Um Punkt 2.15 Uhr blieb Nava Vaner an der Ecke 20th Street 7th Avenue stehen, um sich eine Zigarette anzustecken. Es war ihr einziges Laster, und wie alles andere in ihrem Leben hatte sie es vollkommen unter Kontrolle. Sie gestattete sich eine Zigarette pro Tag, es sei denn, sie führte eine Observierung durch, in welchem Fall man nie wusste, was passieren würde. Heute aber war sie nicht im Einsatz, und daher war es ihre erste und letzte Zigarette für diesen Tag.
Sie legte den Kopf in den Nacken und nahm einen tiefen Zug, betrachtete konzentriert die rote Glut vor dem trüben Nachthimmel. Ausatmend tat sie, als würde sie nachsehen, ob irgendwelche Autos oder Busse kamen, ehe sie schließlich den Fußgängerüberweg betrat. Es war jedoch nicht der Verkehr, nach dem sie Ausschau hielt, sondern ein Beschatter.
Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, wimmelte es an diesem Samstag auf dem Gehsteig von Nachtschwärmern. Ihr Instinkt verriet ihr, dass ihr jemand folgte, sie wusste nur nicht, wer es war. Abrupt machte sie kehrt, reihte sich in den Pulk der Passanten ein und versuchte ihren Verfolger zu erkennen.
Ein obdachloser Schwarzer wich ihr stolpernd aus und rempelte dabei drei Gruftis an, die ihn wegstießen. Sofort schrillten bei Nava die Alarmglocken, aber sie brauchte einen Augenblick, ehe sie begriff, wieso. Nichts am Äußeren des Mannes deutete darauf hin, dass er ein anderer war, als er zu sein schien, aber Nava ließ sich nicht täuschen.
Sein Geruch verriet ihn – oder eher sein fehlender Geruch. Trotz seiner zerlumpten Kleidung und seines schmutzigen Gesichts roch er nicht wie jemand, der auf der Straße lebte. Nava ging weiter, nahm eine Puderdose aus ihrem schwarzen Lederrucksack und betrachtete den Mann in dem kleinen runden Schminkspiegel. Da sie nun wusste, wer er war, wirkte seine Verkleidung noch offensichtlicher. Der fleckige, weite Poncho und die gebeugte Haltung sollten seine große, muskulöse Gestalt verbergen.
Um seinen Partner oder seine Partnerin zu entdecken, musste sie irgendwohin gehen, wohin er ihr nicht folgen konnte. Als Nava ihr neues Ziel erblickte, beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie sich schließlich in die Menschentraube drängelte, die vor dem Twi-Fly anstand. Sie nahm noch einen letzten Zug aus ihrer Zigarette und trat sie dann unter dem Absatz aus, mit einem Anflug von Bedauern darüber, dass sie ihre tägliche Nikotinration nicht bis zum Ende auskosten konnte.
Da Nava mit ihrer schlanken, sportlichen Gestalt, dem langen, braunen Haar und ihrem olivfarbenen Teint umwerfend aussah, gelang es ihr mit Leichtigkeit, sich zu dem blondierten Türsteher vorzudrängeln. Sie schenkte ihm ein Lächeln und drückte ihm einen Hundertdollarschein in die Hand. Ohne ein Wort zu sagen, löste er die Samtkordel vor der Tür und geleitete sie hinein.
Über einen dunklen, verspiegelten Gang gelangte sie in einen Raum von der Größe eines Flugzeughangars. Der Technobeat und die pulsierenden Lichter überwältigten ihre Sinne. Ihr war klar, dass es hier schwieriger sein würde, ihren zweiten Beschatter zu erkennen, aber dafür war es hier auch schwieriger, sie zu beschatten.
Mit dem Rücken an einer Wand aus Strobolights stehend, behielt Nava den Eingang im Blick. Gut zehn Minuten später kam eine Rothaarige mit Alabasterteint herein. Zwar hatte sich die Frau in eine Schar von Partygirls gedrängt, aber an ihrer Kleidung und ihrem Make-up sah man, dass sie nicht dazugehörte. Als die anderen Frauen auf die Tanzfläche strömten, blieb sie denn auch zurück, lehnte sich betont lässig an den Tresen und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
Nava wartete noch fünf Minuten lang, um zu sehen, ob nach der Rothaarigen noch jemand Verdächtiges den Raum betreten würde, aber es kam niemand. Ihr war klar, dass ihr womöglich noch weitere Agenten folgten, aber ihr Bauch sagte ihr, dass es nur die Rothaarige und der Obdachlose waren. Nava beobachtete die Frau und überlegte, was sie nun tun sollte.
Nava glaubte nicht, dass sie vorhatten, sie zu töten. Wenn man sie umbringen wollte, hätte man eher einen Scharfschützen auf sie angesetzt, statt ihr durch die Stadt zu folgen. Es sei denn, sie wollten es wie einen Unfall aussehen lassen. Nava hatte selbst schon Menschen auf diese Weise ums Leben gebracht – hatte bis zum allerletzten Moment gewartet und jemanden dann vor einen heranrasenden Bus oder Laster geschubst. Aber das war unwahrscheinlich. Vermutlich hatten sie es nur darauf abgesehen, ein Treffen oder eine Übergabe mitzubekommen. Entweder das, oder sie wollten sehen, mit wem sie zusammenarbeitete.
Nava fand, es sei nun Zeit. Wenn es tatsächlich Killer waren, wollte sie agieren, nicht reagieren. Alle Muskeln angespannt, ging sie entschlossenen Schritts in Richtung Tresen. Als sie sicher war, dass die Rothaarige sie entdeckt hatte, eilte Nava zum Ausgang. Draußen an der kalten Nachtluft überquerte sie die Straße und ging auf den großen Schwarzen zu.
Er war der Rothaarigen zwar körperlich überlegen, aber Nava wollte das Überraschungsmoment für sich nutzen. Während er Nava unterschätzen würde, wäre die Rothaarige auf eine Auseinandersetzung vorbereitet gewesen. Nava ging in fünf Meter Entfernung an ihm vorbei, dann weiter die 7th Avenue hinab und hielt dabei nach einem Ort Ausschau, der etwas Deckung bot.
Sie musste den Mann stellen, wenn seine Partnerin außer Sicht war. Die U-Bahn-Station 23rd Street war die nahe liegende Wahl. Sie beschleunigte ihre Schritte, in der Hoffnung, dass nur der Mann versuchen würde, ihr auf den Fersen zu bleiben, und die Frau sich ein wenig im Hintergrund halten würde. Zielstrebig ging Nava zu der Treppe, die in den Bauch der Stadt führte, und schritt dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinab.
Im Untergeschoss angelangt, bog sie um die Ecke und drängte sich an eine Wand. Sie zog den Totschläger aus ihrem Rucksack. Er enthielt in einer dicken Lederhülle ein zweihundert Gramm schweres Bleigewicht und eine stählerne Spirale. Einfach, aber wirksam. Sie winkelte den Ellbogen an und zog den Arm zurück, um beim Schlag ein wenig ausholen zu können.
Nur Augenblicke später hörte sie die Schuhe des Mannes die Treppe herabtrappeln. Den Blick auf den Boden gerichtet, verfolgte sie, wie sich sein langer Schatten näherte. Nava wartete nicht ab, bis er um die Ecke bog. Sie wirbelte aus ihrem Versteck hervor, packte ihn mit der Linken an der Gurgel und briet ihm mit der Rechten den Totschläger über den Schädel. Er grunzte vor Schmerz und riss einen Arm hoch, um seinen Kopf abzuschirmen. Nava ergriff sein Handgelenk und riss es herum, bis sie ihm fast die Knochen brach.
Mit einer Hand immer noch sein Handgelenk haltend, ließ sie den Totschläger fallen, zog die Waffe des Mannes aus seinem Schulterholster unter dem Poncho, entsicherte sie, drückte ihm die Mündung an den Hals und zwang ihn so, sich an die Wand zu stellen.
«Für wen arbeiten Sie?»
Die Blicke des Mannes schossen zu der Waffe hinab und dann wieder zurück zu Nava, so als könnte er überhaupt nicht begreifen, wie das hatte passieren können.
«Ihre Partnerin wird in dreißig Sekunden hier sein. Ich kann Sie nicht beide in Schach halten, also wenn Sie jetzt nicht anfangen zu reden, erschieße ich Sie und hole mir die Informationen dann von ihr.» Nava zuckte mit keiner Wimper. «Ich gebe Ihnen zehn Sekunden. Neun. Acht. Sieben –»
«Mein Gott», ächzte er, «ich bin bei der Agency, genau wie Sie, und das ist nur eine Routine-Observierung! Meine Brieftasche steckt vorne im Poncho, schauen Sie doch nach!»
Als er damit herausplatzte, wusste Nava sofort, dass er nicht log, aber dennoch musste sie sichergehen. Sie drückte ihm die Mündung fester an den Hals und tastete nach seiner Brieftasche. Wie die meisten Agenten hatte er zwei. Die in der linken Tasche enthielt einen ganz normalen Führerschein, die in der rechten hingegen einen Dienstausweis der CIA – Agent Leon Wright. Nava atmete aus und trat einen Schritt zurück.
Wright sackte an der Wand in sich zusammen und hielt sich vorsichtig das verstauchte Handgelenk. In diesem Moment hörte Nava den Widerhall der Schuhe seiner Partnerin, die die Treppe hinabrannte. Nava nickte Wright zu, und er rief: «Ich bin enttarnt, Sarah! Ganz ruhig!»
Nava schritt hinter der Ecke hervor, mit erhobenen Händen, Wrights Waffe zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, um seine Partnerin nicht zu erschrecken. Der Rothaarigen waren Erstaunen, Enttäuschung und Wut anzusehen, ehe sie einen maskenhaft professionellen Blick aufsetzte. Als Sarah Wright erblickte, stieß sie einen leisen Pfiff aus. An seiner Handkante hatte sich bereits eine purpurrote Beule von der Größe einer Flipperkugel gebildet.
«Ich bin bereit, diesen Zwischenfall zu vergessen, wenn Sie mich meinen nächtlichen Spaziergang ungehindert fortsetzen lassen», sagte Nava.
Sarah wollte protestieren, aber Wright schnitt ihr das Wort ab.
«Einverstanden», sagte er, und nur an seinen verzerrten Mundwinkeln sah man, dass er Schmerzen litt. Nava sicherte Wrights Waffe und warf sie Sarah zusammen mit dem Dienstausweis zu.
«Dann wünsche ich noch eine angenehme Nacht», sagte Nava.
Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie die Treppe hinauf. Ihr zitterten die Hände. Um ein Haar hätte sie ihn umgebracht. O Gott. Sie ließ wirklich nach. Früher hatte sie die Absichten eines Agentenkollegen allein anhand seines Gangs erkennen können, doch in letzter Zeit fühlte sie sich ausgebrannt. Nava sah sich um, fragte sich mit einem Mal, ob das Ganze ein Trick gewesen sei. Aber da war niemand. Sie war allein.
Nava wusste, wenn man sie observierte, bedeutete das noch nicht, dass staatliche Stellen der USA sie des Landesverrats verdächtigten. Wenn dem so wäre, hätten die beiden Agenten sie nicht so einfach davonkommen lassen. Das war doch paranoid. Es war genau so, wie Wright gesagt hatte: eine routinemäßige Observierung, wie sie von Zeit zu Zeit bei allen Agenten durchgeführt wurde, um sicherzustellen, dass sie alle noch ganz koscher waren.
Dennoch ging Nava noch dreimal um den Block, nur für alle Fälle. Dann öffnete sie mit dem Schlüssel, den ihre Kontaktperson ihr am Abend zuvor kommentarlos in die Tasche gesteckt hatte, die Eingangstür eines schäbigen Mietshauses. Drinnen stieg sie zum Treppenabsatz in der zweiten Etage hoch und zog ihre Waffe, eine Glock 9mm. Langsam atmete sie aus, fühlte sich mit der schweren Waffe in der Hand schon viel wohler. Sie richtete die Pistole auf die Haustür und wartete geschlagene fünf Minuten lang, um sicherzugehen, dass ihr niemand gefolgt war.
Es kam niemand.
Zufrieden ging sie die übrigen drei Treppen zu der leer stehenden Wohnung hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte den Türknauf. Mit einer Hand schob sie die Tür weit auf, und mit der anderen schwenkte sie die Waffe einmal von links nach rechts. Der zierliche Koreaner, der auf dem einzigen Stuhl des Zimmers saß, regte sich kaum. Sein glatt rasiertes, breites Gesicht war ausdruckslos. Nava betrat den Raum und sah sich schnell um, um sich zu vergewissern, dass sie alleine waren.
«Warum denn so nervös heute Abend?» Sein Englisch war ausgezeichnet, aber er sprach noch mit einem leichten Akzent.
«Ich bin nicht nervös. Ich bin nur vorsichtig.»
Er nickte und wies auf einen Laptop, dessen Bildschirm die dunkle Küche in grünes Schummerlicht tauchte. Nava hob einen Zeigefinger und zog dann ein kleines Gerät aus ihrem Rucksack, einen Zylinder, circa zehn Zentimeter lang und fünf Zentimeter dick. Als sie an der Unterseite auf einen kleinen schwarzen Knopf drückte, wurden oben drei Stahlspitzen ausgefahren. Vorsichtig stellte sie den Apparat auf den Boden und richtete die Spitzen auf die Zimmerdecke. Wenig später gab das Gerät ein tiefes Brummen von sich, und ein Lämpchen leuchtete rot.
«Noch eine Vorsichtsmaßnahme?», fragte der Speznaz-Agent.
«Das verhindert, dass wir mit Richtmikrofonen abgehört werden», sagte Nava. Erst jetzt sah sie, dass der Mann ein winzig kleines Headset trug. Sie wusste, dass sie mit ihrem Störsender nichts dagegen ausrichten konnte, aber die Koreaner durften ja auch ruhig mithören. Sie fuhr mit der Hand über das glatte Gehäuse des Laptops. «Ist der sicher?»
«Das Funkmodem hat eine 128-Bit-Verschlüsselung. Sobald ich die Daten verifiziert habe, überweise ich das Geld auf Ihr Konto. Dann können Sie in der Schweiz anrufen.»
Nava löste ihre Gürtelschnalle, zog die kleine CD daraus hervor und schob sie seitlich in den Rechner. Nach der Eingabe des fünfzehnstelligen Kennworts wurde der Bildschirm für einen Sekundenbruchteil schwarz, ehe er wieder etwas anzeigte.
Als er das sah, stand der Mann, den sie unter dem Namen Yi Tae-Woo kannte, auf und ging hinüber zu dem Rechner. Er bewegte sich so flüssig, dass er über den Boden zu schweben schien. Aus seiner Geschmeidigkeit schloss Nava, dass er Nahkampfexperte war. Aber das waren schließlich alle Speznaz-Agenten – vor allem die aus der Einheit 695, der Elitegruppe, die in aller Welt Geheimzellen des nordkoreanischen Auslandsgeheimdienstes RDEI aufbauen sollte, des Research Department for External Intelligence.
Nava erinnerte sich noch daran, wie die Männer aus der Demokratischen Volksrepublik Korea zum ersten Mal in dem Camp aufgetaucht waren, in dem sie als Mädchen ausgebildet worden war. Das war 1984 gewesen, und Kim Jong-Il hatte damals beschlossen, seine besten Kämpfer nach Pawlowsk zu schicken, um sie dort von dem sowjetischen Sondereinsatzkommando Speznaz trainieren zu lassen. Geschult wurden alle Formen bewaffneten und unbewaffneten Kampfes, Terrorismus und Sabotage.
Die Nordkoreaner bewunderten ihre sowjetischen Ausbilder so sehr, dass sie den Namen Speznaz für ihre Truppen übernahmen. Ihr Motto behielten sie jedoch bei: «Einer gegen hundert.» Und das war ihr Ernst. Nava fragte sich wieder einmal, ob es ein Fehler gewesen war, sich mit ihnen einzulassen. Sie waren zwar auch nicht gefährlicher als die Agenten des israelischen Mossad oder des britischen MI6, denen sie normalerweise Informationen verkaufte, aber sie traute den Nordkoreanern nicht. Egal – das war ohnehin alles bald vorbei. Es war das letzte Mal, dass sie mit ihnen Geschäfte machte.
Sie sah Yi Tae-Woo dabei zu, wie er sich an dem Rechner durch die Informationen scrollte, ab und an inne hielt, um bestimmte Seiten zu lesen, und dann wieder ganze Abschnitte übersprang. Nava ließ ihn seine Arbeit machen und wartete geduldig, bis er sich davon überzeugt hatte, dass sie das Versprochene geliefert hatte. Nach fünf Minuten trat er einen Schritt zurück.
«Es scheint alles in Ordnung zu sein. Das Geld wurde überwiesen. Sie können es selber mit dem Laptop nachprüfen.»
Nava lächelte. «Sie werden sicherlich verstehen, dass ich auf dieses Angebot nicht eingehen werde.»
«Selbstverständlich», sagte Yi Tae-Woo verblüfft.
Nava hatte nicht vor, die Überweisung mit einem Rechner des nordkoreanischen Geheimdienstes zu überprüfen. Die RDEI konnte ihr nicht nur falsche Informationen zuspielen, sondern auch, indem sie aufzeichnete, was Nava eintippte, ihre Zugangsdaten ermitteln und ihr Konto abräumen. Es hätte Nava zwar gewundert, wenn die Nordkoreaner sie betrogen hätten, aber Unterschlagung war in der Welt der Geheimdienste ganz gewiss kein unbekanntes Phänomen. Schließlich mussten sich auch Spione an Etats halten.
Sie klappte ihr Mobiltelefon auf, das ebenfalls über eine 128-Bit-Verschlüsselung verfügte, und rief bei der Bank an. Nachdem sie ihre Zugangsdaten durchgegeben hatte, bestätigte ihr der Bankangestellte, dass auf ihrem Konto gerade eine Dreiviertelmillion Dollar eingegangen war. Sie gab eine Transaktionsnummer durch und signalisierte ihm damit, dass er die Instruktionen ausführen sollte, die sie ihm am Tag zuvor gegeben hatte. Nava wartete noch kurz seine Antwort ab und beendete dann das Gespräch. Als sie sich schließlich wieder zu Yi Tae-Woo umwandte, war ihr Geld (abzüglich einer Gebühr von 1,5 Prozent) auf den Cayman-Inseln in Sicherheit.
«Ist alles, wie es sein sollte?», fragte er.
«Ja. Danke», sagte Nava, die dringend aufbrechen wollte. Sie deaktivierte den Störsender und verstaute ihn wieder in ihrem Rucksack. Yi Tae-Woo stand zwischen ihr und der Tür. Er wollte gerade beiseite treten und Nava vorbeilassen, da hörte sie sein Headset piepsen. Yi Tae-Woo trat einen Schritt zurück, zog mit einer flüssigen Bewegung seine Waffe und richtete sie direkt auf Navas Brust.
«Es gibt ein Problem», sagte er.
«Und das wäre?», fragte Nava. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
«Eine der Dateien ist nicht lesbar. Anscheinend stimmt mit der CD irgendetwas nicht», sagte Yi Tae-Woo. Er wies mit einer leichten Kopfbewegung auf den Laptop. «Überprüfen Sie das.»
Nava drehte sich um und warf die CD aus. Sie hielt die kleine Scheibe vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie im schummrigen Licht hin und her. Sofort entdeckte sie einen winzigen Kratzer von der Größe einer Wimper. Er musste entstanden sein, als sie Wright unschädlich gemacht hatte.
«Die CD hat einen Kratzer», sagte Nava.
«Sie müssen das Geld zurückzahlen», sagte er.
Nava erstarrte das Blut in den Adern. «Das kann ich nicht», sagte sie, ohne sich umzudrehen. «Ich habe strikte Anweisung gegeben, das Geld frühestens vierundzwanzig Stunden nach dem Eingang der Zahlung auf ein anderes Konto zu transferieren.» Als sie dem Bankangestellten am Tag zuvor diese Anweisung gegeben hatte, hatte sie das für klug gehalten. Nun sah sie das anders.
«Dann haben wir ein sehr großes Problem.»
Nava wusste, dass sie nur eine Chance hatte. Herumwirbelnd packte sie sein Handgelenk und riss es hoch, ehe er einen Schuss abgeben konnte. Mit der CD in der anderen Hand schnitt sie ihm die Wange auf, sodass sofort Blut floss. Durch den Schock der plötzlichen Verletzung gewann Nava die Oberhand. Sie rammte ihm die Faust ins Gesicht und brach ihm damit die Nase. Er ließ die Waffe fallen und wich taumelnd zurück.
Nava langte in ihre Jacke, um nach der Glock zu greifen, aber da flog die Tür auf und drei Männer in Schwarz platzten mit gezogenen Waffen herein. Sofort legte sie die Hände hinter den Kopf und kniete sich hin. Jetzt gab es keinen Ausweg mehr, das war ihr klar. Einer der Männer trat ihr in die Magengrube. Unter Schmerzen sank sie zu Boden, und der Mann setzte ihr eine Stiefelsohle auf die Schädelbasis und rammte ihr die Mündung einer Uzi-Maschinenpistole in den Rücken. Der Mann sprach hastig auf Koreanisch und fesselte sie an einen Stuhl.
Yi Tae-Woo beugte sich über sie, sodass sie einander in die Augen sahen.
«Was wollen Sie?», fragte Nava.
«Wir wollen, dass Sie das Geld zurückzahlen», sagte er mit nasaler Stimme. «Und zwar sofort.»
«Ich habe Ihnen doch gesagt: Das kann ich nicht.»
Er richtete sich wieder auf und zielte mit seiner Sig-Sauer auf ihren Kopf.
«Tae-Woo, warten Sie. Binnen vierundzwanzig Stunden kann ich Ihnen die Daten besorgen. Ich muss nur zurück in die Dienststelle und sie herunterladen.»
Yi Tae-Woo sprach kurz auf Koreanisch mit der Person, mit der er über sein Headset verbunden war. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Nava.
«In vierundzwanzig Stunden werden Sie uns die restlichen Informationen übergeben und das Geld zurückzahlen.»
«Das ist unf–» Der ernste Blick in Yi Tae-Woos Augen sorgte dafür, dass Nava den Satz nicht zu Ende sprach. Vielmehr sagte sie: «Danke, dass Sie so vernünftig sind.»
«Gern geschehen.» Yi Tae-Woo nickte seinen Männern zu, die sie schnell losbanden und ihr hochhalfen. «Denken Sie dran: vierundzwanzig Stunden.»
«Das werde ich», sagte Nava und rieb sich die Handgelenke.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ sie den Raum und ging die Treppe hinab. Sie entspannte sich erst ein wenig, als sie acht Blocks von dem schäbigen Mietshaus entfernt war, und dann überraschte sie sich selbst damit, dass sie stehen blieb, um sich an einem Haufen dunkelgrüner Müllsäcke zu erbrechen. Hinterher wischte sie sich mit dem Ärmel den Mund ab, wovon ein kleiner gelber Fleck zurückblieb.
Als sie dann weiterging, ertappte sich Nava dabei, dass sie sich unwillkürlich eine weitere Zigarette ansteckte. Sie wollte sie schon wieder austreten, überlegte es sich dann aber anders und beschloss, dass sie am heutigen Tag so viel rauchen würde, wie sie wollte.
Denn sie war sich nicht mehr sicher, dass es noch viele Morgen geben würde.