Kapitel // 13 //

Nava rannte über die Straße, als sie den Aufprall hörte. Es war zu dunkel, um zu sehen, was da herabgestürzt war, aber sie hatte den grässlichen Verdacht, dass es ein Mensch gewesen war. Als Nava die Gasse betrat, schlug ihr der Gestank von verwesendem Fleisch entgegen. Sie hielt sich die Nase zu, ging an den aufgerissenen Müllsäcken rund um die Müllbehälter vorbei und achtete dabei nicht auf die scharrenden und quietschenden Ratten, die ihr aus dem Weg huschten.

Dann sah sie die Frau. Sie war nackt und kahlköpfig. Ihre Gliedmaßen waren in widernatürlichen Winkeln gebogen, was sie wie eine Schaufensterpuppe aussehen ließ. Das einzige Anzeichen dafür, dass sie einmal lebendig gewesen war, war die klaffende Bauchwunde, aus der immer noch Blut lief.

Nava drehte vorsichtig den Kopf der Toten herum. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, aber es gab keinen Zweifel, wer sie war. Julia Pearlman – Testperson Alpha. Navas Mut sank. Eine zweite verpatzte Lieferung würde die RDEI nicht hinnehmen. Ohne Testperson Alpha würde man Nava töten oder dem russischen Geheimdienst ausliefern.

Nava bekam Gewissensbisse, als ihr klar wurde, dass sie keine Sekunde lang innegehalten hatte, um über den Tod des armen Mädchens zu trauern. Wie war dieser ganze Mist zu erklären? Seit wann war sie so kaltherzig, dass sie nur noch an sich selber dachte? Doch selbst während sie sich diese Fragen stellte, arbeitete der Teil von Navas Hirn, der der Selbsterhaltung gewidmet war, weiter und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

Sie nahm ein Taschentuch, wischte damit über Julia Pearlmans Wunde und wickelte es dann in ein Stück Plastikfolie, das sie von einem Müllsack abgerissen hatte. Vielleicht würde sich die RDEI mit dieser Blutprobe zufrieden geben, bis ihr etwas anderes einfiel. Dann hörte sie ein Geräusch, bei dem ihr buchstäblich das Herz stockte.

Das tote Mädchen sagte etwas.

 

Julia sagte, was sie zu sagen hatte.

Jetzt war endlich Zeit zu ruhen.

Jetzt. Das Wort ging ihr immer wieder durch den Sinn. Es kam ihr so dumm vor. Sie wusste noch, wie wichtig ihr das alles vorgekommen war, aber das war nun vorbei. In 3,652 Sekunden würde es kein Jetzt mehr geben. Nur das reine, schöne Immer. Und im Immer gab es keinen Gestank. Wenn auch für nichts sonst – dafür war sie dankbar.

Julia nahm noch einen letzten Atemzug und schlug die Augen auf.

 

Caine hatte in nicht einmal vier Stunden 360 Dollar gewonnen – fast hundert mehr als die geplanten 267. Ihm war klar, er hätte aufstehen und gehen sollen, aber er konnte einfach nicht. Vielmehr redete er sich den üblichen Quatsch ein: dass er gerade eine Glückssträhne hatte, dass er aufhörte, sobald er schlechte Karten kriegte (die älteste Zockerlüge der Welt).

Doch dann verlor er bei der nächsten Partie einen Achtzig-Dollar-Pott. Seine drei Zehnen wurden beim River von einer Straße geschlagen. Und dann tat er genau das, was er sich geschworen hatte, nicht zu tun: Er verlor die Beherrschung. Er war so sauer darüber, dass ihm die achtzig Dollar durch die Lappen gegangen waren, dass er sich bei den nächsten fünf Partien weigerte zu passen, obwohl er nur Schrottblätter auf die Hand bekam. Ihm war klar, dass er beschissen spielte, aber er konnte einfach nicht aufhören. Sein Chipsberg, der sich im Laufe von Stunden zurückhaltenden Spiels aufgehäuft hatte, löste sich binnen dreißig Minuten in Luft auf.

Nachdem er auch noch sein letztes Geld verloren hatte, stand Caine wortlos auf und ging. Draußen auf der kalten Straße stopfte er sich die Fäuste in die Taschen, um sie warm zu halten. Der Zwanzigdollarschein, der ihm noch geblieben war, rieb an seinen Fingerknöcheln, verhöhnte ihn. Caine war überhaupt nicht danach, ihn dafür zu nutzen, wofür er eigentlich bestimmt gewesen war: sich zu betrinken.

Vielmehr ging er auf Umwegen nach Hause und gab sich auf dem zweistündigen Fußmarsch der Kälte hin. Wie hatte er so unglaublich dumm sein können? Reichte es denn noch nicht, dass er Nikolaev zwölftausend Dollar schuldete? Musste er auch noch seine letzten vierhundert Dollar verzocken?

Caine fragte sich, ob Peter wohl noch irgendwelche anderen Studien betrieb, an denen er teilnehmen konnte.

 

Vor dem Haus, in dem sein Bruder wohnte, sah Jasper schon zum fünften Mal in dieser Minute auf seine Armbanduhr: Das Digitaldisplay zeigte 12 : 19 : 37. Es war sieben Stunden her, dass David zu dem Pokerclub gegangen war. Die Stimme sagte, dass er bald wiederkommen würde. Jasper hatte seine Waffe mitbringen wollen, aber die Stimme hatte das abgelehnt, und also hatte er sie auf dem Couchtisch liegen lassen.

Er sah wieder auf seine Armbanduhr, und diesmal stand das Display auf Punkt 12.20 Uhr. Es war fast so weit. Trotz der Kälte schwitzte Jasper heftig, wappnete sich für die Schläge, die er gleich einstecken würde. Er hatte auch früher schon Schläge hinnehmen müssen, aber die hatten Krankenpfleger des Mercy ausgeteilt, und jedes Mal war darauf die Glückseligkeit einer Thorazininjektion gefolgt. Er war noch nie in eine Schlägerei auf der Straße verwickelt gewesen, und pharmazeutische Freuden standen ihm heute Nacht ganz bestimmt nicht bevor.

Doch die Stimme sagte, dass er es tun musste, um David zu beschützen, und darum war er hier.

Jetzt kommen sie. Ganz ruhig. Bald ist alles vorüber.

In diesem Moment hielt der schwarze Town Car am Bordstein. Der Fahrer sprang aus dem Lincoln, ohne den Motor abzustellen. Einen Augenblick später stand er schon vor Jasper, sah finster zu ihm herab. Jasper blieb eben noch die Zeit, sich an den Namen des großen Russen zu erinnern, da schlug ihm Kozlov auch schon in die Magengrube. Alle Luft wich ihm aus der Lunge, und Jasper klappte zusammen. Kozlov riss ihn an den Haaren wieder hoch und verpasste ihm einen Fausthieb auf den Unterkiefer. Jasper wurde schwarz vor Augen.

Als die Schwärze wieder wich, klemmte Jaspers Gesicht zwischen dem eiskalten Gehsteig und Kozlovs Stiefelsohle.

«Ich soll Ihnen was von Vitaly ausrichten, Caine. Er sagt, Sie sollen dran denken, dass Sie kein Geld fürs Zocken übrig haben. Wenn Sie Geld haben, dann bezahlen Sie damit Ihre Schulden bei Vitaly. Sie verzocken es nicht bei den Schlitzaugen. Klar?»

Kozlov trat ihm fester auf den Schädel, und Jasper wurde klar, dass von ihm eine Antwort erwartet wurde.

«Ja! Okay! Ich habe verstanden!»

«Gut.»

Kozlov hob seinen Stiefel, und Jasper glaubte zu spüren, wie sich sein Schädel wieder dehnte. Der Russe tastete Jaspers Taschen ab, bis er seine Brieftasche fand, warf sie ihm aber entrüstet wieder hin, als er darin nur einen einzigen Eindollarschein fand. Die Stimme hatte Jasper gewarnt, vor der Begegnung seine Brieftasche auszuleeren.

Kozlov bückte sich, um Jasper ins Gesicht zu sehen. «Ich komme in fünf Tagen wieder», sagte er und verpasste Jasper zum guten Schluss noch einen Faustschlag auf den Mund. Jaspers Kopf prallte auf den Gehsteig, und er verlor das Bewusstsein.

 

Tversky atmete erst durch, als seine Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Er hatte es geschafft. Er warf seinen Seesack zu Boden und ließ sich auf einen Ohrensessel fallen. Er schloss die Augen und versuchte zu verarbeiten, was in der vergangenen halben Stunde geschehen war. Seine Gedanken rasten, hielten einen Moment inne, um über eine Einzelheit nachzudenken, und huschten dann auf seiner persönlichen Zeitachse zurück, um sich mit einem anderen Detail zu befassen.

Er gab sich Mühe, sich zu konzentrieren. Alles war so schnell gegangen. Er brauchte einen Drink. Er ging zur Hausbar, schenkte sich vier Fingerbreit Single-Malt ein und nahm einen tiefen Schluck, genoss es, wie ihm der Scotch in der Kehle brannte. Im Stehen trank er das Glas aus und schenkte sich dann nach. Als er schließlich zu seinem Sessel zurückkehrte, sah die Welt schon wieder ganz anders aus.

«Besser», sagte er. «Viel besser.»

Nachdem er auch das zweite Glas ausgetrunken hatte, schob Tversky die Videokassette in den Rekorder. Auf dem Weg zurück zu seinem Sessel schenkte er sich noch einmal nach. Eine halbe Flasche später richtete er die Fernbedienung mit zittriger Hand auf den schwarzen Kasten und drückte auf «Play».

Er sah sich selbst auf der Mattscheibe. Er nannte Datum und Uhrzeit und stellte dann Testperson Alpha vor (so fiel es ihm leichter, sie nur als Bestandteil seines Experiments zu sehen, nicht als Menschen – als Menschen, den er ermordet hatte), die bereits bewusstlos auf dem Tisch lag. Dann injizierte er ihr das, was, wie er jetzt wusste, ihre letzte Dosis war.

Das EEG war in einer Ecke der Mattscheibe zu erkennen, die vier Linien hoben und senkten sich sacht. Zunächst stieg nur die Thetawelle an, während die anderen weiter vor sich hin dümpelten. Dann begann das EKG zu piepen, und alle Wellen schlugen aus. Tversky schaltete auf Zeitlupe und sah gebannt hin, um zu erfahren, was er richtig gemacht hatte – oder falsch.

Es war aber nichts zu sehen. Nur EEG-Werte, die eigentlich unmöglich waren, und eine Frau, deren Augen sich so schnell unter ihren geschlossenen Lidern bewegten, dass es aussah, als würden sie gleich platzen. Dann erbrach sie sich und rollte vom Tisch, aus dem Bild heraus. Auf der Mattscheibe war nun nur noch der leere Metalltisch zu sehen.

Tversky drückte auf «Play», um zu normalem Tempo zurückzukehren, damit er noch einmal ihre letzten Worte hören konnte. Er drehte die Lautstärke auf. Vor dem Rauschen des Videobands klang ihre Stimme, die nurmehr ein Flüstern war, unheimlich. Sie sprach genau drei Minuten und zwölf Sekunden lang, und ihr Sprechtempo beschleunigte und verlangsamte sich, so als würde sie Achterbahn fahren.

Einiges war gänzlich unverständlich, anderes war unglaublich klar und enthielt genaue Anleitungen für jedes denkbare Szenario. Nachdem er es sich sechsmal angesehen hatte, schaltete er den Fernseher ab. Im Zimmer war es plötzlich still, aber die ersten Worte der Testperson Alpha erfüllten in dieser Stille seinen Geist.

Töte ihn. Töte David Caine.

Er hatte gehofft, ihre Instruktionen würden sich als etwas anderes erweisen, als sie im ersten Moment erschienen waren. Doch nachdem er sich nun ihr heiseres Flüstern immer wieder angehört hatte, ließ es sich nicht mehr bestreiten. Wenn er das Wissen erlangen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als das zu tun, was sie von ihm verlangt hatte.

Er wankte zu seinem Schreibtisch und wählte sich ins Internet ein. Als die Startseite von Google geladen war, gab er unter dem bunten Logo seine Suchanfrage ein. 0,63 Sekunden später zeigte der Bildschirm die zehn ersten von 175 000 Treffern an. Er klickte, wie von Julia angewiesen, auf den siebten Link. Auf der Startseite stand:

Tversky klickte schnell auf den Hyperlink. Das Bild wurde geladen, und er begann zu lesen.

 

Nava warf sich auf ihren schwarzen Aeron-Stuhl, der wippend nachgab. Sie knipste die Schreibtischlampe an, die ihren Arbeitsplatz in sanftes weißes Licht tauchte und Schatten auf das übrige abgedunkelte Büro warf.

Sie drückte den Daumen auf die rechteckige Glasscheibe. Licht blitzte auf, und ihr Daumen leuchtete rosa. Auf dem Flachbildschirm erschienen zwei Worte.

Sie war drin. Sie machte sich nicht die Mühe, die letzten heruntergeladenen Daten von Tverskys Laptop zu lesen. Vielmehr startete sie das Programm «Phone Book».

Mit diesem Programm hatte man Zugriff auf sämtliche Datenbanken der Bundesregierung, auch auf die der CIA, des FBI, der Sozialversicherung, der Einwanderungsbehörde und natürlich der Finanzämter. Wenn es den Mann, von dem Julia Pearlman gesprochen hatte, gab, würde Phone Book es ihr verraten.

Da Nava sich nicht sicher war, wie sein Name geschrieben wurde, gab sie mehrere Varianten ein:

Sie drückte auf «Enter» und wartete, während der Rechner die Datenbanken abfragte. Sie musste nicht lange warten.

Nava konzentrierte sich auf den zweiten und den vierten Treffer, da beide Adressen keine sechs Blocks von der Columbia University entfernt waren. Sie klickte auf «Cain, David P.», wartete kurz, und dann füllte sich der Bildschirm mit Informationen. Nava überflog die Daten, suchte nach irgendetwas, das ihr bekannt vorkam, fand aber nichts. Nur einen Durchschnitts-New-Yorker mit einer zu teuren Wohnung und viel zu viel Schulden.

Sie übersprang den nächsten Treffer und klickte auf «Caine, David T.». Mit großen Augen sah sie, dass er an der Columbia eingeschrieben war. Das musste der sein, von dem Julia gesprochen hatte. Sie starrte auf sein Passbild. David T. Caine starrte zurück, und der Anflug eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel, so als wüsste er, dass sie ihn gerade ansah.

Sie ging seine Daten durch und prägte sie sich ein. Als sie damit fertig war, kehrte sie noch einmal zu dem Foto zurück.

«Warum sind Sie so wichtig, Mr. Caine?», fragte sie und wünschte, sie hätte mehr Zeit mit Julia gehabt. Plötzlich hörte sie leise Schritte. Da kam jemand. Es gelang Nava gerade noch rechtzeitig, das Fenster auf ihrem Bildschirm zu schließen, da tauchte Grimes aus der Dunkelheit auf. Er biss in einen Granny Smith und setzte sich ihr gegenüber. Kauend schenkte er ihr ein gelbliches Lächeln.

«Ollnsiema abbeihen?», fragte er und hielt ihr den Apfel hin.

«Nein, danke», sagte Nava und versuchte, ihren Widerwillen zu verbergen. «Ich habe schon gegessen.»

Seine Wangen blähten sich, und dann schluckte er vernehmlich. «Wie Sie wollen», sagte er. Er biss noch einmal herzhaft zu, lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch.

«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?», fragte Nava.

«Vielleicht. Wer weiß?», antwortete Grimes mampfend.

Der Typ war unglaublich. «Dann frage ich anders: Was wollen Sie?»

«Nichts. Ich bin bloß noch im Büro, so wie Sie, und wollte mal hallo sagen.»

«Hallo», sagte Nava.

Grimes nahm noch einen Bissen, kaute mit offenem Mund und sah an die Decke. Offenkundig verstand er den Fingerzeig nicht.

«Also, wenn sonst nichts ist, mache ich mich mal wieder an meine Arbeit», sagte Nava.

«Klar, kein Ding», sagte Grimes, machte aber keine Anstalten zu gehen. Nava schenkte ihm einen vernichtenden Blick. «Schon gut, schon gut, ich geh ja schon. Ich wollte Ihnen doch bloß ein bisschen Gesellschaft leisten.» Er stand auf und ging, blieb nach ein paar Schritten aber noch einmal stehen. «Apropos», sagte er und drehte sich um, «wie haben Sie denn von David Caine erfahren?»

Nava behielt ihr Pokerface bei. «Wie meinen Sie das?», fragte sie ganz ruhig.

«Na, Sie haben sich doch gerade seine Daten angesehen, oder etwa nicht?»

«Wie kommen Sie darauf?», fragte Nava.

«Ich komme darauf, weil ich es weiß, Baby», sagte Grimes und biss noch einmal in den Apfel. «Ich markiere alle Dateien, an denen ich arbeite, damit ich sehe, wer wann darauf zugreift.»

«Und warum haben Sie an der Datei David Caine gearbeitet?», fragte Nava gespielt schüchtern.

«Dr. Jimmy – ich meine Forsythe – will die Informationen, die wir über Caine haben, ehe Sie ihn sich morgen schnappen.»

Nava war verwirrt. Sie ließ die Hände sinken, berührte die Waffe in ihrem Knöchelholster. Sie widerstand der Versuchung, ihm mit dem Griff eins überzubraten. Ganz nonchalant sagte sie: «Ich wusste noch gar nicht, dass ich mir morgen jemanden ‹schnappen› soll – und schon gar nicht David Caine.»

«Na ja, es ist noch nicht offiziell, aber ich weiß, was Dr. Jimmy denkt. Er wird Caine so schnell wie möglich hier haben wollen.»

«Und warum?»

Grimes sah sie an, als wäre sie plemplem.

«Weil er Testperson Beta ist.» Er nahm noch einen letzten Bissen von dem Apfel und warf das Kerngehäuse dann in Richtung eines Mülleimers. Es prallte am Rand ab und landete auf dem Boden. Grimes machte keine Anstalten, es aufzuheben.

«Ich habe Tverskys Rechner neulich mit einem Wurm infiziert», sagte er stolz, «und wenn er eine Datei löscht, von der er irgendwo anders noch einen Backup hat, schickt mir sein Rechner automatisch eine Mail. Heute Nacht gab es einen Volltreffer. Tversky hat offenbar kurz vor Mitternacht alle seine Dateiordner geleert. Das meiste davon hatte ich bereits, aber eine neue Datei enthielt eine komplette medizinische Akte von David Caine, und dort wird er als Testperson Beta bezeichnet.

Und weil ich das noch niemandem gesagt habe, habe ich mich gefragt, woher Sie davon wissen.»

«Persönliche Überwachung», sagte Nava, als würde das alles erklären.

«Oh, Sie haben gesehen, wie er sich mit Tversky getroffen hat?», fragte Grimes beeindruckt. «Ich steh auf solche Spionagesachen. Cool. Jedenfalls: Weil es Dr. Jimmy so nervt, dass er nicht weiß, wer Testperson Alpha ist, wird er bestimmt sofort Testperson Beta schnappen lassen wollen.»

Nava nickte.

«Ach, na ja. Ich muss zurück zu meinem Rechner. In fünf Minuten fängt ein Halo-Turnier an. Bis später.» Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Grimes in die Dunkelheit, hin zu einer zweiten Lichtinsel am Ende des Ganges. Nava fuhr sich mit einer Hand durch ihr dichtes Haar. Wenn Grimes mit Forsythe Recht hatte, war jetzt alles noch verzwickter.

Sie hätte gern genauer überlegt, was sie tun sollte, aber ihre Zeit lief ab. Schnell rief sie beim New Yorker Bauamt den Grundriss von Caines Wohnung ab, schnappte sich dann ihren Mantel, einen Rucksack und einen großen schwarzen Seesack und lief zum Ausgang. Auf der Straße winkte sie sich ein Taxi herbei.

«945 Amsterdam», sagte sie zu dem Fahrer. Das Taxi beschleunigte, sie wurde in den Sitz gedrückt. Nava tastete nach ihrer Waffe und schloss die Augen. Es waren noch gut hundert Blocks bis zu seiner Wohnung. Ihr blieben also noch mindestens fünfzehn Minuten, eine Entscheidung zu treffen.

 

Als Caine dem Haus, in dem er wohnte, näher kam, sah er auf der kleinen Veranda vor dem Eingang einen Obdachlosen liegen. Der Mann tat ihm Leid, zum Teil, weil Caine annahm, dass er selbst bald auch kein Dach überm Kopf mehr haben würde. Auf der Veranda angelangt, bückte er sich und drehte den Mann vorsichtig auf den Rücken.

«Hey, alles in Ordnung mit –» Er verstummte, als er das blutige Gesicht des Mannes sah. Es war sein eigenes. Einen Augenblick lang glaubte Caine, wahnsinnig zu werden, dann kehrte seine geistige Gesundheit wieder, kam zurückgeschnellt wie ein Gummiband. Er sah nicht auf sich selbst herab, sondern auf Jasper.

«Mein Gott, Jasper, was ist denn passiert?»

«Ich bin einem deiner Russenfreunde über den Weg gelaufen», stieß Jasper hervor und wischte sich das Blut von der Nase. «Schöne Grüße von Vitaly übrigens.»

«O Mann, das tut mir Leid.»

Jasper hakte sich bei Caine unter, und der führte ihn zur Tür. Er schloss auf und half seinem Bruder die Treppe hinauf. Er hoffte, dass ihn oben nicht noch weitere Überraschungen erwarteten.

 

Auf einem Dach auf der anderen Straßenseite nahm Nava die Nachtsichtbrille ab, als Caine einem Fremden ins Haus half. Irgend etwas an dem Mann kam ihr bekannt vor, aber ihr fiel nicht ein, was es war. Das Blut auf seinem Gesicht machte es schwer, seine Gesichtszüge zu erkennen. Sie zog eine winzige Digitalkamera hervor, die ebenfalls mit Nachtsichtoptik ausgestattet war, und schoss ein paar Fotos, konzentrierte sich dabei auf das Gesicht des Fremden. Analysieren würde sie die Bilder später.

Dann wandte sie sich wieder dem Stativ zu, das sie zuvor aufgebaut hatte. Sie sah durch das Fernrohr, das auf das Fenster in der fünften Etage gerichtet war, und wartete darauf, dass das Licht anging. Nachdem sie fast eine Minute lang durch das dunkle Perspektiv gesehen hatte, fragte sie sich, ob sie überhaupt die richtige Wohnung auskundschaftete, doch dann entdeckte sie einen schwachen Lichtstrahl.

Caine hatte offenbar nur die Wohnungstür geöffnet, das Licht kam aus dem Hausflur. Binnen Sekunden würde sie ihn sehen. Nava spannte erwartungsvoll die Schultern an.

 

Nachdem Caine die Tür geöffnet und Licht angeschaltet hatte, strauchelten die beiden Brüder in die Wohnung. Jasper ließ sich auf die Couch fallen. Caine lehnte sich an den Türrahmen, hörte seinen Bruder schwer atmen.

Als er selbst wieder bei Puste war, ging Caine zu Jasper und knöpfte ihm vorsichtig das Hemd auf, um abschätzen zu können, wie schwer er verletzt war. Sein Bruder hatte einen Bluterguss auf der Brust, hatte sich aber keine Rippe gebrochen. Am schlimmsten hatte es ihn im Gesicht erwischt.

Sein linkes Auge war dunkellila, die Wange an mehreren Stellen aufgeschürft und blutverkrustet. Seine Nase war geschwollen und blutete, war aber offenbar nicht gebrochen. Am Hinterkopf hatte er auch noch eine mächtige Beule.

Caine ging in die kleine Nische, die ihm als Küche diente. Er füllte warmes Wasser in eine Schale, nahm sich eine Rolle Papiertücher und ging damit seinen Bruder säubern. Als er das Blut abgewaschen hatte, sah Jasper schon nicht mehr so schlimm aus. Er wirkte zwar immer noch, als hätte er sich einen Fight mit Mike Tyson geliefert, aber nicht mehr, als würde er jeden Moment sterben.

Caine überlegte, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, wusste aber, dass ein Arzt auch nicht mehr für Jasper tun konnte als er – allenfalls ein besseres Schmerzmittel verschreiben. Was sein Bruder brauchte, war Schlaf, nicht fünf Stunden Herumgehocke in einer Notaufnahme.

«Hey», murmelte Jasper und jagte Caine damit einen Schrecken ein.

«Wie geht es dir?»

«Nicht so toll, aber wahrscheinlich besser, als ich aussehe», sagte Jasper, setzte sich auf und schwang die Beine von der Couch.

«Wo willst du hin?», fragte Caine und hielt Jasper an der Schulter fest.

«Ins Bad. Willst du mitkommen und mir zusehen?» Jasper schob Caines Hände weg. Er stand auf und wäre fast umgekippt, hielt sich aber an Caines Arm fest.

«Wie wär’s, wenn ich dir einfach nur dorthin helfe?», fragte Caine.

«Klingt gut.»

Caine wartete draußen, während sein Bruder sein Geschäft verrichtete. Kurz darauf öffnete Jasper die Tür. Er sah immer noch schlimm aus, aber immerhin grinste er jetzt ein wenig – oder versuchte es zumindest.

«Ich hab in den Spiegel gesehen, und da hab ich meine Meinung geändert: Ich fühl mich genau so, wie ich aussehe.» Jasper betastete vorsichtig seinen Hinterkopf. «Hast du ein gutes Schmerzmittel?»

Caine schüttelte den Kopf. «Nichts Stärkeres als Advil. Es sei denn, du willst ein experimentelles Antiepileptikum.»

«Ich bleib bei Advil.»

«Eine kluge Wahl.» Caine ging an seinem Bruder vorbei ins Bad. «Wie viele willst du?», fragte er und hielt den Behälter hoch.

«Wie viele hast du denn?»

Caine gab ihm vier Tabletten, und Jasper schluckte sie trocken, wie ein Profi. Caine half ihm wieder zur Couch, und sie setzten sich. «Magst du mir erzählen, in was du da reingeraten bist?», fragte Jasper.

«In nichts, wo ich nicht wieder rauskomme», antwortete Caine und hoffte, dass es zuversichtlicher klang, als ihm zumute war.

«Und das ist dann wohl der Grund dafür, dass der Russe mir die Fresse poliert hat.»

«Der hat uns verwechselt, hm?»

«Ja.»

Caine sah auf seine Hände, wusste nicht recht, wie er die nächste Frage stellen sollte. «Hat er denn … gesagt, warum er mich zusammenschlagen wollte?»

«Irgendwas mit irgendwelchen Schlitzaugen.»

«Mist.» Er konnte nicht fassen, dass Nikolaev so schnell von den Pokerpartien im Billy Wong’s erfahren hatte. Einer seiner Gegenspieler musste ihn verraten haben. «O Gott, es tut mir so Leid, Mann.»

Jasper machte eine abwehrende Handbewegung. «War ja nicht deine Absicht.»

«Nein, aber dennoch. Am besten verschwindest du mal für eine Weile aus der Stadt. New York ist zurzeit nicht gerade der allersicherste Ort für mich – und auch nicht für Leute, die so aussehen wie ich.»

«Das habe ich auch gerade gedacht. Ich fahre morgen heim nach Philly.» Jasper kratzte sich vorsichtig die Nase. «Warum kommst du nicht mit?»

«Würde ich wirklich gerne, aber ich muss hier bleiben und an Dr. Kumars Untersuchungen teilnehmen. Das neue Mittel gegen die Anfälle scheint zu wirken.»

Jasper schüttelte den Kopf. «Du musst weg aus der Stadt.»

«Ich kann nicht.» Caine stand auf, fuhr sich mit den Händen durchs Haar. «Ich kann erst wieder ein normales Leben führen, wenn ich das mit den Anfällen in den Griff bekommen habe. Das ist meine letzte Chance.»

«Du wirst auch kein normales Leben mehr führen, wenn dieser Typ dich umbringt.»

«Ach, das hatte ich ja ganz vergessen», schnauzte Caine.

«Schau mal, ich will dir doch nur helfen.»

Die Brüder schwiegen eine Weile. Schließlich sagte Caine: «Es tut mir Leid, Jasper. Aber ich stehe hier einfach mit dem Rücken zur Wand. Unter normalen Umständen würde ich diese Geldsache irgendwie regeln, aber in meinem gesundheitlichen Zustand, ganz zu schweigen von …» Caine verstummte. Er wollte nicht darüber reden, was in dem Restaurant passiert war. «Ich weiß nicht, ich habe bloß irgendwie das Gefühl, dass mir alles entgleitet.»

Caine ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Als er in das lädierte Gesicht seines Bruders sah, war ihm mit einem Mal alles zu viel.

«Komm, wir schlafen mal ’ne Runde», sagte Jasper, schloss die Augen und streckte sich auf der Couch aus. «Wer weiß – vielleicht fällt dir im Traum eine Lösung ein. Es sind schon seltsamere Dinge passiert.»

«Ja», sagte Caine und dachte wieder an die Szene im Restaurant. «Stimmt.»