Tommy leckte das Innere der öligen Mündung, als das Telefon klingelte. Das Läuten jagte ihm einen solchen Schreck ein, dass er sich um ein Haar das Hirn rausgepustet hätte.
Zwar hatte er vorgehabt, sich umzubringen, aber etwas vorzuhaben war nicht das Gleiche, wie es zu beschließen. Wenn er erst einmal abgedrückt hatte, gab es kein Zurück mehr, und deshalb wollte er sich hundertprozentig sicher sein. Das schrille Läuten hätte Tommy diese Entscheidung fast abgenommen. Er nahm die .45er aus dem Mund und legte sie auf den Tisch.
Beim nächsten Mal lege ich den Hörer daneben.
«Hallo?»
«Tommy! Hast du schon gesehen?»
Es war Gina, seine Exfreundin. Sie war der letzte Mensch, mit dem Tommy an diesem Abend gerechnet hätte. «Was gesehen?»
«Die Nachrichten! Die Zahlen!»
«Ich weiß nicht, wovon du redest, und ich bin gerade ziemlich beschäftigt. Kann ich dich vielleicht später zurückrufen?»
«Du weißt noch nicht davon, nicht wahr?», fragte Gina mit leiser, aufgeregter Stimme.
«Nein, ich sage dir doch, ich –»
«Tommy, du hast gewonnen! Deine Zahlen wurden gezogen! Hast du gehört? Du … hast … gewonnen.» Die letzten drei Worte sprach sie ganz langsam aus, betonte jede Silbe, als redete sie mit jemandem, der nicht ganz richtig im Kopf war. Trotz ihrer sorgfältigen Aussprache brauchte Tommy ein paar Sekunden, bis er verstand, wovon sie redete.
«Du meinst …?» Tommy verstummte, hatte Angst, den Satz zu Ende zu sprechen.
«Ja, Tommy.»
«Bist du sicher?»
«Natürlich bin ich sicher! Ich war in der Küche, als die Zahlen angesagt wurden. Ich wusste sofort Bescheid. Nachdem ich mir jahrelang angehört habe, wie du immer wieder davon erzählt hast, werde ich die Zahlen ja wohl kennen. Aber dann habe ich hin und her geschaltet, bis sie auch auf den anderen Sendern angesagt wurden, und ich hab sie aufgeschrieben, nur, um ganz sicherzugehen. Mein Gott, Tommy … du bist Millionär!»
Tommy starrte aus dem Fenster, wusste nicht, was er sagen sollte. Er war Millionär. Tommy DaSouza, Millionär.
«Tommy? Bist du noch da, Tommy?»
«Äh, ja.»
«Hey, Tommy, soll ich rüberkommen? Wir könnten feiern, wie in alten Zeiten – bloß, dass wir diesmal tatsächlich was zu feiern hätten!»
Ginas Worte trafen ihn unvorbereitet. Er hatte sie so sehr vermisst, dass er ihretwegen hatte sterben wollen, doch als er nun ihren eindringlichen Tonfall hörte, wurde ihm klar, dass er sich jetzt mit Gina womöglich noch einsamer fühlen würde als ohnehin schon.
«Weißt du, ich glaube … äh … das verschieben wir auf ein andermal, okay?»
«Ich ziehe mir nur schnell Schuhe an und –» Gina verstummte, als sie verstand, was Tommy gesagt hatte. «Oh. Klar, du willst allein sein. Das verstehe ich.»
«Danke», sagte Tommy und fühlte sich mit einem Mal riesengroß. Er hatte Gina noch nie etwas abgeschlagen. Ja, früher wäre ihm das nicht im Traum eingefallen.
«Tommy … ähm, ich liebe dich immer noch. Das weißt du doch, nicht wahr?»
Komisch, das hast du mir gar nicht gesagt, als du mich vor drei Wochen angeschrien hast, dass ich aufhören soll, bei dir anzurufen, hätte Tommy am liebsten geantwortet. Doch stattdessen drang aus seinem Mund lediglich: «Ich muss los.» Er legte auf, ehe sie etwas darauf erwidern konnte, da er fürchtete, wenn er zu lange dranbliebe, würde er schließlich doch wieder mit ihr zusammenkommen. Es war schon komisch: Ein paar Minuten zuvor hätte er noch alles dafür gegeben, dass sie wieder ein Paar würden. Aber jetzt …
Er setzte sich auf die Couch und langte an der Waffe vorbei nach der Fernbedienung für den Fernseher. Er musste nur ein paar Minuten lang hin und her schalten, dann stieß er auf einen Nachrichtensprecher, der gerade die Lottozahlen verlas: 6, 12, 19, 21, 36, 40 und als roten Powerball die 18. Er musste sie nicht aufschreiben wie Gina, und er musste auch nicht seinen Lottoschein holen, um nachzusehen, ob es die richtigen waren. Das waren seine Zahlen. Er hatte sie in den vergangenen sieben Jahren jede Woche getippt.
Er konnte nicht genau sagen, warum ausgerechnet 6 - 12 - 19 - 21 - 36 - 40+18 seine Zahlen waren. Keine dieser Zahlen hatte etwas mit seinem Geburtstag zu tun oder so. Diese Zahlen waren nur einfach immer da gewesen, hatten wie riesige Neonzeichen auf der Innenseite seiner Augenlider geleuchtet. Sie waren strahlend weiß, bis auf die letzte Zahl, die so rot war wie die Glut eines erlöschenden Lagerfeuers. Er hatte nie gewusst, was sie bedeuteten, bis dann in Connecticut das Powerball-Lotto eingeführt wurde.
Als er zum ersten Mal die Lottozahlen in den Abendnachrichten sah – sechs weiße und eine rote, genau wie in seinem Traum –, wusste er, dass das kein Zufall sein konnte. Es war ihm vorbestimmt, beim Powerball zu gewinnen. Zunächst fürchtete er, er hätte seine Chance schon verpasst und diese Zahlen – seine Zahlen – wären bereits gezogen worden. Doch als ihm die Lottogesellschaft dann eine Liste aller bisherigen Gewinnzahlen schickte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass seine Zahlenkombination noch nicht gefallen war.
Am nächsten Tag fuhr er mit dem Zug nach Connecticut, um die Zahlen zu tippen, die er im Kopf hatte, solange er zurückdenken konnte. Zwar dauerte die Fahrt zu der Annahmestelle in einem 7-Eleven hin und zurück über zwei Stunden, aber das war es wert. Bei einem Jackpot von 86 Millionen Dollar, so rechnete er, entsprach das einem Stundenverdienst von 43 Millionen Dollar. An dem Abend, an dem die Gewinnzahlen bekannt gegeben wurden, war er derart überzeugt, dass sich sein Schicksal erfüllen würde, dass er im O’Sullivan’s eine Runde schmiss. Das kostete ihn 109 Dollar plus Trinkgeld, und anschließend war er komplett pleite, aber das spielte keine Rolle. Er war sich sicher, dass er am Ende des Abends so reich sein würde, dass er die ganze Kneipe kaufen konnte.
Bloß dass dann die Zahlen in den Nachrichten nicht seine Zahlen waren. Von den sieben Zahlen hatte er nur zwei richtig. Tommy war so überzeugt gewesen, dass er gewinnen würde, dass er zunächst dachte, denen beim Fernsehen wäre ein Irrtum unterlaufen. Doch am nächsten Tag bestätigte die Zeitung, dass sich der weißhaarige Nachrichtensprecher nicht vertan hatte. Tommy hatte verloren.
Sein Selbstvertrauen war erschüttert, erholte sich aber wieder. Er musste einfach dranbleiben; das war alles. In der nächsten Woche setzte er sich wieder in den Zug, um seine Zahlen zu spielen. Doch genau wie beim ersten Mal hatte er nur zwei Richtige. Nach ein paar Monaten schwand allmählich seine Hoffnung. Er hätte es aufgegeben, hätten ihm die Zahlen nicht im Schlaf immer so deutlich vor Augen gestanden. Und so spielte Tommy weiter Lotto und verpasste es keine Woche, aus Furcht, in ebendieser Woche könnten endlich seine Zahlen gezogen werden.
Nach ein paar Jahren rechnete Tommy nicht mehr damit zu gewinnen, spielte aber weiterhin Lotto. Und jedes Mal, wenn er betrunken war – was in letzter Zeit oft vorkam –, erzählte er allen, die ihm zuhörten, dass er eines Tages Millionär sein werde. Wartet’s nur ab, ihr werdet’s schon sehen. Bloß dass dieser eine Tag nie kam.
Die Tage gingen ins Land, und alles wurde immer schlimmer. Also, nicht direkt schlimmer, aber es wurde auch nicht besser, und das lief auf das Gleiche hinaus. Es war jetzt zehn Jahre her, dass er die Highschool abgeschlossen hatte, und er wohnte immer noch in derselben beschissenen Bruchbude in Brooklyn und hatte denselben beschissenen Job. Die Wohnung wie auch der Job waren ihm zunächst richtig cool vorgekommen, doch dann hatte Tommy einsehen müssen, dass das, was mit achtzehn cool wirkt, mit achtundzwanzig nur noch lächerlich ist.
Schlimmer noch: Auch die Mädels wussten das. Mädels wie Gina. Klar, hin und wieder zog sie gern mit ihm um die Häuser, aber wie sie ihm gewissenhaft erklärt hatte, verfügte Tommy über kein «Langzeitpotenzial». Er hatte versucht, aus sich den Mann zu machen, als den sie ihn gerne gesehen hätte, aber es war ihm nicht gelungen. Achtundzwanzigjährige ohne Collegeausbildung, die seit der Schule immer nur bei Tower Records an der Kasse gearbeitet hatten, wachten nun mal nicht eines Morgens auf und hatten Langzeitpotenzial.
Bis heute. Ab heute habe ich Langzeitpotenzial, nicht wahr? Tommy ging zum Couchtisch und hob die Waffe auf. Er drehte sie in den Händen hin und her und fragte sich, warum er sich immer noch die Mündung in den Mund stecken und abdrücken wollte.
Er musste sich nicht mehr umbringen. Da er nun das Geld gewonnen hatte, würde alles gut werden … nicht wahr? Aus irgendeinem Grund war er sich da nicht sicher. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass das Geld nichts änderte; er war immer noch der gleiche Versager, der er immer gewesen war. Aber er wusste auch noch etwas anderes: Er war zwar immer noch derselbe Typ, der nur Minuten zuvor bereit gewesen war, sich das Hirn rauszupusten, aber er musste dieser Typ nicht bleiben. Er konnte sich verändern, konnte jemand werden, der … tja, was?
Jemand, der einen Lebenssinn hatte – ja, das war es. Er seufzte sehnsüchtig und nickte. Ich kann es wenigstens versuchen. Ja. Tommy zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und versteckte die Waffe wieder im Wandschrank, unter einem Stapel schwarzer Konzert-T-Shirts, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Früher hatte er sie ständig getragen, in letzter Zeit aber nur noch, wenn er nichts anderes Sauberes mehr anzuziehen hatte.
Nachdem er den Wandschrank geschlossen hatte, trank Tommy sein Bier aus und legte sich auf die Couch. Und obwohl er viel an die Nummern dachte, bevor er dann schließlich einschlief, leuchteten sie zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht in seinen Träumen.
Es war Nacht, als Caine erwachte. Das Licht des Fernsehers flackerte über die dunklen Wände und warf huschende Schatten durch den Raum. Auf der Mattscheibe gab eine temperamentvolle junge Frau die Gewinnzahlen des Powerball-Lottos bekannt. Caine betätigte die Fernbedienung, und im Zimmer wurde es dunkel. Er wartete ab, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.
Er hatte das quälende Gefühl, etwas vergessen zu haben. Hing es mit etwas zusammen, das er geträumt hatte? Nein, das war es nicht. Er hatte fest geschlafen. Einige Träume waren bereits von seinem Bewusstsein überschattet. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte die Kapsel geschluckt. Er griff nach seinem Mobiltelefon auf dem Nachttisch, um nachzusehen, wie spät es war. Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Er hatte das Medikament schon seit elf Stunden intus.
Er drehte den Kopf nach links, dann nach rechts, blinzelte dabei mit den Augen. Er fühlte sich nicht anders als zuvor. So weit, so gut. Aber war das nicht genau das, was Jasper gesagt hatte? Man spürt gar nichts davon. Dennoch glaubte Caine, dass es ihm nicht verborgen bleiben würde, wenn jetzt bei ihm eine Schraube locker wäre. Er würde es bemerken. Es konnte gar nicht anders sein.
Das Telefon begann in seiner Hand zu vibrieren. Caine erschreckte sich so, dass er es fast fallen ließ. Er sah auf dem Display nach, wer der Anrufer war, aber die Rufnummernübermittlung war unterdrückt.
Er überlegte kurz, nicht ranzugehen, entschied sich dann aber dagegen. Mit immer noch kribbelnden Händen klappte er das Telefon auf.
«Hallo, Caine, Vitaly hier. Wie geht es Ihnen?»
Caine spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
«Oh, hallo. Danke, es geht mir gut. Wie geht es Ihnen?», fragte Caine, der nicht wusste, was er dem Mann sagen sollte, dem er elftausend Dollar schuldete.
«Nicht so gut, Caine. Aber ich hoffe, dem können Sie abhelfen.» Nikolaev verstummte. Caine wusste nicht, ob er darauf jetzt etwas erwidern sollte, fühlte sich aber nach wenigen Augenblicken genötigt, das Schweigen zu brechen.
«Also … äh, ich schätze mal, Sie rufen wegen dem Geld an.» Keine Reaktion. Caines Zunge wurde trocken wie ein Schwamm, der in der Sonne lag. «Ich habe das Geld, Nikolaev. Sobald ich aus dem Krankenhaus raus bin, kann ich es Ihnen zurückzahlen.»
«Zuzüglich Zinsen.»
«Ja, zuzüglich Zinsen. Selbstverständlich.» Caine versuchte zu schlucken, aber es gelang ihm nicht. «Apropos: Wie hoch sind denn die Zinsen?»
«Der übliche Satz. Fünf Prozent pro Woche, wöchentlich zu begleichen. Ich möchte nur sichergehen: Sie haben das Geld, nicht wahr? Denn, ich meine, Sie sind einer meiner liebsten Gäste. Und ich möchte Sie bald wieder im Club begrüßen können, verstehen Sie?»
«Ja, natürlich habe ich das Geld», log Caine. «Kein Problem.»
«Schön», sagte Nikolaev mit tiefer, drohender Stimme. «Ist es auf der Bank?»
«Äh, ja.» Caine war zum Kotzen zumute.
«Gut. Da Sie ja flachliegen, schicke ich Sergey zu Ihnen rüber. Sie können ihm Ihre Scheckkarte geben, und ich hebe dann das Geld für Sie ab. So müssen Sie deswegen nicht extra nach Downtown kommen», sagte Nikolaev, «und können sich ganz Ihrer Genesung widmen.»
«Oh, danke», sagte Caine. Es hatte ihm die Sprache verschlagen, und er versuchte Zeit zu schinden. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein Besuch von Sergey Kozlov, Nikolaevs hünenhaftem Leibwächter. «Es ist bloß, Vitaly – ich muss erst noch ein paar Geldgeschäfte tätigen, verstehen Sie? Ich habe ungefähr zweitausend Dollar auf dem Konto, und der Rest ist in Wertpapieren angelegt. Ich muss ein paar Depositenzertifikate zu Geld machen, solche Sachen halt.»
«Haben Sie nicht gerade gesagt, Sie hätten das ganze Geld auf der Bank?» Nikolaev schwieg einen Moment lang. «Das ist kein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen, mich zu belügen, Caine.»
«Das tue ich ja auch gar nicht. Ich habe das Geld; es ist bloß nicht alles flüssig. Aber das lässt sich regeln.» Schweigen. «Sie bekommen Ihr Geld, Vitaly. Sobald ich hier raus bin.»
«Also gut. Wir werden Folgendes tun. Sergey wartet unten am Eingang. Er kommt gleich zu Ihnen rauf, um die Scheckkarte abzuholen. Er wird heute Nacht tausend Dollar abheben und dann jeden Tag weitere fünfhundert Dollar, bis Sie aus dem Krankenhaus raus sind und Ihre Wertpapiere zu Geld machen. Einverstanden?»
«Klar, Vitaly. Einverstanden», sagte Caine, dem bei der Sache entschieden wohler gewesen wäre, wenn er mehr als nur vierhundert Dollar auf dem Konto gehabt hätte.
«Gut. Sergey ist in wenigen Minuten bei Ihnen.»
«Okay. Danke, Vitaly.»
«Gern geschehen», sagte Nikolaev großmütig. «Ach, Caine: eins noch.»
«Gute Besserung.» Mit einem leisen Klicken wurde die Verbindung getrennt.
Caine klappte sein Telefon zu und beschloss, dass es Zeit war, das Krankenhaus zu verlassen. Er zog die gestärkte Bettdecke beiseite und schwang vorsichtig die Beine aus dem Bett, wobei er befürchtete, dass sie ihn nicht tragen würden. Der Linoleumboden fühlte sich kalt und glatt unter den Fußsohlen an. Es war ein schönes Gefühl, wieder aufrecht zu stehen. Als er sicher war, dass er nicht umkippen würde, schlüpfte er schnell in seine Straßenkleidung.
Er sah auf die Uhr. Es war keine drei Minuten her, dass er aufgelegt hatte. Angenommen, Nikolaev hatte Kozlov gleich anschließend angerufen, dann blieb Caine für seine Flucht nicht viel Zeit. Er zweifelte nicht daran, dass der große Russe an den Sicherheitskräften des Krankenhauses vorbeikommen würde, die Frage war nur, wie lange er dafür brauchte. Caine hoffte, dass er die Antwort auf diese Frage nicht erfahren würde, denn er wollte längst weg sein, wenn Kozlov ihn besuchen kam.
Caine öffnete die Tür und spähte hinaus in den schummrig beleuchteten Korridor. In diesem Moment sah er Kozlov angewalzt kommen. Der stämmige Bodyguard hatte einen watschelnden Gang, verlagerte bei jedem Schritt das Gewicht seiner massigen Gestalt vom einen Riesenfuß auf den anderen. Caine sank das Herz in die Hose. Es war zu spät. Nun musste er Kozlov seine Scheckkarte aushändigen. Und wenn Nikolaev feststellte, dass er ihn hinsichtlich seines Kontostands belogen hatte, war alles aus.
Mit einem Mal erschienen ihm immaterielle, nicht greifbare Dinge wie epileptische Anfälle und Schizophrenie weit weniger bedrohlich als die dingliche Welt. Caine sah sich im Zimmer um, hielt verzweifelt Ausschau nach einem Versteck, sah aber lediglich den fahlen Umriss seines Zimmergenossen, der so flach atmete, dass Caine sich kurz fragte, ob der Mann tot sei. Einzig das leise Piepen des EKG-Geräts zeigte, dass er noch unter den Lebenden war.
Als Caine den hüpfenden Punkt auf dem Display sah, kam ihm eine Idee.
«Code blue – 1012. Code blue – 1012.»
Schwester Pratt sprach mit geübt monotoner Stimme ins Mikro. Lieber die Patienten nicht beunruhigen, indem man alle wissen ließ, dass in Zimmer 1012 jemand im Sterben lag. Sie schnappte sich den Notfallwagen und lief damit den Flur hinab. Den großen, bärtigen Mann bemerkte sie erst, als sie ihn rammte.
Er wirbelte grimmig blickend herum, aber sie hatte keine Zeit, ihn zusammenzustauchen. Sie umkurvte mit dem Wagen seine ungeschlachte Gestalt und lief weiter. Sie war als Erste vor Ort. Gott, warum mussten die alten Leute immer ausgerechnet in ihrer Schicht ins Gras beißen? Das war schon der Dritte diese Woche. Sie stürmte ins Zimmer, machte Licht und lief zu Mr. Morrison, der so grau im Gesicht war, dass er schon wie ein Leichnam aussah.
Da erst sah sie es: Die Elektrode lag auf dem Boden. Jetzt platzte einer der neuen, milchgesichtigen Assistenzärzte herein und hätte sie fast über den Haufen gerannt.
«Wie lange ist er schon –»
«Falscher Alarm. Die Elektrode hat sich gelöst.»
«Was? Oh», sagte der Assistenzarzt, als sie auf die am Boden liegende Zuleitung zum EKG-Gerät zeigte.
Sie bückte sich und hob das Kabel auf. Seltsam: Das Klebeband haftete noch. Sie fragte sich kurz, wie es sich gelöst haben konnte, schob den Gedanken aber schnell beiseite. In ihren sechzehn Jahren als Krankenschwester hatte sie gelernt, sich über die eigenartigen Vorkommnisse in diesem Gebäude keine großen Gedanken zu machen.
Denn es war ja schließlich ein Krankenhaus. Da geschahen ständig seltsame Dinge.
Caine duckte sich in den dunklen Eingangsbereich von Zimmer 1013 und sah zu, wie die Krankenschwester und der Assistenzarzt sein ehemaliges Zimmer wieder verließen. Nachdem nur Sekunden später Kozlov ins Zimmer 1012 geschlichen war, rannte Caine den Korridor hinab und ging dann flotten Schritts in Richtung des neonroten Ausgangsschilds. Als er die Leuchtbuchstaben ansah, schienen sie plötzlich größer zu werden, sich bis zum Boden zu erstrecken. Caine bekam einen fürchterlichen Schreck.
Nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt.
Caine kniff die Augen zu, versuchte die visuelle Halluzination abzuschütteln. In diesem Moment packte ihn der Schwindel. Er hielt sich an einem an der Wand abgestellten Handwagen fest. Als sich dann nicht mehr alles um ihn herum drehte, schlug er die Augen wieder auf und sah, dass auf dem Wagen haufenweise weiße Ärztekittel lagen. Instinktiv nahm er sich einen Kittel und zog ihn über.
In diesem Moment hörte er hinter sich Stiefelgetrappel. Es war Kozlov. Caine straffte die Schultern, als der riesige Russe auf ihn zugerannt kam. Als er Kozlovs Pranke auf der Schulter spürte, wusste Caine, dass es kein Entkommen mehr gab. Doch statt ihn an die Wand zu schleudern, stieß Kozlov ihn nur beiseite und verschwand dann hinter der nächsten Ecke.
Caine stand einen Moment verwirrt da und begriff nicht, was gerade geschehen war, bis ihm aufging, dass ihn der Russe des Kittels wegen offenbar für einen Arzt gehalten hatte. Caine ging weiter und durchschritt die Flügeltüren am Ende des Ganges. Als er endlich die Aufzüge gefunden hatte, wollte er eben einen der silberfarbenen Knöpfe drücken, spürte aber plötzlich an seinem Oberschenkel eine Vibration, ausgelöst durch das läutende Telefon.
«Mist!», stieß Caine hervor und fuhr sich mit der Hand in die Hosentasche, um das Gerät zum Schweigen zu bringen. Doch es war schon zu spät: Die Flügeltüren flogen auf, und Kozlov betrat den Gang, ein Mobiltelefon in der Hand. Er lächelte.
Caine starrte verzweifelt die Fahrstuhltüren an, wollte, dass sie sich öffneten und ihm eine Fluchtmöglichkeit boten, doch sie blieben geschlossen. Kozlov marschierte langsam den Gang hinab, genoss die Ruhe vor dem Sturm. Da öffneten sich die Fahrstuhltüren doch noch, und zum Vorschein kam ein älterer Latino, der einen Wischmopp in einem großen Eimer auf Rollen hielt.
«Entschuldigung», sagte Caine, riss dem verblüfften Putzmann den Mopp aus der Hand und stieß ihn mit dem Eimer in den Flur. Perfektes Timing. Kozlov konnte dem heransausenden Eimer ausweichen, doch als er beiseite trat, traf ihn der Stiel des Mopps an der Schulter, der Eimer kippte um, und Seifenlauge ergoss sich über den glatten Fußboden. Kozlov rutschte aus und schlug der Länge nach hin.
Caine sprang in die übergroße Fahrstuhlkabine und drückte hektisch aufs Geratewohl auf irgendeinen Knopf, in der Hoffnung, die Türen würden sich schließen, ehe es Kozlov gelang, wieder auf die Beine zu kommen. Gerade als die Türen zuglitten, erhaschte Caine einen Blick auf die Gestalt des Hünen. Er streckte eine Hand aus, wollte die Metalltüren aufhalten, aber es war zu spät. Die Türen schnappten zu, und der Fahrstuhl fuhr aufwärts.
Als Caine die Etagennummern nacheinander aufleuchten sah, wurde ihm die Lächerlichkeit der ganzen Situation bewusst. Was tat er hier? In einem Krankenhaus herumlaufen, um einem russischen Gangster zu entkommen? Wie waren die Dinge denn bloß dermaßen aus dem Ruder gelaufen?
Dann fiel es ihm wieder ein: die Kapsel. Er hatte die Kapsel geschluckt, war aufgewacht und … was dann?
Vielleicht war es das – vielleicht hatte er einen schizophrenen Schub und bildete sich nur ein, die Russenmafia sei hinter ihm her. Aber das konnte nicht sein. Das hier war real. Er hatte Vitaly Nikolaevs Geld verspielt, bevor er die Kapsel geschluckt hatte. Gut, die letzten Minuten waren ein wenig verrückt gewesen, aber das bedeutete ja nicht, dass er verrückt war, oder?
Vielleicht war das alles auch nur ein Albtraum, ausgelöst durch die Medikation. Er kniff sich in den Unterarm, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Es tat weh, aber bewies das irgendwas? Vielleicht träumte er ja nur, dass es wehtat. Es war eine endlose Schleife der Logik oder Unlogik, je nachdem, wie man es sah. Wie sollte ein Wahnsinniger erkennen, dass er Wahnvorstellungen hatte?
Was, wenn es das jetzt war?
Was, wenn er gerade eben auf Nimmerwiedersehen dem Wahnsinn verfallen war?
Jaspers Worte hallten höhnisch in seinem Geist wider: Man spürt gar nichts davon … Das ist ja gerade das Unheimliche daran.
Plötzlich blieb der Fahrstuhl mit leichtem Ruckeln stehen, und ein Ping ertönte, das Caine an eine Mikrowelle erinnerte. Die Tür öffnete sich, und Caine stieg, ohne nachzudenken, in der fünfzehnten Etage aus. Nichts deutete darauf hin, welche Krankheiten hier behandelt wurden; es sah alles aus wie auf seiner Etage. Hinter ihm glitt die Tür wieder zu.
Caine überlegte, mit einem anderen Fahrstuhl wieder hinunterzufahren, aber etwas riet ihm davon ab. Es war beinahe, als sagte eine Stimme in seinem Kopf: Noch nicht … Du bist hier noch nicht fertig. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass er gerade wahnsinnig wurde? Nein. Er weigerte sich, das zu glauben. Er sagte sich, es sei nur ein Instinkt. Er hatte ständig instinktive Eingebungen, und meistens waren sie ziemlich gut – natürlich mal abgesehen von dem Instinkt, der ihn dazu verleitet hatte, elf Riesen auf ein Verliererblatt zu setzen.
Die widerstreitenden Stimmen in seinem Geist ignorierend, ging Caine den kahlen Flur hinab, und seine Schritte hallten über den harten Linoleumboden, bis er zu den Flügeltüren kam. Als er die glatten Metallklinken berührte, überkam ihn ein überwältigendes Déjà-vu.
Mit einem Mal war ihm alles vertraut: das glatte, kühle Metall unter seinen Fingern, die flackernde Neonbeleuchtung über seinem Kopf, der antiseptische Geruch von Alkohol und Medizin. Es war eine berauschende Empfindung, die wie eine Riesenwoge über ihn hinwegbrandete und ihn mit dem Gefühl zurückließ … in die Zukunft sehen zu können? Übernatürliche Fähigkeiten zu haben? Ein Hellseher zu sein?
Mit einem Mal strotzte er vor seltsamem Selbstvertrauen, so als hätte er einen Royal Straight Flush auf der Hand und wäre daher unbesiegbar. Und damit öffnete er die Flügeltüren, um zu sehen, was sich dahinter befand. Die kalte Luft strich ihm übers Gesicht, als er auf dem schummrig beleuchteten Korridor an den stillen Zimmern entlangging. Er atmete sie tief ein, wollte jeden Moment auskosten, der sich genau so, wie er es gewusst hatte, vor seinen Augen abspielte.
Caine fand, es hatte etwas Beruhigendes, Friedliches an sich, wie er da an den schlafenden Leibern entlangging und sich fragte, welche Träume oder Albträume wohl gerade ihre bewusstlosen Hirne plagten.
Bergeweise Heidelbeermuffins … tollwütige Hunde mit Schaum vorm Maul … eine hitzige Auseinandersetzung mit einem Exfreund.
Jeder dieser Gedanken ging ihm wie eine weit zurückreichende, lebhafte Erinnerung durch den Sinn. Er fühlte sich auf seltsame Weise getröstet und verbunden … aber womit verbunden?
Mit ihrem Geist, flüsterte ihm die Stimme (der Instinkt?) zu. Er sagte sich, das sei verrückt.
Natürlich ist es das. Aber es ist dennoch wahr.
Er schüttelte den Kopf, bekam Angst. Das war es jetzt. Er schnappte über, hatte Halluzinationen. Aber es war alles viel zu real, um eine Wahnvorstellung sein zu können. Die Gefühle waren echt. Und dann hörte er Jaspers Worte in seinem Geist widerhallen:
Die Wahnvorstellungen kommen einem real vor. Ganz natürlich, geradezu nahe liegend. So als wäre es die normalste Sache der Welt, dass die Regierung ausspionieren lässt, was du denkst, oder dass dein bester Freund dich umbringen will.
Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Er musste sich konzentrieren. Er begann, aufmerksamer auf seine Umgebung zu achten. Jede Zimmertür, an der er vorbeikam, war mit einer Nummer und einer weißen Karte versehen, auf der in großer Blockschrift die Namen der Patienten standen. HORAN, NINA. KARAFOTIS, MICHAEL. NAFTOLY, DEBRA. KAUFMAN, SCOTT.
Erst als er an dem vierten Zimmer vorbeigegangen war, merkte Caine, dass er die Namen abgelesen hatte, als würde er jemanden suchen. Während er vor den Türen kurz innegehalten hatte, hatte sein Hirn gesagt: Nein, nein, nein, nein.
Als er den Namen an der fünften Tür las, blieb er stehen. Von drinnen hörte er ein leises Wimmern.
Ja, das ist sie.
Ohne zu zögern, betrat Caine den Raum.
Das Bettzeug des großen Krankenhausbetts war verknittert, aber es schien niemand darin zu liegen. Doch als sich Caines Augen an die Dunkelheit in dem Raum gewöhnt hatten, sah er den kleinen Kopf einer Puppe. Der Kopf drehte sich zu ihm her und blinzelte ihm mit großen, feuchten Augen entgegen.
Caine hätte fast geschrien. Da wurde ihm klar, dass das Wesen gar keine Puppe war. Es war ein kleines Mädchen. In dem viel zu großen Bett wirkte das arme Ding ganz klein und verloren.
«Alles in Ordnung?», fragte Caine zögernd.
Das Mädchen antwortete nicht, aber Caine glaubte zu sehen, dass sie den Kopf ein wenig auf und ab bewegte.
«Soll ich eine Krankenschwester holen?»
Sie schüttelte langsam den Kopf.
«Soll ich ein bisschen bei dir bleiben?»
Ein winzig kleines Nicken.
«Okay.» Caine zog vorsichtig einen Stuhl ans Bett des kleinen Mädchens und setzte sich. «Ich heiße David, aber meine Freunde nennen mich Caine.»
«Hallo, Caine.» Das Mädchen klang sehr matt, aber in ihrer Stimme schwang etwas mit – Hoffnung vielleicht? Oder etwas anderes? Caine wusste es nicht zu sagen. Mit einem Mal schämte er sich dafür, dass er noch Stunden zuvor solche Angst gehabt hatte. Er war schließlich ein erwachsener Mann. Und das Mädchen hier vor ihm war nur ein kleines Kind. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in ihrem Alter allein im Krankenhaus zu liegen.
«Du heißt Elizabeth, nicht wahr?»
«Mm», nickte sie.
«Das ist wirklich ein schöner Name. Weißt du, wenn ich mal eine Tochter habe, werde ich sie, glaube ich, auch Elizabeth nennen.»
«Wirklich?», fragte das Mädchen und rieb sich geistesabwesend die Nase.
«Wirklich», sagte Caine und lächelte. Dann beugte er sich verschwörerisch zwinkernd zu ihr vor. «Jetzt bist du dran und musst sagen, dass dir mein Name gefällt – auch wenn er längst nicht so schön ist wie Elizabeth.»
Elizabeth kicherte. «Dein Name ist auch schön.»
«Wirklich?», fragte Caine und imitierte dabei ihre hohe Stimme.
Elizabeth kicherte wieder. «Wirklich», sagte sie und entblößte lächelnd eine Zahnlücke. Dann sagte sie: «Du bist anders als die anderen.»
«Welche anderen?»
«Die anderen Ärzte», sagte sie, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. «Die reden nie mit mir. Die sagen höchstens mal ‹Mach mal aaah› oder so was.»
«Tja, mit Ärzten hat man es manchmal nicht leicht. Aber sie haben ja auch einen schwierigen Beruf, haben den ganzen Tag lang mit kranken Leuten zu tun, und darum bemühe ich mich immer, nachsichtig mit ihnen zu sein.»
«Ja, das stimmt wohl», sagte sie mit viel mehr Schwermut, als einem Mädchen ihres Alters gemäß war. «Das geht mir bloß so auf die Nerven.»
«Ja», sagte Caine. «Das verstehe ich.»
Sie sah ihn sich genauer an, machte Schlitzaugen, um sein Gesicht in dem Dämmerlicht besser erkennen zu können. «Bist du wirklich ein Arzt, Caine?»
Caine lächelte. «Würdest du mich weniger mögen, wenn ich keiner wäre?»
«Nein, ganz bestimmt nicht. Dann würde ich dich viel lieber mögen.»
«Also, wenn das so ist», sagte er, «ich bin kein Arzt.»
«Gut, denn ich mag eigentlich keine Ärzte.»
«Ich auch nicht», sagte er.
Caine schwieg eine Weile, und Elizabeth gähnte mit aufgerissenem Mund.
«Ich glaube, das ist der richtige Moment für mich zu gehen. Für dich ist ja eh schon längst Schlafenszeit.» Caine stand auf, aber Elizabeth hielt ihn am Arm zurück. Er war erstaunt, wie kräftig sie zupackte.
«Bitte geh noch nicht. Bleib noch ein bisschen bei mir. Nur bis ich eingeschlafen bin, ja?»
«Also gut», sagte Caine und setzte sich wieder. Behutsam löste er Elizabeths Hand und legte sie auf ihren Schoß. «Ich verspreche dir, ich gehe nirgendwohin, bis ich höre, dass du anfängst zu schnarchen.»
«Ich schnarche nicht!»
«Das werden wir ja sehen», sagte Caine und deckte sie gut zu. «Und jetzt mach die Augen zu und fang an, Schafe zu zählen.»
Elizabeth gehorchte. Wenig später wandte sie sich mit geschlossenen Augen zu ihm hin.
«Kommst du mich morgen Nacht wieder besuchen?»
«Ich glaube, dann bin ich schon weg, Elizabeth.»
«Dann vielleicht im Traum?»
«Ja, vielleicht im Traum.»
Einige Minuten später begann Elizabeth, tief zu atmen, und Caine schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, seltsamerweise sicher, dass sich das, weshalb sie ins Krankenhaus gemusst hatte, schon irgendwie würde beheben lassen.
Jasper ging um den Block und wartete, dass ihm die Stimme sagte, wann es so weit war. Er hatte noch nie eine Schusswaffe abgefeuert, machte sich darum aber keine Gedanken. Es war genau so, wie wenn man ein Foto schoss: zielen und abdrücken. Der einzige Unterschied war, dass eine 35mm-Nikon keinen Rückstoß hatte wie eine Lorcin L 9mm.
Er hatte überlegt, in Harlem, wo er die illegale Schusswaffe erworben hatte, ein paar Probeschüsse abzugeben, aber er besaß lediglich zwei Ladeclips Munition und wollte keine Kugel vergeuden. Er wusste nicht, wie viele er brauchen würde, denn die Stimme hielt sich, was das anging, sehr im Vagen. Sie hatte ihm nur gesagt, er solle eine Waffe kaufen und schnellstens wieder nach Downtown zurückkommen, und das hatte er getan. Üben musste er an Ort und Stelle.
Jasper fragte sich, ob er jemanden würde töten müssen. Er wollte es nicht, wusste aber, dass er es tun würde, wenn ihm die Stimme die Anweisung dazu gab. Sie würde ihn nicht in die Irre führen. Das war schlicht und einfach unmöglich: Sie wusste alles – alles, was es zu wissen gab.
Jasper hatte keine Ahnung, woher er das wusste, war sich dessen aber dennoch sicher. Die Stimme hatte ihm nie gesagt, dass sie allwissend sei, aber wenn sie zu ihm sprach, konnte ein Teil seines Hirns sehen, was sie sah. Und in diesen Momenten sah Jasper alles. All die Leute, die Pläne ausheckten und Ränke schmiedeten, um David zu schaden. Manche wollten ihn verkaufen. Andere wollten an ihm herumexperimentieren. Einige trachteten ihm nach dem Leben.
Das war der Grund, warum Jasper die Waffe beschaffen musste. Zum Schutz. Um David vor denen zu beschützen, die ihm Schaden zufügen wollten. Er würde nie zulassen, dass sie seinem kleinen Bruder etwas antaten. Niemals –
Es ist so weit.
Jasper blieb auf dem menschenleeren Gehsteig stehen und legte den Kopf schräg.
– Ich habe die Waffe besorgt, wie du es wolltest.
Bist du bereit?
– Ja.
Gut. Ich will, dass du Folgendes tust …
Jasper hörte zu und schloss die Augen, damit er ein Stück der Unendlichkeit erblicken konnte. Dabei huschte ihm ein versonnenes Lächeln übers Gesicht, denn endlich erkannte er seine wahre Bestimmung. Dann verstummte die Stimme. Als er die Augen wieder öffnete, entwichen die Bilder, die er gesehen hatte, seinem Bewusstsein und ließen nur Schatten zurück.
Und obwohl sich Jasper an das Gesehene nicht erinnern konnte, fühlte er sich immer noch ganz leicht und luftig, als wäre sein Inneres mit reiner Freude erfüllt. Er packte die Waffe fester und eilte die Straße hinab. Er musste rennen, damit er noch rechtzeitig kam.
Als er Elizabeths Zimmer verlassen hatte, atmete Caine erleichtert auf. Der Instinkt (die Stimme?), der (die) ihn dazu gebracht hatte, den Raum zu betreten, war verstummt. Er hatte nun keinen Grund mehr, dort zu bleiben, und deshalb ging Caine den Flur hinab zurück zu den Fahrstühlen. Im Erdgeschoss angelangt, spürte er allerdings wieder, dass etwas an ihm zog und ihm ins Ohr flüsterte.
Geh nicht zum Haupteingang, da lauert er dir auf. Geh durch die Notaufnahme.
Caine wagte nicht, seinen Instinkt zu ignorieren (meinst du nicht eher die Stimme?), und ging kreuz und quer durch die Etage, bis er sich schließlich in der Notaufnahme wieder fand. Es sah dort ganz anders aus als bei Emergency Room. Dort liefen keine gut aussehenden Ärzte herum, die «Blutbild!» brüllten. Vielmehr saßen dort Dutzende unglückliche Menschen, die husteten, niesten und bluteten.
Als er den Ausgang entdeckt hatte, ging Caine im Zickzack zwischen den Stühlen hindurch. Er kam an einer schwangeren Frau vorbei, die sich mit ihrem Mann stritt, und aufwogender Schwindel ließ den Raum sich kräuseln, so als sähe er ihn durch einen kristallenen Wasserfall. Caine blieb stehen, hielt sich an dem nächstbesten Stuhl fest und kniff die Augen zu. Er versuchte, das streitende Pärchen zu ignorieren, das in der Nähe des Ausgangs stand, aber sein Gespräch drang ihm ins Bewusstsein.
«Ich darf nicht alleine bleiben. Du bist den ganzen Tag in deinem lächerlichen Zug, und ich hänge hier fest, Hunderte von Meilen entfernt.»
«Aber Schatz –»
«Komm mir nicht mit ‹Aber Schatz›. Es ist zu gefährlich. Fragen wir ihn. Was meinen Sie dazu?» Kurzes Schweigen, dann: «Doktor? Doktor?»
Caine schlug die Augen auf und stellte erleichtert fest, dass der Schwindelanfall vorüber war. Die schwangere Frau starrte ihn an.
«Was?», fragte Caine verwirrt.
«Darf eine Frau, die schon dreimal vorzeitige Wehen bekommen und ihr erstes Kind verloren hat, ganz alleine zu Hause bleiben, während ihr Mann in einem Zug die Ostküste rauf- und runterfährt?»
Caine sah den Mann auf Beistand hoffend an, aber der zuckte nur mit den Achseln.
«Ich weiß nicht», sagte Caine und überlegte krampfhaft, was er Kluges dazu sagen sollte. «Haben Sie hier in der Gegend irgendwelche Verwandten?»
Die Frau schüttelte den Kopf. «Nur eine Schwester in Philadelphia.»
«Das ist ja lustig. Mein Bruder wohnt auch in Philly. Die Welt ist klein, hm?», sagte Caine fast wie im Selbstgespräch. Und dann: «Wieso ziehen Sie nicht zu Ihrer Schwester? Nur bis das Baby kommt.»
Die Miene des Mannes heiterte sich auf. «Hey, das ist eine fabelhafte Idee, Schatz. Du ziehst für die nächsten zwei Monate zu Nora. Und wenn das Baby da ist, kommst du wieder nach Hause. So haben alle was davon.»
Die Frau sah hinab auf ihre klobigen Hände, die einander umklammerten, als fürchteten sie das Alleinsein. Ganz langsam nickte sie. «Okay. Ich rufe sie an.»
Der Mann seufzte erleichtert, gab seiner Frau einen zarten Kuss auf die Stirn, stand auf und streckte Caine eine Hand entgegen. «Vielen, vielen Dank, Doktor.»
«Es war mir ein Vergnügen», sagte Caine, selbst erleichtert darüber, dass dieses bizarre Gespräch beendet war. «Ich wünsche Ihnen alles Gute.»
«Danke», sagte der Mann, der Caine immer noch energisch die Hand schüttelte.
Als er seine Frau dann zum Ausgang geleitete, begann sie ihm einzuschärfen, er solle von der Arbeit aus einmal stündlich anrufen. Sie ließ ihn immer wieder ihre Handynummer aufsagen, damit klar war, dass er sie auswendig konnte und es keine Ausreden gab, wenn sie einmal nichts von ihm hören sollte.
Caine wartete eine Minute ab, ehe er dem Pärchen nach draußen folgte, denn er fürchtete, er könnte sie versehentlich einholen und müsste dann einen weiteren Streit schlichten. Als er annehmen konnte, dass die Luft rein war, ging er die letzten zwanzig Schritte in die Freiheit. Frostig kalte Luft umwirbelte ihn, als er nach draußen kam.
Caine hasste zwar die Kälte, genoss aber, wie ihm die eisige Luft die Ohren zum Glühen brachte und durch den dünnen weißen Kittel drang. Er hatte es geschafft. Jetzt würde alles gut werden – doch dann packten ihn zwei grobe Hände beim Kragen und schleuderten ihn an die Außenmauer des Krankenhauses.
Caines Kopf prallte mit dumpfem Schlag auf den Beton, und der Schmerz schoss ihm das Rückgrat hinab. Ehe er sich wehren konnte, schloss sich ein riesenhafter Arm um seine Brust und schleppte ihn um die Ecke zu einer Brache, wo er ihn auf den gefrorenen Erdboden warf. Dann hob er Caine am Hals wieder hoch und rammte ihn an die Backsteinmauer.
Zwar konnte Caine in dem schummrigen Licht das Gesicht des Angreifers nicht erkennen, aber der Akzent des Mannes verriet ihm alles, was er wissen musste.
«Mr. Caine», knurrte Kozlov. «Ich habe Sie gesucht.»