Caine entdeckte Jasper und verspürte eine Woge der Erleichterung.
Endlich hatte er es geschafft, sich einen Weg durch diese albtraumhafte Wahnvorstellung zu bahnen. Bestimmt würde jetzt alles gut werden. Jasper würde wissen, wie man ihn aus dieser Finsternis herausholte und wieder zurück in die geistige Gesundheit führte. Jasper hatte diese Reise selbst schon gemacht. Er würde den Weg kennen.
Jasper stand auf, und Caine umarmte seinen Zwillingsbruder. «Du hast ja keine Ahnung, wie gut es tut, dich zu sehen», sagte Caine und hielt sich an Jasper fest.
«Ich denke doch, ehrlich gesagt», flüsterte ihm Jasper ins Ohr. «Schön, dass du wieder da bist-frisst-Mist-Rist.» Jasper klopfte ihm auf die Schulter, und dann trennten sich die Zwillinge und nahmen in der Nische Platz. Caine setzte sich seinem Bruder gegenüber. Nava glitt rechts neben ihn, Doc setzte sich neben Jasper.
Ehe Caine etwas sagen konnte, stürzte die Bedienung herbei. Sie bestellten rasch etwas zu trinken, eher um sie loszuwerden als des Durstes wegen. Kaum war die Bedienung außer Hörweite, wandte Jasper sich an Nava. «Keine Sorge, hier sind keine Verschwörer. Wir sind in Sicherheit.» Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. «Sie werden bald da sein, aber uns bleibt noch genug Zeit, damit David erfährt, was er wissen muss-Bus-Kuss-Schluss.»
Nava warf Caine einen fragenden Blick zu.
«Ist schon in Ordnung», sagte Caine, war aber selbst nicht hundertprozentig davon überzeugt. Entgegen seiner ursprünglichen Zuversicht, dass allein Jasper ihn aus diesem Wahnzustand befreien konnte, war er sich jetzt, wo er den irren Ausdruck in den Augen seines Bruders sah, nicht mehr so sicher. Dennoch, versuchen musste er es. «Jasper, ich –»
«Tut mir Leid, David, aber ich werde dir nicht erzählen, was du hören möchtest. Das alles», Jasper machte eine umfassende Handbewegung, «ist real. Die letzten 24 Stunden sind wirklich so geschehen. Ich weiß, es klingt verrückt, aber sobald du erst einmal auf der anderen Seite bist, wirst du es verstehen.»
«Was willst du damit sagen?» Caine bekam einen trockenen Mund. «Dass der Laplace’sche Dämon ebenfalls real ist?»
«Ja und nein», sagte Jasper.
Caine spürte Wut in sich aufsteigen. In einer Hinsicht zumindest hatte Jasper Recht – er erzählte Caine nicht, was er hören wollte. Caine schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Das alles passierte gar nicht. Er musste hier raus. Er musste aufwachen. Etwas knallte laut, und Caine riss die Augen auf. Jaspers Faust lag mitten auf dem Tisch; ein paar Gäste, die am Tresen saßen, sahen zu ihnen herüber. Nava sah wütend aus, Doc völlig verdattert.
«David, hör zu. Sei offen für das, was ich dir zu sagen habe; ich brauche zehn Minuten. Wenn du danach immer noch der Meinung bist, dass ich verrückt bin – oder dass du verrückt bist –, dann kannst du tun und lassen, was du willst. Aber gib mir wenigstens die Gelegenheit zu einer Erklärung.»
Caine wollte widersprechen, aber der flehende Ausdruck in Jaspers Augen stimmte ihn um. «Na schön», sagte er und versuchte sich der Möglichkeit zu stellen, dass alles, was sich seit der Einnahme von Dr. Kumars experimentellem Medikament ereignet hatte, tatsächlich real war. Genau in diesem Augenblick kam die Bedienung mit den Getränken – zwei Cola für die Zwillinge, Red Bull für Nava und einem Kaffee für Doc. Da Caine nicht wusste, wann er wieder Gelegenheit dazu haben würde, schluckte er rasch eine der Tabletten.
«Gut», sagte Jasper, als die Kellnerin wieder ging. «Du hast mich gefragt, ob der Laplace’sche Dämon real ist oder nicht, und ich habe ja und nein gesagt. Lass uns einmal annehmen, dass die Frage uneingeschränkt mit Ja zu beantworten ist und du die Verkörperung des Laplace’schen Dämons bist.»
«Wenn dem so wäre», sagte Caine, «dann wäre ich allwissend – was nicht der Fall ist.»
«Aber wenn du allwissend wärst, dann könntest du die Zukunft vorhersagen, stimmt’s?»
«Ja, wobei ich eigentlich dachte, dass Heisenberg –»
«Heisenberg kannst du komplett vergessen», sagte Jasper und winkte ab. «Darauf komme ich später zurück. Fürs Erste beantworte mir folgende Frage: Wenn du der Laplace’sche Dämon wärst und allwissend, dann wärst du in der Lage, die Zukunft vorherzusagen. Ja oder nein?»
«Ja», sagte Caine aufgebracht, «aber selbst wenn ich allwissend wäre, müsste mein Gehirn all die Informationen auch verarbeiten können, und das ist unmöglich.»
«Beides richtig», sagte Jasper mit einem Lächeln.
«Aber wenn es unmöglich ist, wie kann ich dann der Laplace’sche Dämon sein?»
«Weil», sagte Jasper, «du gar nicht über die Fähigkeit zur Verarbeitung der Informationen verfügen musst; du musst nur auf sie zugreifen können. Stell es dir einmal so vor: Wenn du dich mit jemandem verständigen möchtest, der nur Japanisch spricht, was tust du dann-wann-Mann-Bann?»
«Ich weiß nicht … ein Wörterbuch benutzen wahrscheinlich. Entweder das oder einen Dolmetscher hinzuziehen.»
«Ganz genau», sagte Jasper. «Du müsstest nicht Japanisch können, solange du Zugang zu einem Werkzeug hättest, das es dir gestatten würde, deine Gedanken ins Japanische zu übersetzen. Allgemein gesprochen würdest du die Informationsverarbeitung auslagern, entweder zu einer Person oder zu einem Wörterbuch.»
«Gut», sagte Caine zögernd. «Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Allerdings verstehe ich nicht, wie du das Übersetzen einer Sprache mit der Verarbeitung sämtlicher Daten des Universums gleichsetzen kannst.»
«Warum nicht-dicht-schlicht-Wicht?», fragte Jasper.
«Weil es auf der ganzen Erde keine geistige Macht gibt, weder Mensch noch Maschine, die in der Lage ist, diese Unmenge an Daten zu verarbeiten.»
«Denkst du», sagte Jasper. «Es gibt sie sehr wohl.»
«Und was ist das für eine Macht?»
«Das kollektive Unbewusste.»
Caine starrte seinen Bruder an, versuchte zu begreifen. Aus seiner Zeit am College wusste er noch, dass Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein deutscher Psychologe namens C. G. Jung die Theorie vom kollektiven Unbewussten aufgestellt hatte, aber das war auch schon beinahe alles, woran er sich erinnerte. Jasper sah den verwirrten Ausdruck auf Caines Gesicht und setzte zu einer Erklärung an.
«Gut, lass es mich so beschreiben: Die meisten Menschen schlafen durchschnittlich acht Stunden pro Nacht, was bedeutet, dass sie ein Drittel des Lebens in einem unbewussten Zustand verbringen. Jung nahm an, dass das Bewusstsein zumindest teilweise vom Unbewussten angetrieben und beeinflusst wird. Das Unbewusste teilte er in drei Kategorien ein: Die erste umfasst persönliche Erinnerungen, auf die du frei zugreifen kannst, zum Beispiel den Namen deiner Klassenlehrerin im vierten Schuljahr. Du weißt ihn zwar vielleicht gerade nicht, aber höchstwahrscheinlich erinnerst du dich, wenn du ein wenig nachdenkst.»
«Das Langzeitgedächtnis.»
«Genau-Frau-wau-schlau», sagte Jasper und nickte nachdrücklich. «Die zweite Kategorie umfasst persönliche Erinnerungen, auf die du nicht frei zugreifen kannst. Das sind entweder Dinge, die du einmal wusstest, aber inzwischen vergessen hast, oder aber ein Kindheitstrauma, das du verdrängt hast. Diese Erinnerungen waren alle einmal Teil deines Bewusstseins, aber aus irgendeinem Grund sind sie so tief vergraben, dass du nicht mehr auf sie zugreifen kannst.
Die dritte Kategorie ist das kollektive Unbewusste. Seine Inhalte können definitiv nicht ins Bewusstsein gelangen, weil sie nie dessen Bestandteil gewesen sind. Daher enthält das kollektive Unbewusste im Wesentlichen ein Wissen, das keinen bekannten Ursprung hat-matt-Watt-Patt.»
«Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?», fragte Nava.
«Ein Neugeborenes weiß, wie es zu saugen hat, wenn es zum ersten Mal an die Mutterbrust gehalten wird, und wie es zu schreien hat, um seinem Hunger Ausdruck zu verleihen. Ein Rehkitz macht seine ersten Schritte nur Sekunden, nachdem es geboren wurde. Wenn Fische schlüpfen, dann wissen die Jungtiere, wie sie schwimmen müssen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sämtliche Lebewesen besitzen bei der Geburt komplexe körperliche Fähigkeiten und ein komplexes Wissen über sich selbst und die Umwelt, ohne dass es dafür einen bekannten Ursprung gibt.»
Caine runzelte die Stirn. «Aber ich dachte, dieses Wissen wäre in unserer DNA gespeichert.»
«Ja, nach Überzeugung der Biologen; die Physiker sehen das anders – und bis jetzt hat noch kein einziger Biologe die Frage beantworten können, woher diese Anweisungen zum Leben ursprünglich stammen.»
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.»
«Sieh es einmal von der Warte her: Da alles Leben auf der Erde von primitiven Einzellern abstammt, müssen die Anweisungen, mit denen wir alle geboren werden, irgendwann einmal gelernt worden sein, um in den Gencode übergehen zu können. Irgendwann gab es ein erstes Baby, das lernen musste zu schreien, ein erstes Rehkitz, das lernen musste zu laufen. Aber alles, was die Wissenschaft über Vererbung weiß, deutet darauf hin, dass gelernte, also erworbene Fähigkeiten nicht vererbt werden.»
«Na schön», sagte Caine. «Wenn die Biologie es also nicht erklären kann, wie dann die Physik?»
«Manche Physiker – und auch Psychologen – gehen davon aus, dass das allen Lebewesen inhärente Wissen doch dem Bewusstsein entstammte – nur nicht dem eigenen.» Jasper nahm einen großen Schluck von seiner Cola, bevor er fortfuhr. «Gut. Dass Materie der modernen Physik zufolge in Form von Wellen existiert und nicht als bestimmte Punkte in Raum und Zeit, das weißt du, oder?»
Caine schwirrte der Kopf. «Ansatzweise.»
Jasper seufzte. «Es wäre wirklich alles viel einfacher, wenn du Physik studiert hättest anstatt Statistik.»
«Entschuldigung, aber als ich vor acht Jahren mein erstes Hauptfach gewählt habe, konnte ich schlecht ahnen, dass ich einmal so ein Gespräch führen würde.»
«Du hättest es sehr wohl gekonnt, aber lassen wir das», entgegnete Jasper. «Wo war ich stehen geblieben?»
«Du sagtest gerade, dass nichts an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit existiert.»
«Ja, genau-Sau-blau-Frau», sagte Jasper. «Bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein glaubten die Menschen noch an das, was heute als «klassische Physik» bezeichnet wird. Diese nahm 1687 ihren Anfang, als Isaac Newton seine Principia schrieb. Die wichtigste Grundlage der klassischen Physik waren Newtons Bewegungsgesetze, in denen er darlegte, dass die Bewegung von Körpern von den Kräften bestimmt wird, die auf sie einwirken.
Mit Hilfe dieser Gesetze wurden alle physikalischen Phänomene erklärt, von den Umlaufbahnen der Planeten bis hin zur Beschleunigung eines Autos. Newton war der festen Überzeugung, dass Gott eine geordnete Welt erschaffen und mit bestimmten unveränderlichen Gesetzen ausgestattet hatte. Sogar die Gesellschaftsordnung schien ein Spiegelbild dieses Kosmos zu sein, als der Kapitalismus aufblühte und die Welt dem so genannten Gesetz von Angebot und Nachfrage zu gehorchen begann.»
Jasper war jetzt sichtlich erregt und begann allmählich, schneller zu reden. «Im Jahre 1905 entwickelte Albert Einstein seine Spezielle Relativitätstheorie, der zufolge alles relativ ist. Einstein wies nach, dass Position, Geschwindigkeit und Beschleunigung, die Newton als absolut ansah, in Wirklichkeit nur relative Begriffe sind. Wichtiger noch, er wies nach, dass sogar die Zeit ein relativer Begriff ist.»
«Bitte drück dich so aus, dass ich es verstehen kann, Jasper.» Caine sah auf die Uhr. «Dir bleiben noch fünf Minuten.»
«Ähm, gut-Hut-Wut-Flut», sagte Jasper. «Ich beeile mich.
Einstein postulierte zwei Dinge: Erstens, die Lichtgeschwindigkeit bleibt konstant, ganz egal, wo du bist und wie schnell du dich bewegst.» Jasper zählte es an seinem Zeigefinger ab. «Zweitens, die physikalischen Gesetze, die für den einen Beobachter gültig sind, gelten auch für einen anderen, der sich mit gleich bleibender Geschwindigkeit relativ zu diesem bewegt.
Das bedeutet, wenn du und ich uns in einem beschleunigenden Zug befinden, dann nehmen wir die Landschaft beide auf gleiche Weise wahr, aber wenn du im Zug bist und ich neben den Gleisen stehe, dann sehen wir die Landschaft unterschiedlich. Das ist eine grobe Vereinfachung, aber du verstehst, worauf ich hinauswill.»
Caine dachte daran, wie die Bäume auf seiner Fahrt nach Philadelphia zu Schemen verschwommen waren, und nickte.
«So, und wenn ich jetzt in einer Rakete säße, die annähernd mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs wäre, also mit knapp 300 000 Kilometern pro Sekunde, dann würde etwas Merkwürdiges passieren. In Relation zu deinem Blickwinkel würde die Zeit für mich langsamer vergehen. Beim Ausstieg aus der Rakete wäre ich jünger als du.
Als Einstein zu diesem Schluss kam, postulierte er, dass sogar die Zeit relativ ist-Mist-bist-List. Und im Anschluss zeigte er, dass Energie und Masse eigentlich gleichwertig sind – je schneller ein Körper beschleunigt, desto höher ist seine Masse, verglichen mit einem unbewegten Körper.»
«Gib mir ein Beispiel», sagte Caine in der Hoffnung, seinen Bruder so weit auszubremsen, dass er wieder hinterherkam.
«Gern. Wenn du in einem Flugzeug sitzt, das gerade abhebt, wird dein Körper zurück in den Sitz gedrückt, richtig? Fast so, als würdest du –»
«Schwerer», begriff Caine.
«Genau. Wenn das Flugzeug seine Fluggeschwindigkeit erreicht und nicht weiter beschleunigt, fühlst du dich wieder normal. Daher kommt die Formel E = mc². E steht für Energie, m für Masse und c für die Lichtgeschwindigkeit. Da c eine Konstante ist, heißt das, dass, wenn die Energie ansteigt, auch die Masse ansteigt. Wenn du also in einem startenden Flugzeug sitzt, hast du während der Beschleunigung eine größere Menge kinetischer Energie als deine Umgebung, folglich scheint sich, relativ gesehen, dein Gewicht zu erhöhen.»
«Okay, verstehe», sagte Caine. «Aber was hat das alles mit Wellen zu tun?»
«Nun, wie ich vorhin schon sagte, nahm Newton an, dass alle Materie einen bestimmten Standort in Raum und Zeit hat, aber sobald Einstein aufzeigte, dass alles relativ ist, wurde den Physikern klar, dass Materie weder einen absoluten Standort noch ein absolutes Alter hat. Dies verursachte eine Revolution, die zur Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie führte, die sich mit der Abgabe und Aufnahme von Energie durch Materie beschäftigt.
Das wiederum führte zur Vorhersage und späteren Entdeckung der Urteilchen, aus denen alle Materie besteht und die als Quarks bezeichnet werden. Obwohl Physiker die Existenz von zwölf verschiedenen Arten von Quarks nachgewiesen haben – Up, Down, Charm, Strange, Truth, Beauty und ihre Antiteilchen –»
«Warte mal», sagte Caine und hob die Hand. «Das sind die Namen der Urteilchen der Materie?» In der Befürchtung, dass sein Bruder nun vollends den Verstand verloren hatte, sah er Doc fragend an, der Jaspers Vortrag gebannt zugehört hatte.
Doc nickte. «Er hat Recht, Rain Man. So hat man sie benannt.»
«Na schön», sagte Caine und rieb sich den Kopf. «Weiter im Text.»
«Ja. Also, obwohl es zwölf verschiedene Arten von Quarks gibt, besteht in unserer Realität sämtliche Materie lediglich aus Up- und Down-Quarks und weiteren quarkähnlichen Elementarteilchen, die mit dem Sammelbegriff Leptonen bezeichnet werden.» Jasper holte Luft. «Das Kuriose daran ist, dass Quarks und Leptonen an sich überhaupt keine Materie sind.»
«Was denn dann?», fragte Caine.
«Energie. Verstehst du? Der Quantenphysik zufolge existiert Materie eigentlich gar nicht. Was die klassische Physik für Materie hielt, war nur eine Zusammensetzung von Elementen, die aus Atomen bestanden, die wiederum nichts als Quarks und Leptonen sind – also Energie. Materie ist in Wirklichkeit Energie.» Jasper wartete einen Moment, damit seine Zuhörer das Gesagte verarbeiten konnten. «Nun rate mal, was außerdem noch nichts als Energie ist!»
Caine setzte die Puzzlestücke zusammen. Auf einmal griffen Jaspers umständliche Erklärungen ineinander. «Das Denken.»
«Ganz genau. Alles bewusste und unbewusste Denken entsteht durch Neuronen, die im Gehirn elektrische Signale abfeuern-steuern-käuern-säuern. Verstehst du? Da Materie und Denken aus Energie bestehen, sind sie miteinander vernetzt. Daher rührt das kollektive Unbewusste – aus den vernetzten unbewussten Denkvorgängen sämtlicher Lebewesen, die je existiert haben, existieren und existieren werden.»
«Na schön», sagte Caine und versuchte, Jaspers Worte nachzuvollziehen. «Aber selbst wenn ich akzeptiere, dass das kollektive Unbewusste etwas Metaphysisches ist, verstehe ich immer noch nicht, wie es die Zeit als solche überspannen kann.»
«Weil die Zeit relativ ist», sagte Jasper. «Überleg doch mal. Das Einzige, was schneller ist als das Licht, ist –»
«Die Geschwindigkeit des Denkens», schloss Caine, als der letzte Groschen gefallen war.
«Richtig – genauer gesagt, des unbewussten Denkens. Und da für Teilchen, die annähernd mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind, die Zeit langsamer fortschreitet als für unbewegte Teilchen, kannst du dir das Unbewusste als ewig vorstellen; folglich ist es zeitlos.»
Caine nickte. Auf eine verdrehte, gewundene Weise leuchtete beinahe ein, was sein Bruder sagte. Er sah Doc an, weil er sehen wollte, wie dieser Jaspers geistige Gesundheit einschätzte, und war überrascht, dass sein Doktorvater nickte.
«Wie haben Sie das alles unter einen Hut bekommen?», fragte Doc.
«Mit Philosophie.» Jasper grinste.
«Erklären Sie mir wie», sagte Doc.
«Sämtliche östlichen Religionen und Philosophien gründen sich auf den Glauben, dass das Universum aus Energie besteht, was heute von der Quantenphysik bestätigt wird. Außerdem postulieren sie alle, dass unser Geist eins mit dem Universum ist, und das wiederum ließ mich an Jungs kollektives Unbewusstes denken.
Buddhisten glauben an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Alles Leiden in der Welt rührt daher, dass der Mensch sich an vergängliche Dinge und Vorstellungen klammert, anstatt das Universum so zu erkennen, wie es ist: im Fluss, in Bewegung, in steter Veränderung. Im Buddhismus werden Raum und Zeit lediglich als Spiegelungen von Bewusstseinszuständen betrachtet. Für Buddhisten sind Gegenstände nicht Dinge, sondern dynamische Prozesse, Aspekte eines allumfassenden Fortschreitens, eines beständigen Übergangszustands. Das heißt nichts anderes, als dass Buddhisten Materie als Energie betrachten, genau wie Quantenphysiker.
Auch die Taoisten haben eine dynamische Auffassung von der Welt; Tao bedeutet ‹der Weg›. Sie betrachten das Universum als einen Organismus aus Energie – die Chi genannt wird –, der beständig im Fluss und im Wandel begriffen ist; darüber hinaus glauben sie, dass das Individuum nur ein kleiner Bestandteil des gesamten Universums oder dieser Energie ist. Ihre Bibel ist das I Ging, auch bekannt als das Buch der Wandlungen, und es lehrt, dass zwischen den gegensätzlichen, aber verwandten Naturkräften im Universum (Yin und Yang) ein beständiges Gleichgewicht herzustellen ist. Auch das findet seine Entsprechung in der Quantenphysik, die ja besagt, dass alles aus Teilchen besteht, die durch subatomare Energie zusammengehalten werden.»
Allmählich rauchte Caine der Kopf. «Aber diese ganzen Philosophien sind Tausende von Jahren alt. Wie kommt es, dass sie alle ihre Lehren begründet haben, bevor die Quantenphysik überhaupt entwickelt wurde?»
«Durch das kollektive Unbewusste», antwortete Jasper. «Denk daran – es ist zeitlos, was bedeutet, dass sich das Denken vorwärts und rückwärts durch die Zeit bewegt. Von großen Denkern und Wissenschaftlern heißt es immer, sie seien ‹ihrer Zeit voraus›. Manche Menschen nennen das Genialität, aber im Grunde genommen ist es nichts anderes als ein unglaublicher Weitblick. Verstehst du, so genannte ‹Genies› können bloß besser auf das kollektive Unbewusste zugreifen als der Durchschnitt-Ritt-mit-quitt.»
Doc schnappte nach Luft und starrte Caine an. «Darum wussten Sie in dem Restaurant, dass wir sofort den Tisch verlassen mussten. Sie müssen auf das Unbewusste Ihres zukünftigen Ichs zugegriffen haben.»
Caine schüttelte den Kopf. Das war ihm alles zu hoch. «Selbst wenn ich glauben würde, dass das Unbewusste jedes einzelnen Menschen irgendwie mit dem Unbewussten seiner Mitmenschen verknüpft ist, warum sollte ausgerechnet ich auf dieses Gesamtgebilde zugreifen können?» Kaum hatte Caine die Frage ausgesprochen, da war ihm die Antwort klar: «Herrgott nochmal … wegen der Anfälle, nicht wahr?»
«Ich glaube, die sind nur eine Begleiterscheinung, nicht die Ursache», entgegnete Jasper. «Da nun einmal jeder das kollektive Unbewusste anzapft, muss es in unserem Gehirn auch so etwas wie einen Zapfhahn geben. Ich glaube, in deinem Gehirn», Jasper zeigte auf Caines Schädel, «oder genauer gesagt in deinem Temporallappen gibt es etwas, das dir gestattet, dich auf eine Weise mit dem kollektiven Unbewussten in Verbindung zu setzen, die anderen nicht offen steht. Bis vor kurzem hat es dein Gehirn überlastet, diese Verbindung herzustellen; also hast du einen Anfall bekommen und bist ohnmächtig geworden – was nichts anderes heißt als: ins Unbewusste eingedrungen.
Ich glaube, Dr. Kumars Medikament hat dein Gehirn irgendwie ‹repariert›, sodass du nun in der Lage bist, dich gleichzeitig an das kollektive Unbewusste anzukoppeln und bei Bewusstsein zu bleiben, und das erlaubt dir, in die Zukunft zu sehen-stehen-gehen-flehen.»
«Aber ich verstehe immer noch nicht, wie das physikalisch möglich sein soll.» Caine machte eine Pause, um sich zu sammeln. «Ich meine, Laplace behauptet, dass man alles wissen muss, um die Zukunft vorhersagen zu können, aber Heisenberg sagt, dass nichts in der Natur eine absolute Position hat, also ist es unmöglich, alles zu wissen. Daraus folgt doch zwangsläufig, dass man gar nicht die Zukunft vorhersagen kann und dass es gar keine allwissende Intelligenz wie den Laplace’schen Dämon geben kann, oder nicht?»
«Das habe ich auch noch nicht rausgekriegt-siegt-fliegt-liegt», gestand Jasper und fügte rasch hinzu: «Aber das heißt noch lange nicht, dass meine Theorie falsch ist.»
Eine Minute lang sagte niemand etwas. Caine versuchte, die Informationen zu ordnen.
«Es gibt eine Möglichkeit, das rauszufinden», sagte Doc.
«Welche denn?», fragte Caine.
«Sehen Sie in die Zukunft», antwortete Doc.
«Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist», sagte Nava zu Caines Überraschung. Sie war bisher so still gewesen, dass Caine sie fast vergessen hatte.
«Warum nicht?», fragte Doc.
«Es könnte gefährlich sein.» Nava steckte sich eine Zigarette an.
«Gefährlich für wen?», fragte Doc.
«Für uns alle», antwortete Nava und blies Rauch in die Luft. «Und vor allem für David.»
«Warum?», fragte Doc wieder.
«Was, wenn er nicht mehr zurückkehren kann? Wenn er sein Bewusstsein in das kollektive Unbewusste verfrachtet und dort hängen bleibt? Sie haben es selbst gesagt – es ist zeitlos. Er könnte für ein paar Sekunden in das kollektive Unbewusste eintauchen, nur um bei seiner Rückkehr festzustellen, dass sein Körper an Altersschwäche gestorben ist.»
Caines Magen verkrampfte sich. Diese Möglichkeit hatte er gar nicht in Betracht gezogen. Einerseits wollte er unbedingt dorthin, andererseits hatte er plötzlich große Angst davor. Während er seine Optionen erwog, wurde ihm zweierlei klar. Erstens, Jaspers zehn Minuten waren um. Zweitens, er glaubte nicht mehr daran, dass er in einer Wahnvorstellung gefangen war.
Er hatte schlicht zu wenig Ahnung von Physik, um sich das alles selbst auszudenken.