslos sein werden.»
Forsythe ballte eine Faust. Wenn MacDougal plauderte, würde ihm niemand mehr helfen. Er wusste keinen Ausweg mehr. Glücklicherweise wusste Nielsen einen.
«Hören Sie, James», sagte Nielsen. «Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Aber bitte vergessen Sie es mir nicht, wenn ich in den Ruhestand gehe. Wenn Sie das tun, lasse ich Sie davonkommen.»
«Davonkommen?»
«Ich weiß, wie viele Gesetze Sie gebrochen haben. Ganz zu schweigen von dem Risikokapital, das Sie still und heimlich zur Seite geschafft haben.» Forsythes Mund wurde trocken. Anscheinend gab es nichts, was Nielsen nicht wusste. Forsythe blieb nichts anderes übrig, als klein beizugeben.
«Ich wäre für jede Unterstützung dankbar, die Sie bieten können», sagte er schließlich.
«Gut.»
Forsythe konnte förmlich Nielsens selbstgefälliges Lächeln am anderen Ende der Leitung hören.
«Hier ist mein Rat: Zunächst würde ich Sam Kendall anrufen. Ich glaube, er weiß noch nichts von den bevorstehenden personellen Änderungen im Labor, und wenn Sie es ihm nicht verraten, werde ich es auch nicht tun. Kendall müsste Ihnen ein paar Leute zur Verfügung stellen können. Außerdem hat er einen guten Draht zu den örtlichen Behörden.»
«Ausgezeichneter Vorschlag, Doug. Vielen Dank.» Forsythe war nicht so zuversichtlich, dass ihm der stellvertretende Direktor des FBI zusätzliches Personal zur Verfügung stellen würde, und er wusste, dass Kendall im Umgang mit der Polizei für mangelnde Diplomatie berüchtigt war, doch es war besser als nichts.
«Und sonst?»
«Nun, wenn es Ihnen wirklich ernst damit ist, Vaner und Ihren verlorenen Jungen zu finden, dann kenne ich einen Spürhund, den Sie engagieren könnten. Er war mal beim FBI, doch jetzt ist er ein ganz normaler Staatsbürger. Ganz im Vertrauen: er hat für uns als freier Mitarbeiter einige Male ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ich bin mir sicher, dass er Ihnen helfen würde. Für den entsprechenden Preis, versteht sich.»
«Natürlich», sagte Forsythe, dessen Gedanken bereits rasten. «Wie heißt er?»
Nielsen hielt inne. «Martin Crowe.»
«Der Martin Crowe?»
«Sie wollen die beiden finden, oder?»
«Natürlich, aber …»
«Dann sollten Sie sich schnellstmöglich mit Mr. Crowe in Verbindung setzen. Die Uhr tickt, James.»
Vierzig Minuten und tausend Dollar später saß Forsythe Martin Crowe gegenüber, dem furchterregendsten Mann, den er je kennen gelernt hatte.
Crowes dunkles Gesicht blickte unergründlich, als er Dr. Forsythe schweigend zuhörte. Es war nicht Crowes Art, den Erzählfluss einer Geschichte zu stören. Durch Unterbrechungen verloren die Leute häufig den Faden, was zum Auslassen wichtiger Details führen konnte. Wenn er eine Frage hatte, merkte er sie sich und hörte weiter zu. Nach zehn Minuten beendete Forsythe seine phantastische Geschichte über die abtrünnige CIA-Agentin und den Mann, den sie entführt hatte.
«Haben Sie etwas ausgelassen?»
Forsythe schüttelte den Kopf. «Nein. Das ist alles.»
Crowe stand auf und streckte eine Hand aus. «Hat mich gefreut.»
«Warten Sie», sagte Forsythe und sprang aus seinem Stuhl. «Was ist mit dem Auftrag?»
«Dr. Forsythe, ich bin erfolgreich, weil ich großen Wert darauf lege, Überraschungen zu vermeiden. Deshalb bin ich noch am Leben. Ich lasse mich nur auf einen Einsatz ein, wenn ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Und in diesem Fall weiß ich das nicht.»
«Wovon reden Sie? Ich habe Ihnen alles gesagt.»
«Nein, haben Sie nicht», entgegnete Crowe.
Forsythe blickte empört. «Mr. Crowe, ich versichere Ihnen …»
Crowe schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und unterbrach Forsythe dadurch mitten im Satz. «Beleidigen Sie mich nicht, Doktor. Ich weiß, dass Sie mich anlügen. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen bei dieser Sache helfe, dann erzählen Sie mir jetzt den wahren Grund, warum David Caine so wichtig für Sie ist.»
Forsythes Kiefer mahlten aufeinander, während er überlegte, was er tun sollte. Als er schließlich zu sprechen begann, nahm Crowe wieder Platz. Nachdem Forsythe zu Ende erzählt hatte, nickte Crowe langsam und wägte die Situation ab. Es war eindeutig, dass Forsythe jedes Wort glaubte, das er gesagt hatte, doch Crowe blieb skeptisch. Dieser «Dämon», den Forsythe beschrieben hatte, konnte nicht real sein. Wenn er es wäre, würde das bedeuten, dass der Mensch keinen freien Willen hatte, und das war ein Gedanke, der Martin Crowe noch nie geschmeckt hatte.
Er war jedoch aufgeschlossen genug zu glauben, dass Caine vielleicht gewisse paranormale Fähigkeiten oder übersinnliche Kräfte besaß. Aber alles darüber hinaus war schlicht unmöglich. Doch wenn Caine auch nur über die Hälfte der Fähigkeiten verfügte, die Forsythe beschrieben hatte, könnte sich der Auftrag als äußerst schwierig erweisen.
Das und die abtrünnige Agentin gaben Crowe kein gutes Gefühl. Wenn ihm etwas zustieß, würde sich niemand mehr um Betsy kümmern. Doch wenn er andererseits nicht bald etwas Bargeld auftrieb, würde Betsy, ob mit oder ohne ihn, nicht mehr lange leben.
Und wenn das Geld hier zu finden war, wusste Crowe, dass er trotz der Risiken keine Wahl hatte. «Ich bekomme 15 000 Dollar pro Tag, dazu eine Prämie von 125 000 Dollar, sobald der Auftrag ausgeführt ist. 250 000 Dollar, wenn die Aktion keine vierundzwanzig Stunden dauert. Das ist nicht verhandelbar.»
Forsythe schluckte kurz und presste dann hervor: «Das kann ich bezahlen.»
«Gut.» Crowe stand auf und streckte eine seiner kräftigen Hände aus. Dieses Mal ergriff Forsythe sie und schüttelte sie knapp. Crowe sah ihm kurz in die Augen, dann wandte sich Forsythe ab. Crowe gefiel nicht, was er hier sah, aber das spielte keine Rolle. Die Zeiten, wo er für die Guten gekämpft hatte, lagen lange hinter ihm. Jetzt kämpfte er nur noch für Betsy. Solange sie ihn brauchte, war sein Ehrgefühl auf Eis gelegt.
Während Crowe über den Auftrag nachdachte, der vor ihm lag, begann das Adrenalin in seinen Adern seinen Zauber zu entfalten. Das Gefühl erinnerte ihn an die Zeit, als er FBI-Beamter geworden war, damals, als es noch eine klare Grenze zwischen Recht und Unrecht gab.
Bevor er Sandy kennen lernte.
Bevor sie Betsy bekamen.
Und bevor sie krank wurde.
Solange er sich erinnern konnte, hatte Martin Crowe seinen Mitmenschen dienen wollen. Seine Mutter hatte immer gehofft, dass er dies tun würde, indem er Priester wurde, doch Martin wusste, dass er viel zu aggressiv für einen Geistlichen war. Statt das Priesterseminar zu besuchen, studierte Crowe deshalb in Georgetown Jura, denn er glaubte, das streitbare Wesen des Rechtssystems würde seinem kämpferischen Charakter eine natürliche Heimstatt bieten.
Nachdem er sein Examen abgelegt hatte, zog Crowe es jedoch vor, sich beim FBI zu bewerben, anstatt einen Posten bei der Generalbundesanwaltschaft anzunehmen. Sobald die Ausbildung in Quantico begann, schaute er nicht mehr zurück. Crowe wurde den Anforderungen spielend gerecht und hatte große Freude an der massiven Konkurrenzsituation, die er seit seiner Zeit als Collegesportler vermisst hatte.
Angetrieben von einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wurde er der von seinen Vorgesetzten in ihn investierten Zeit voll gerecht und erwies sich als Ausnahmefall: ein außergewöhnlicher Agent mit keinerlei anderweitigen Interessen, der fünfzehn Stunden am Tag sieben Tage die Woche über Monate hinweg ohne Unterbrechung arbeiten konnte, ohne die geringsten Ermüdungserscheinungen zu zeigen.
Er war bereit, die schlimmste Drecksarbeit und die anstrengendsten Observierungen zu übernehmen, ganz gleich, ob er in Milwaukee oder Miami stationiert wurde. Wohin das FBI ihn auch schickte, er erledigte seinen Dienst mit Präzision und Bravour. Und wenn eine Verhaftung bevorstand, stürmte Martin Crowe als Erster mit gezogener Waffe durch die Tür.
In den ersten Jahren gab es nichts Wichtigeres als den Job. Dann lernte er eine Kollegin namens Sandy Bates kennen, und alles änderte sich. Nach einer stürmischen dreimonatigen Liebesaffäre machte Martin Crowe ihr einen Heiratsantrag. Anderthalb Jahre später brachte Sandy eine hübsche Tochter zur Welt. Bei Betsys Taufe weinte Martin Crowe die einzigen Tränen seines Erwachsenenlebens. Er war nie glücklicher gewesen.
Als er Familienvater wurde, erhielt seine Arbeit eine neue Bedeutung, und obwohl es ihm nicht mehr gefiel, wochenlang unterwegs zu sein, wusste er, dass er das Land zu einem sichereren Ort für seine Frau und seine Tochter machte. Und dann kam sein Leben eines Tages zum Stillstand. Er konnte sich noch an Sandys erstickte Stimme erinnern, als sie ihm erzählte, dass bei Betsy Knochenmarksleukämie diagnostiziert worden sei. Plötzlich war Crowes Welt in einen beängstigenden Ort verwandelt worden, in dem das Böse nicht nach dem Strafgesetzbuch, sondern nach Krebszellen und Blutbildern bemessen wurde.
Hier hatte er es mit einem Gegner zu tun, den er nicht zur Strecke bringen konnte, und er konnte nur machtlos zusehen, wie dieser Gegner sein kleines Mädchen verschlang. Sandy quittierte ihren Dienst beim FBI, um sich um Betsy zu kümmern, während Crowe mit Überstunden versuchte, die finanzielle Lücke auszugleichen. Leider reichte es nicht, egal, wie viel er arbeitete, besonders nachdem er festgestellt hatte, dass seine Krankenversicherung für viele der experimentellen Behandlungen, die die Ärzte an Betsy ausprobierten, nicht aufkam.
Binnen sechs Monaten hatten sie ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht, doch Betsy war immer noch dem Tod geweiht. Crowe wusste nicht mehr weiter und verlor allmählich den Verstand. Er hätte sich beurlauben lassen sollen, doch weil er das Geld brauchte, meldete er sich stattdessen freiwillig für Sonderschichten.
So kam er an den Fall Duane.
«Big Daddy» Duane hatte sieben Kinder entführt und ermordet. Eine Woche lang hielt er sie gefangen, ehe er sie dann stückchenweise per Post an die trauernden Eltern schickte. Die Medien hatten ihm den Spitznamen «FedEx-Killer» gegeben (sehr zum Verdruss des Frachtunternehmens), und Crowe schwor sich, dass er den Mann auf die eine oder andere Weise zur Strecke bringen würde.
Als Crowe zum Ermittlungsteam stieß, suchten die Beamten gerade nach Bethany O’Neil, einer Sechsjährigen aus Falmouth, Massachusetts, die vier Tage zuvor in einem Park gekidnappt worden war. Die Uhr tickte, und jeder wusste es. Dann kam das erste Erfolgserlebnis: Stephen Chesterfield, einer der Perversen, mit denen Duane häufig online chattete, war bei einer routinemäßigen Razzia auf Pädophile aufgeflogen. Doch auch nach 24 Stunden Verhör konnten die Bundesermittler ihn nicht zum Reden bringen.
Deshalb riefen sie Martin Crowe.
Alle Kameras wurden ausgeschaltet, und Chesterfield wurde hinter einer verschlossenen Tür in einem schalldichten Raum mit Crowe allein gelassen. In dieser Situation, wissend, dass das Leben eines weiteren kleinen Mädchens auf dem Spiel stand, während seine eigene Tochter sterbend im Krankenhaus lag, verlor Crowe schließlich die Beherrschung.
Nach einer Stunde tauchte er mit einem blutverschmierten Zettel auf, auf den Big Daddys Aufenthaltsort gekritzelt war. Die anderen Agenten fragten nicht, was Crowe getan hatte. Sie wollten es nicht wissen. Sie wollten nur Big Daddy schnappen, bevor er begann, die kleine O’Neil per Post an ihre Eltern zu schicken.
Zwei Stunden später stürmten sie durch die Tür der Blockhütte des Pädophilen, eröffneten das Feuer und töteten Big Daddy Duane. Angeblich hatte er ein Gewehr, auch wenn nie eine Waffe gefunden wurde. Während jedoch die Beamten des Einsatzkommandos mit Ruhm überschüttet wurden, wurde Crowe von den Medien in der Luft zerrissen, weil er Chesterfields Bürgerrechte verletzt hatte.
Wäre Chesterfield nur irgendein Krimineller gewesen, hätte man den Vorfall unter den Teppich kehren können. Crowe hatte aber das Pech, dass Chesterfield der Bruder eines Staatsanwaltes war, und als herauskam, dass er geschlagen worden war, musste jemand dafür büßen. Nachdem Fotos von Chesterfields blutigem Gesicht an die Medien durchgesickert waren, verdammten die Schlagzeilen Martin Crowe und machten ihn zum Sündenbock für alles, was im Polizeiapparat nicht stimmte. Die New York Post gab ihm einen Spitznamen – «Black Crowe» –, und den wurde er nicht mehr los. Er wurde unverzüglich vom FBI entlassen und unter Anklage gestellt.
Acht Monate später zeigte Crowes Verteidiger in dem Versuch, berechtigten Zweifel an seiner Schuld zu erheben, auf jeden anderen Agenten seiner Dienststelle. Crowe hätte wahrscheinlich die Höchststrafe erhalten – zehn Jahre in einer Bundesstrafanstalt –, wäre nicht die Familie O’Neil gewesen, die jeden Tag am Prozess teilnahm. Sie saß unmittelbar hinter Crowe, sodass die Geschworenen bei jedem Blick auf den Mann, der angeklagt war, ein Sadist zu sein, auch das hübsche Mädchen sahen, das er gerettet hatte. Die Geschworenen brauchten nur drei Stunden, um zu einem Urteil zu gelangen.
Nicht schuldig.
Trotz des Freispruchs war durch die Belastung des Verfahrens zerstört worden, was noch von seinem Leben übrig geblieben war. Nachdem alles vorbei war, stand Crowe arbeitslos, unversichert, bankrott und so gut wie geschieden da. Das alles wäre schon schlimm genug gewesen, doch es verblasste im Vergleich zu dem, was Betsy durchmachte, die einen aussichtslosen Kampf kämpfte, einen Kampf, den sie ohne eine kostspielige Knochenmarkstransplantion mit Sicherheit verlieren würde. Obwohl die Ärzte noch einen passenden Spender finden mussten, versprach Crowe, dass er, wenn es so weit wäre, genügend Geld haben würde, um die Behandlung zu bezahlen.
Und so wurde er Söldner. Ihm war bewusst, dass die meisten seiner Auftraggeber illegale Aktivitäten durchführten, aber er kümmerte sich nicht darum. All seine religiösen und ethischen Vorbehalte waren unwichtig, solange Betsy krank war. Obwohl er in den vergangenen Monaten zwar einiges getan hatte, was unmoralisch war, hatte er es geschafft, niemanden zu töten. Er sagte sich, dass er das niemals tun würde – für kein Geld der Welt.
Doch im Grunde seines Herzens wusste er, dass er auch diese Grenze überschreiten würde, wenn er dadurch seine Tochter retten könnte. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Etwas in Crowes totem Blick ließ Forsythe erschaudern. Aus Angst davor, den Mann beim Denken zu stören, tat Forsythe so, als würde er seinen Computerbildschirm betrachten. Crowe faltete die Hände und stützte sein Kinn auf die Fingerspitzen. Nach einer halben Ewigkeit schaute er auf und begann, Anweisungen zu geben.
«Die beiden werden die Stadt verlassen. Die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen sind zu riskant, also werden sie mit einem Wagen fahren oder einen Zug nehmen. Wenn sie die Stadt heute Nacht verlassen haben, sind wir gearscht. Wenn nicht, haben wir vielleicht Glück. Sichern Ihre Beamten die Penn Station?»
Forsythe spitzte die Ohren, froh, dass er eine positive Antwort geben konnte. Nielsen hatte Recht gehabt – Kendall war nicht davon unterrichtet, dass Forsythe ersetzt werden würde, und war deshalb bereit gewesen, ein paar Männer abzustellen, um bei der Fahndung zu helfen.
«FBI-Beamte überwachen jeden Bahnsteig in Penn Station und die Terminals in Port Authority.»
Crowe schüttelte den Kopf. «Den Busbahnhof zu überwachen ist überflüssig. Keine ausgebildete Agentin würde sich selbst in die Falle eines Busses begeben. Wer ist hier für die Kommunikation zuständig?»
«Grimes.»
«Holen Sie ihn her.»
Forsythe rief Grimes in sein Büro. Kaum war er eingetreten, übernahm Crowe die Verantwortung.
«Ziehen Sie die Männer von Port Authority ab und lassen Sie die Patrouillen im Bahnhof verdoppeln.»
«Sonst noch was?», fragte Grimes.
«Ja», sagte Crowe ruhig. «Besorgen Sie mir eine Liste von jeder einzelnen Person, die das Zielobjekt innerhalb eines Radius von achthundert Kilometern kennt. Überwachen Sie deren gesamte Kommunikation, bis wir ihn gefasst haben.»
«Glauben Sie, dass die beiden so dumm sind?»
«Wenn Vaner die Sache lenkt, würde ich Nein sagen, aber das wissen wir nicht mit Sicherheit. Zivilisten auf der Flucht gehen normalerweise zu jemandem, dem sie vertrauen können. Die einzige Chance, ihn zu schnappen, liegt bei seinen Freunden. Oder seinen Verwandten.
Und jetzt», sagte Crowe und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Forsythe, «erzählen Sie mir von seinem Zwillingsbruder.»