Kapitel // 24 //

Nava verspürte einen Anflug von Erleichterung, als die beiden Agenten Rick Burrows wegschleiften, aber er war rasch wieder vorbei. Sie hatte gehofft, dass die FBI-Leute jetzt, da sie «David Caine» gefunden hatten, die Suche einstellen würden, aber sie ließen nur die Männer ohne Kontrolle durch. Nava fluchte leise. Ihr Glück hatte sie doch im Stich gelassen.

«Nun gehen Sie schon», sagte sie zu Caine.

«Aber dann wird man Sie festnehmen.»

«Das werden wir ja sehen. Falls ich erkannt werde, habe ich auf jeden Fall eine größere Chance zu fliehen, wenn ich mich nicht auch noch um Sie kümmern muss.»

Caine wollte protestieren, aber Nava schnitt ihm das Wort ab.

«David, wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Die suchen immer noch nach mir, was bedeutet, dass sie Ihren Doppelgänger bald verhören werden. Und dann wird es nicht lange dauern, bis sie ihren Fehler bemerken.

Also passen Sie auf: Gehen Sie in die übelste Gegend der Stadt und quartieren Sie sich dort in ein Motel ein. Bezahlen Sie bar. Setzen Sie sich auf keinen Fall mit Jasper in Verbindung. Wir treffen uns morgen Mittag in der Vorhalle des Philadelphia Art Museum. Wenn ich um fünf nach zwölf noch nicht dort bin, sind Sie auf sich allein gestellt.»

Caine sagte ein paar Sekunden lang nichts, blinzelte nur und nickte dann.

«Wir sehen uns», sagte er. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und stieg den steilen Hang hinauf.

 

Caine sah nicht zurück. Er musste so schnell wie möglich die Böschung hinaufkommen. Dummerweise war das mit seinem verletzten Knie nicht so leicht. Plötzlich packte ihn jemand fest beim Ellbogen. Ein Mann in einer dunkelblauen Polizeiuniform.

«Na, eine helfende Hand gefällig?», fragte der untersetzte Polizist.

Dieses Angebot durfte Caine auf keinen Fall ablehnen, also antwortete er: «Ja klar, danke.»

«Gerne», sagte der Cop, packte ihn noch fester beim Ellbogen und half ihm die Steigung hinauf. Sie gingen langsam, aber stetig. Bald waren sie nur noch drei rutschige Meter vom Highway entfernt.

Caine schob sich im Schlamm vorwärts, wappnete sich für das, was ihm bevorstand.

 

Crowe fühlte sich nicht wohl, solange er nicht alle Gurte doppelt überprüft hatte. Dann erst wurde er allmählich lockerer. Er starrte Caine an, der zitternd auf dem am Boden des Transporters verschraubten Stuhl saß. Ihm war klar, dass er Caine besser so schnell wie möglich zurück nach New York schaffte, solange Vaner noch flüchtig war, aber Crowe zögerte. Trotz der Tatsache, dass es Forsythe wahrscheinlich herzlich egal war, was aus Vaner wurde, konnte Crowe nicht einfach die Kurve kratzen. Sie war gefährlich und musste gefasst werden.

Und abgesehen davon – irgendetwas stimmte nicht. Konnte das hier der gleiche Mann sein, der drei Agenten ins Krankenhaus geschickt hatte?

«Wo ist Vaner?», fragte Crowe ihn zum dritten Mal.

Caine antwortete nicht. Wieder gab er nur trockene, erstickte Schluchzer von sich. Seine Hände zitterten so heftig, dass sein Ring an der Armlehne klapperte – ratatatat, ratatatat. Crowe legte den Kopf schief, den Blick starr auf den Ringfinger der linken Hand des Mannes gerichtet.

Crowe blieb fast das Herz stehen. David Caine war ledig. Es mochte Bestandteil seiner Tarnung sein, aber trotzdem … Crowe packte die zitternde Hand, und durch den Mann, der eindeutig mit einer körperlichen Misshandlung rechnete, fuhr ein Ruck. Crowe drehte den Ehering hin und her, dann gelang es ihm, ihn abzuziehen. Die Stelle, an der der Ring gesessen hatte, war heller als der restliche Finger. Der Ehering war keine Tarnung. Crowes Magen krampfte sich zusammen.

«Sie sind nicht David Caine.»

Der Mann wimmerte nur. Auf einmal ergab alles Sinn. Warum es so leicht gewesen war; warum dieser Mann so eine erbärmliche Heulsuse war. Crowe zog seine Smith & Wesson 9mm und drückte dem Mann die Mündung an den Kopf, packte mit der anderen Hand sein Kinn. Crowe konnte Betsy sehen, allein in ihrem Krankenhausbett. Ohne das Geld konnte er sie unmöglich retten. Er würde sie nicht im Stich lassen. Er durfte sie nicht im Stich lassen.

«Sehen Sie mich an! SEHEN SIE MICH AN!»

Der Mann öffnete die Augen, Tränen liefen ihm die Wangen hinab.

«Sie haben fünf Sekunden, mir zu erklären, was hier läuft. Wenn nicht, drücke ich ab und verteile Ihr Hirn im ganzen Wagen. Wenn Sie glauben, dass ich bluffe, dann schauen Sie sich meine Augen an, die werden Sie überzeugen.

Fünf.

Vier.

Drei.»

Ihre Blicke trafen sich – Crowe kalt und entschlossen, der Mann unstet und voller Angst.

«Ih ahm’ich id na a’e edrohd», schluchzte er. Sie haben mich mit einer Waffe bedroht. «Ih ahm esag ih bring mei’e ahmiiiiieeelje um.» Sie haben gesagt, sie bringen meine Familie um.

«Scheiße nochmal.» Crowe hielt die Waffe nach wie vor auf seinen Kopf gerichtet. «Wann? Wo?»

«Ade ehm. Inna lange.» Gerade eben. In der Schlange.

Crowe schob sich an dem Mann vorbei und riss die Türen des Lieferwagens auf. «Alle Teams!», brüllte er in sein Headset. «Gefasste Zielperson war Lockvogel! Ich wiederhole: Gefasste Zielperson war Lockvogel! Abriegeln! Sofort!»

 

Zweieinhalb Meter. Zweieinviertel. Zwei.

Caine atmete auf. Gleich war es geschafft. Noch ein paar Schritte, und er war den Polizisten los. Durch den Regen konnte er jetzt Autos vorbeirasen sehen; sie verlangsamten unmerklich, um sich die Streifenwagen am Straßenrand anzusehen.

Dann blieb der Polizist plötzlich stehen, als sein Funkgerät zu kreischen begann.

 

Nava war ganz am Ende der Schlange und zerbrach sich den Kopf, wie sie am besten vorging. Noch waren vier Frauen vor ihr. Sie erwog, eine davon als Geisel zu nehmen, aber das zwang die FBI-Leute nur zum Handeln, und da sie hier nirgends Deckung hatte, war es der blanke Selbstmord.

Es waren nur noch drei FBI-Agenten bei der Kontrollstelle geblieben, dazu sechs Polizisten. Sie hatte schlechtere Zahlenverhältnisse überlebt – wenn auch knapp. Es bestand immer noch die Chance, dass niemand sie erkannte und ihre falschen Papiere sie durchbrachten, aber sie bezweifelte es. Auf einmal erstarrten die drei Agenten nahezu gleichzeitig.

Als der erste nach seiner Waffe griff, wusste Nava, dass Davids Trick durchschaut worden war. Ein roter Schleier senkte sich herab, als sie ihre Glock zog und zu feuern begann.

 

Caine riss seinen Arm aus dem Griff des Polizisten, der das Gleichgewicht verlor. Ehe er sich wieder fangen konnte, schwang Caine ihm seinen Stock in weitem Bogen über den Schädel.

 

Nava konzentrierte sich auf die drei FBI-Agenten, da sie wusste, dass sie bessere Schützen waren als die Cops. Mit chirurgischer Präzision feuerte sie schnell hintereinander drei Schüsse ab. Bevor das Echo des ersten ihr Ohr erreichte, waren die Kugeln schon durch den Regen auf die beabsichtigten Ziele zugerast.

Chaos brach aus, als die Agenten zu Boden gingen, jeder mit einer Kugel in der rechten Schulter. Die restlichen Frauen vor der Absperrung liefen hysterisch kreischend durcheinander, die Polizisten gingen in Deckung.

Ehe auch nur einer von ihnen seine fünf Sinne wieder beisammen hatte, lief Nava los und kletterte die rutschige Böschung zu Caine hinauf, als dieser gerade einem Cop das Ende seines Spazierstocks über den Schädel zog. Er schlug so fest zu, dass es ihn selbst von den Füßen riss. In einem Gewirr von Gliedmaßen stürzten die beiden hin.

Nava kletterte an dem Cop vorbei, der flach auf dem Rücken lag. Blut rann aus einer Platzwunde über dem rechten Ohr. Er war bewusstlos. Sie bückte sich, zog Caine hoch und zerrte ihn die letzten paar Schritte zur Straße.

Sie brauchten ein Auto.

 

Überall standen Streifenwagen, die aber anscheinend nicht besetzt waren. Keine zehn Meter von ihnen entfernt schlurften ein paar Fahrgäste die Standspur hinunter; sie hatten offenbar gar nicht bemerkt, was sich hier abgespielt hatte. Caine sah nach hinten und bereute es sofort; sechs Cops kamen mit gezogener Waffe die Böschung hochgerannt.

Nava und ihm blieben vielleicht noch fünfzehn Sekunden, dann ging die Schießerei wieder los. Nava war gut – Scheiße, sie war sogar verdammt gut –, aber dass sie mit sechs bewaffneten Polizisten fertig wurde, konnte er sich nicht vorstellen. Hinzu kam, dass Caine nicht einmal wollte, dass sie es versuchte; aus Furcht, dass sie doch mit ihnen fertig wurde, sie dabei aber alle erschoss. Es gab nur eine Lösung.

«Geben Sie mir eine Waffe», sagte Caine. Nava zögerte nicht. Ihr kam seine Bitte anscheinend weniger lachhaft vor als ihm selbst.

Ohne zu zögern, hinkte Caine in die Mitte der regennassen Straße und winkte mit seiner Waffe. Ein roter VW-Käfer bremste mit quietschenden Reifen ab, schlitterte von der Straße und krachte in die Leitplanke. Ein Ford Mustang fuhr um ihn herum, ein dunkelblauer Wirbel, der ihn mit Pfützenwasser übergoss. Caine konnte nichts mehr sehen und wischte sich gerade das Wasser aus den Augen, da schoss ein schwarzer Mercedes auf ihn zu.

Er richtete seine Waffe auf die Windschutzscheibe. Er bluffte nur, aber es funktionierte. Der Fahrer blieb schlitternd stehen, fünfzehn Zentimeter vor Caines gebrochenem Knie. Da die Fenster getönt waren, konnte Caine den Mann am Steuer nicht sehen.

Nava rannte zum Auto und riss die Tür auf. Sie zog den Fahrer beim Kragen heraus und stieß ihm ihre Waffe ins Gesicht. Trotz der schweren Artillerie wirkte der Mann sehr ruhig. Er sah an Nava vorbei und starrte Caine an.

«Rain Man?»

 

«Doc?», fragte Caine ungläubig.

Nava sah zu Caine.

«Sie kennen ihn?»

Caine nickte dümmlich.

«Schön, dann ins Auto», bellte sie. Nava stieß Doc auf den Beifahrersitz, während Caine auf die Rückbank glitt. Er hatte kaum die Tür geschlossen, da trat sie auch schon aufs Gas. Caine hörte eine Hupe plärren und drehte sich gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie ein Kleinwagen in einen Minivan krachte.

Sie gab weiter Gas, überholte mühelos alle Autos vor ihnen. Nach ein paar Minuten schien sie zu dem Schluss gekommen zu sein, dass sie vorläufig außer Gefahr waren, und bremste auf 140 km/​h ab. Als Caine zwischen ihr und Doc hin- und hersah, empfand er ein überwältigendes Déjà-vu.

«Was machen Sie in Philly?», fragte er Doc.

«Ich hab an der Penn einen Vortrag gehalten», sagte Doc ziemlich verwirrt. «Aber was zum Teufel machen Sie hier … und damit?» Doc sah auf die Waffe in Caines Schoß. Caine seufzte. Er wollte ihm gerade erklären, was los war, da klingelte Docs Handy.

«Nicht rangehen», befahl Nava.

«Doch», sagte Caine mit einer geistesabwesenden Stimme. «Ich glaube, Sie gehen besser ran.»

Doc drückte eine Taste und hielt sich das Handy ans Ohr. «Hallo?» Caine hörte ansatzweise eine Stimme am anderen Ende, während er zusah, wie Docs Miene von benommen zu verblüfft wechselte. «Ähm, ja. Einen Moment.» Doc hielt Caine das Handy hin. «Für Sie.»

Nava sah Caine fragend an, als er das Handy nahm.

«Hey», sagte Caine ruhig; er war der Einzige im Wagen, der nicht überrascht war. «Ja. Uns geht’s gut … Ja … Wir treffen uns da, wo wir uns das Finale der Knicks angesehen haben. Wir kommen, so schnell wir können.» Caine klappte das Handy zu und gab es Doc zurück.

«Wer war das?», fragte Nava und sah ihn im Rückspiegel an.

«Jasper. Wir müssen zurück nach Manhattan.»

«Wie bitte?»

«Vertrauen Sie mir», sagte Caine. «Ich glaube, ich weiß endlich, was ich tue.» Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er würde die Pause brauchen, wenn er für das bereit sein wollte, was jetzt kam.

 

Nachdem der Notarzt sagte, dass Williams so weit in Ordnung sei, packte Crowe den Polizisten beim Kragen und rammte ihn gegen den Krankenwagen.

«Was, verdammt nochmal, ist passiert?»

Officer Williams war immer noch benommen. Das getrocknete Blut bildete ein bizarres geometrisches Muster auf einer Hälfte seines Gesichts. «Ähm … na ja, ich hab Caine diesen Hang hochgeholfen und –»

«Sie haben was?», fragte Crowe fassungslos.

«Ja … na ja, es war eben so, dass … Ich meine, ich hab ihm geholfen, aber verstehen Sie, ich wusste ja nicht, dass er es war, als ich ihm … geholfen habe …» William verstummte unter Crowes funkelndem Blick. Er räusperte sich und fuhr fort. Während der Cop eine Erklärung stammelte, drehte Crowe sich voller Abscheu weg. Er konnte es nicht fassen. Da hatten sie die beiden schon fast gehabt, und dann das.

Genau aus diesem Grund hielt Crowe nichts von groß angelegten Festnahmen. Wenn man so viele Agenten und Cops von der Leine ließ, musste es einfach zu Fehlern aus Unachtsamkeit kommen, und deshalb kamen die Bösen dann davon. Er zog die Solojagd bei weitem vor. Ein Mann spürt einen anderen auf. Er sah zu dem zerknautschten Minivan in der Straßenmitte hinüber und hätte am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Die in den Unfall verwickelten Fahrer sagten, dass ein Mann und eine Frau irgendeinen armen Kerl entführt hätten. Das Problem war, dass sich niemand an die Marke des gestohlenen Autos erinnerte. Der in dem Hyundai sagte, es sei groß und dunkelblau gewesen; der Besitzer des Voyagers erinnerte es als klein und dunkelgrün. Die Aussagen waren nutzlos. Die einzige Übereinstimmung war, dass es sich um einen dunklen Farbton gehandelt hatte, was nach Crowes Erfahrung bedeutete, dass der Wagen eigentlich hellgelb war. Sie hatten nichts in der Hand.

Er sah zu dem hellgrauen Himmel hoch. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, aber die Luft war immer noch feucht. Unglücklicherweise hatte sich der Sturm nicht schnell genug für ihre Satelliten gelegt. Ein kurzer Anruf bei Grimes bestätigte, was Crowes Bauch ohnehin schon wusste: Die Wolkendecke hatte jede brauchbare Observierung verhindert.

Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und starrte die orange Glut an. Er behielt den Rauch einige Sekunden im Mund, ehe er ihn in einem langen Atemzug hinausblies. Die blaue Wolke trieb langsam aufwärts und über die Straße, löste sich auf. Er ließ seine Gedanken schweifen, während er den Rauch betrachtete.

Was würde er an Caines Stelle jetzt tun? Er musste denken wie ein Zivilist. Zunächst einmal würde er am Leben bleiben wollen, und Vaners Akte und ihren letzten Arbeitsergebnissen nach zu urteilen, würde Caine ihr in dieser Hinsicht wahrscheinlich einiges zutrauen. Dann würde er gern sein normales Leben wieder aufnehmen wollen. Er würde Angst haben, zur Polizei zu gehen, aber auch nicht den Rest seines Lebens auf der Flucht verbringen wollen. Er würde also was tun? Zuflucht bei einem Freund suchen – oder bei seinem Bruder.

Aber wo steckte sein Zwillingsbruder? Crowe konnte es nicht fassen, dass Grimes Jasper Caine hatte gehen lassen, nachdem Vaner ihn ihnen als Lockvogel vorgesetzt hatte. Hätte Crowe diese Operation geleitet, er hätte den Zwilling für seine Zwecke verwendet. Aber jetzt war es zu spät – Jasper Caine war ebenso verschwunden wie sein Bruder. Crowe hatte ein paar Agenten zur Überwachung von Jaspers Wohnung in Philadelphia abgestellt, aber große Hoffnung machte er sich nicht.

Er drückte die Zigarette aus und starrte zum Himmel hinauf. Die beiden Brüder konnten sich nicht ewig verstecken. Am Ende würden sie auftauchen. Und wenn sie das taten, würde Crowe da sein.

Das nächste Mal würde es keine Fehler geben.

 

Caine verbrachte den Rest der zweistündigen Fahrt damit, seinen alten Mentor über Jasper, Nava, Forsythe, Peter und den Laplace’schen Dämon ins Bild zu setzen. Während Caine redete, überdachte Nava ihre Lage. Als sie anfangs Tverskys Akten gelesen hatte, hatte sie das alles für pure Science-Fiction gehalten. Aber Julia hatte sie in der Gasse eines Besseren belehrt.

Dennoch war Nava noch nicht davon überzeugt gewesen, dass Caine all das tun konnte, was Tversky ihm zutraute. Aber jetzt – nach ihrem «Glück» auf dem Bahnhof und dem «zufälligen» Zusammentreffen mit Doc – hielt sie Caine zumindest teilweise dafür verantwortlich, selbst wenn er nicht wusste, wie er es eigentlich anstellte. Sie hatte keine Ahnung, welchen Beschränkungen Caines Fähigkeiten unterlagen, und sie wollte es auch gar nicht so genau wissen. Sie hatte Angst, was passieren würde, wenn er lernte, aktiv mit seiner Gabe umzugehen.

Sie dachte an die Zeit zurück, als sie als Kind zum ersten Mal Elefanten im Zirkus gesehen hatte. Es waren drei gewesen, und jedes dieser Sechs-Tonnen-Viecher wurde dadurch am Weglaufen gehindert, dass man ihm ein dünnes Seil um einen seiner massigen Knöchel gebunden hatte. Das verwirrte Nava. Sie fragte ihren Vater, warum die Tiere die Seile nicht einfach durchrissen.

«Es geschieht alles in ihrem Kopf», erklärte ihr Vater. «Wenn die Elefanten noch klein sind, werden sie mit schweren Stahlketten an die Pfosten gekettet. In diesen ersten paar Monaten lernen sie, dass sie die Ketten nicht zerreißen können, so sehr sie sich auch anstrengen.»

«Aber Seile halten doch viel weniger aus als Ketten», erwiderte Nava. «Die Elefanten könnten sie ganz leicht kaputtmachen.»

«Ja. Aber die Dompteure nehmen erst Seile, wenn die Elefanten schon gelernt haben, dass eine Flucht unmöglich ist. Verstehst du, Nava, nicht die Seile hindern die Elefanten daran wegzulaufen – sondern ihre Köpfe. Darum ist Wissen so mächtig. Wenn du denkst, dass du etwas tun kannst, auch wenn du dazu eigentlich gar nicht in der Lage bist, dann kannst du es oft tatsächlich. Und wenn du denkst, du kannst etwas nicht, dann wirst du es auch nie können, weil du es gar nicht erst versuchst.»

Das war, knapp zusammengefasst, David Caine. Er war einmal mit einer Kette angebunden gewesen, und jetzt war die Kette weg, durch ein dünnes Seil ersetzt. Er hatte bereits entdeckt, dass er das Seil manchmal in die Länge ziehen konnte. Aber wenn er nun entdeckte, dass das Seil sich zerreißen ließ – dass es tatsächlich bereits zerrissen war – was dann? Nava überlief ein Schaudern.

Was würde passieren, wenn Caine klar wurde, dass die normalen Regeln für ihn nicht mehr galten?

 

«The Real Me» von The Who kam aus der Jukebox, und Roger Daltreys Löwengebrüll erfüllte die Kneipe im East Village: «Can you see the rrrrreal me? Can ya? Can ya?»

Jasper nippte an seiner Cola und beobachtete nervös die Tür. Jedes Mal, wenn sie aufging, kniff er wegen des hellen Sonnenscheins, der in die schummrig beleuchtete Kneipe drang, die Augen zu. Im ersten Moment waren die Eintretenden nur Umrisse. Erst wenn die Tür wieder zufiel, konnte er ihre Gesichter erkennen – und entscheiden, ob sie für die Regierung arbeiteten.

Die Verschwörer waren überall; das war ihm jetzt klar. Er konnte spüren, wie sie ihn beobachteten, seine Gedanken auszuspionieren versuchten, aber das ließ er nicht zu. Wenn er ihnen nur immer einen Schritt voraus blieb, würden David und er sie besiegen. Bis jetzt hatte er getan, was er konnte, damit sie David nicht in die Finger kriegten. Jasper wusste jedoch, dass es bald David sein würde, der Jasper retten musste. Aber das war schon in Ordnung. Dafür waren Brüder da – um aufeinander aufzupassen.

Jasper hatte ausgetrunken und nahm sich nun die Eiswürfel vor, zerbiss sie knirschend. Die dralle Bedienung bemerkte sein leeres Glas und schlenderte herüber.

«Noch ’ne Cola, Schätzchen?»

«Gern-Stern-fern-lern», sagte er und tat sein Bestes, während der Reime die Stimme zu senken. Die Bedienung sah ihn schief an und ging zum Tresen zurück. Jasper atmete langsam aus. Es war fast so weit. Er konnte es schon spüren … Scheiße, er konnte es fast riechen. Aber es war nicht dieser andere Geruch. Der Geruch hier war gut, sauber und rein. Es war der Geruch der Wiedergutmachung.

Er hatte die ganze Zeit über Recht gehabt, und sie hatten ihn weggesperrt. Weit, weit weg, weil sie Angst vor der Wahrheit hatten, die in seinem Geist verborgen lag. Aber jetzt … jetzt war die Wahrheit frei. Er war frei. Endlich war ihm klar, was die Stimme ihm die ganzen Jahre über zu sagen versucht hatte. Es war dermaßen offensichtlich; er verstand überhaupt nicht, warum er die Antwort nicht schon früher gewusst hatte. Aber jetzt wusste er Bescheid. Und bald würde auch David Bescheid wissen.

Noch vor einer Woche hätte David sich gewehrt. Er hätte Jasper bloß ängstlich angeguckt. Als David ihn so angeguckt hatte, hatte Jasper das Gefühl gehabt, fast hören zu können, wie sein Bruder leise flüsterte: Bitte nicht mich … bitte lass mich nicht auch so werden. Jasper hatte diesen Blick nie ausstehen können, aber mit der Zeit hatte er ihn verstanden. Er warf es seinem Bruder nicht vor; wäre es umgekehrt gewesen, hätte Jasper sich genauso verhalten.

Die Bedienung brachte ihm seine Cola (ohne Lächeln), und Jasper leerte das Glas in drei langen Zügen. Das kohlensäurehaltige Gesöff brannte in seiner Kehle, aber das war ihm egal. Es war so gut, dass er nicht anders konnte. Seit er die Wahrheit gesehen hatte, fühlte sich alles gut an – die Rillen der in den Holztisch gekerbten Kritzeleien; das glatte, kühle, beschlagene Colaglas unter seinen Fingern; sogar die muffige, verrauchte, biergeschwängerte Luft in der Kneipe – es war alles so perfekt, so wirklich, so präsent.

Die Tür schwang erneut auf, und Jasper blinzelte in das grelle Licht. Drei dunkle Gestalten traten ein. Als Erstes kam die Frau. Die Stimme hatte ihm von ihr erzählt. Sie würde eine starke Verbündete sein, aber jetzt war sie noch gefährlich, mit Vorsicht zu genießen. Als Nächstes kam ein Mann mit buschigem grauem Haar. Das musste Davids ehemaliger Professor sein, Doc. Jasper hatte ihn schon einmal getroffen. Er mochte ihn. Er war klug. Er würde verstehen.

Schließlich erkannte er die dritte Gestalt. Es war sein anderes Ich, dasjenige, das außerhalb von ihm existierte. David, sein Zwilling. Nachdem die Tür zugeschwungen war, beobachtete Jasper die Augen seines Bruders. Sie hatten einen wilderen Ausdruck als früher. Davids Blicke schossen mit paranoider Verstohlenheit hin und her, bevor sie sich auf Jasper richteten.

Jasper hatte Augen wie die seines Bruders schon oft gesehen, aber immer hinter den weißgrauen Wänden der diversen Psychatrien, die er in den letzten drei Jahren aufgesucht hatte. Jasper nickte, entspannte sich zum ersten Mal seit seinem Wiedererwachen vor vier Tagen.

Sein Bruder war endlich bereit.