Nichts passierte.
Caine hörte nach wie vor im Hintergrund Mick Jagger aus der Jukebox singen. Er spürte nach wie vor die harte Sitzfläche aus Holz unter sich und das dumpfe Pochen in seinem Knie, das mit jedem Herzschlag kam. Er roch nach wie vor den Dunst aus Schweiß und schalem Bier, der in der Kneipe hing. Der einzige Unterschied war, dass er jetzt nichts mehr sah. Seine Augen waren geschlossen.
Er stieß sämtliche Luft aus und versuchte dann, ganz langsam weiterzuatmen. Woran hatte er in dem Restaurant gedacht? Er wusste es nicht mehr; er hatte eine Fritte gegessen, und im nächsten Augenblick waren Doc und Peter blutüberströmt gewesen.
Sechs schnelle Klicklaute ertönten.
Zuerst glaubte Caine, die Geräusche rührten von woanders her, kämen aus seinem Inneren, aber als die Bedienung etwas sagte, begriff er, dass es nur das Klacken ihrer Absätze gewesen war.
«Darf es noch etwas sein bei Ihnen?»
«Wären Sie so nett, später nochmal zu kommen?», fragte Doc. «Wir sind hier gerade sehr beschäftigt.»
«Gern.»
Und plötzlich verschwand die Schwärze, als würde jemand langsam das Licht aufdrehen. Caine hatte die Augen immer noch fest geschlossen … und doch konnte er sehen. Und er sah nicht nur – er wusste.
…
Die Bedienung ist eine große Rothaarige mit einem tief ausgeschnittenen schwarzen Top und zu viel Make-up. Sie heißt Allison Gully, aber alle hier nennen sie Ally. Der dicke Lidschatten soll den Bluterguss verbergen, den sie von Nick Braughten hat. Sie möchte sich von ihm trennen, aber sie hat Angst.
Weil Caines Gruppe nichts zu trinken bestellt, geht sie zum Tresen zurück und flirtet mit Tim Shamus. Er ist neu hier, und sie findet ihn süß. Als Tim nachts wieder zu Hause ist, hat er Phantasien über sie. Er geht in der Wohnung auf und ab. Um vier Uhr morgens schläft er ein. Als er erwacht, steht die Sonne hoch am Himmel.
Tim kommt zu spät. Er rennt zu seinem Auto, einem schwarzen Ford Mustang Baujahr 1989. Auf dem Weg zur Arbeit schneidet er Marlin Kramer, als er in hohem Tempo eine rote Ampel überfährt. Marlin hat einen scheußlichen Tag. Er hupt kräftig und biegt in seinem Frust falsch ab. Er bleibt im Verkehr stecken und verpasst seinen Flieger nach Houston. Matt Flannery wartet am Last-Minute-Schalter und bekommt Marlins Platz neben Lenore Morrison. Sie unterhalten sich den ganzen Flug lang. Als sie landen, fragt er sie nach ihrer Telefonnummer. Sie errötet zum ersten Mal seit … sie fünfzehn ist und Derek Cohen im Kino küsst.
Matt und Lenore haben bei ihrem dritten Date Sex miteinander. Die ersten paar Male benutzen sie ein Kondom, beschließen dann aber, dass es auch ohne safe ist. Aber es ist nicht safe. Lenore ist HIV-positiv. Bei Matt wird AIDS diagnostiziert. Er stirbt allein im Krankenhaus, anstatt Beth Peterson zu heiraten und zwei Kinder und drei Enkel zu haben.
…
oder
…
Caine bestellt etwas zu trinken. Ally geht zehn Sekunden später zum Tresen zurück. Unterwegs erhaschen Aidan Hammerstein und Jane Berlent endlich ihren Blick und bestellen zwei Cocktails. Ally sagt zu Tim, er solle sich besser ein bisschen beeilen. Sie haben keine Zeit zum Flirten. Ally bringt Caine sein Getränk und Aidan und Jane ihre Alabama Slammer. Der Alkohol gibt Jane den Rest. Sie ist betrunken. Anstatt nach Hause zu gehen, beschließen Aidan und sie, noch ein bisschen um die Häuser zu ziehen. Ist schließlich ihr Geburtstag. Sie ist 25.
Sie trinkt weiter, während … Tim Shamus sich ganz gemütlich um zwei ins Bett legt; er wacht rechtzeitig auf, und Marlin Kramer kriegt seinen Flug … Jane hält auf dem Heimweg bei dem koreanischen Laden an und kauft eine Packung Marlboro Light. Es ist ihre erste Zigarette seit … sie 21 ist und zwei Enchiladas und ein Hähnchen-Taco erbricht. Der Rauch mischt sich mit dem Geruch ihres unverdauten Abendessens. Sie schwört, nie wieder eine Zigarette zu rauchen. Sie tut es auch nie wieder. Sie wird 97 Jahre alt. Seth Greenberg, der ihr von ihren sechs Urenkeln am nächsten steht, weint bei ihrer Beerdigung.
… aber jetzt, mit 25, raucht sie. Es schmeckt toll in der kalten Nachtluft. Sie fragt sich, warum sie überhaupt aufgehört hat. Sie hört nie wieder auf. Aidan kann den Rauch nicht ertragen. Es kommt zum Streit. Er hat eine Affäre mit Tammy Monroe, seiner Sekretärin. Er trennt sich von Jane. Sie geht zu einem Psychiater. Er verschreibt ihr Zoloft. Es hilft, aber nicht genug. Am Abend ihres dreißigsten Geburtstags beschließt sie, ihn damit zu begehen, dass sie zwanzig Tabletten mit einem Glas Tequila hinunterspült. Ihre Leiche wird zwei Wochen später gefunden, als Nachbarn den Geruch melden.
…
«Warten Sie!» Caine bekam kaum Luft. Er riss die Augen auf und starrte die Bedienung – Ally, sie heißt Ally – an, als hätte er ein Gespenst gesehen.
«Möchten Sie noch etwas?», fragte sie.
Über ihrer Schulter konnte Caine einen blonden Mann (Aidan) sehen, der versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Caine war wie gelähmt, er wusste nicht, was er tun sollte. Ihm war klar, dass er etwas verändert hatte. Wenn er wieder abtauchte, würde er wissen, was aus Ally, Tim, Marlin, Matt, Lenore, Aidan, Jane und Tammy geworden war/wurde/werden würde. Und aus den Leuten, deren Leben sich mit dem dieser acht Menschen kreuzte. Und aus ihrem möglichen/wahrscheinlichen/unmöglichen Nachwuchs. Und aus ihren Freunden. Und –
«Alles in Ordnung mit Ihnen?», fragte die Bedienung erneut.
«Ich … ich … äh …» Caine konnte nicht sprechen. Und auf einmal hüllte er Caine wieder ein – dieser widerwärtige Gestank von menschlichen Fäkalien, die mit verfaultem Fleisch und verdorbenem Obst durchmischt waren, bedeckt von Schimmel, mit Galle durchtränkt, wimmelnd von Maden. Während seine Augäpfel sich nach oben drehten, spürte er, wie er vorwärts fiel. Er wusste, dass er mit entsetzlichen Schmerzen aufwachen würde, weil sein Kopf der Tischkante entgegenschnellte, aber es war ihm egal; die gnädige Bewusstlosigkeit raste auf ihn zu wie ein Güterzug.
Er hörte das besorgte Aufschreien seiner Freunde. Jasper. Nava. Doc. Ihre Stimmen hallten in seinem Kopf. Und dann, obwohl bereits jedes Neuron in seinem Gehirn protestierend kreischte, begann er wieder zu sehen. Seine Augen waren geschlossen, aber die Szenen spulten sich vor ihm ab wie in einem Horrorfilm.
…
Sie leben. Sie leiden. Sie sterben.
Immer wieder bleibt Caine nichts anderes übrig, als es mit anzusehen.
Alles geschieht, auf jede nur erdenkliche Weise. Er ist sich vage bewusst, dass er im Jetzt gerade neun Sekunden lang laut schreit, was einem wie eine Ewigkeit vorkommen kann, wenn man sich im Jetzt befindet.
Aber er lernt noch etwas.
Er lernt, was das wirklich bedeutet: eine Ewigkeit.
…
Als Caine erwachte, war er nicht überrascht, pochende Kopfschmerzen zu haben.
«David, alles in Ordnung?» Das war Nava.
«Ja», sagte er und rieb sich vorsichtig den Schädel.
«Was ist passiert?», fragte Doc.
Caine öffnete den Mund, um zu antworten, aber es kamen keine Wörter raus. Er konnte kaum begreifen, was er gesehen hatte. Als Erstes waren die Bilder klar und deutlich gewesen, aber als sie sich in derselben Raumzeit überlagerten, verschmolzen sie plötzlich miteinander. Es war, als hätte er sich eine Diashow angesehen, bei der jedes neue Bild für den Bruchteil einer Sekunde auf einem leeren weißen Bildschirm sichtbar war und dann auf die Bilder projiziert wurde, die er bereits gesehen hatte. Am Ende gab es nichts als ein Übereinander von Bildern, die eine formlose Schwärze schufen.
Ihm war klar, dass er seine Vision beim Verlassen der Kneipe nahezu vergessen haben würde; sein Gehirn konnte wahrscheinlich gar nicht alles behalten. Er spürte bereits, wie das Wissen seinem Bewusstsein entglitt und in den Abgrund rutschte. Und es war ihm recht. Wenn er nicht mehr wusste, brauchte er auch keine Entscheidungen zu fällen.
Er hatte keine Ahnung, wie er mit so viel Verantwortung, so vielen Wahlmöglichkeiten leben sollte. Selbst wenn er beschloss, sich auf eine einsame Insel zurückzuziehen, würden seine Handlungen sich durch das Universum ausbreiten wie Wellenringe. Die banalste Entscheidung würde den einen leben, den anderen sterben lassen. Er konnte das nicht ertragen.
«Ich kann das nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht», murmelte Caine immer wieder.
«Du kannst was nicht?», fragte Jasper.
«Ich kann das nicht entscheiden. Es steht mir nicht zu. Wer bin ich, dass ich –»
Jasper verpasste ihm eine Ohrfeige. «Du bist David Caine.»
«Aber wenn ich etwas falsch mache?», fragte Caine. Er hatte nur Augen für seinen Bruder. Es war, als existierten Nava und Doc nicht mehr.
Jasper lächelte. «Dann machst du es eben falsch, kleiner Bruder. Selbst wenn du gar nichts tust, ist das eine Entscheidung. Du kommst nicht umhin, dich zu entscheiden.»
«Aber es kann so viel schief gehen – es wird so viel schief gehen.»
«Das lässt sich leider nicht vermeiden», sagte Jasper. «Aber versuchen musst du es.»
Caine nickte. Er erinnerte nicht mehr viel von dem, was seiner Vision nach geschehen würde. Aber er wusste dennoch, was er zu tun hatte. Er war sich nicht sicher, ob es das Richtige war – tatsächlich wusste er mit Bestimmtheit, dass er sich möglicherweise irrte –, aber die Chance, dass er Recht hatte, war größer. Er konnte nur eines tun: den Pfad mit der geringsten Fehlermenge einschlagen. Was anschließend passierte, lag außerhalb seiner Kontrolle.
Caine holte tief Luft und wandte sich an Nava. «Wir müssen hier weg», sagte er. «Gibt es irgendeinen geeigneten Unterschlupf für uns?»
«Ja», antwortete Nava prompt. «Ich weiß einen.»
«Wo?», fragte Caine.
«Werden Sie sehen, wenn wir dort sind.»
«Nein», sagte Caine. «Ich muss es jetzt wissen.»
«Ich glaube nicht –»
Caine griff über den Tisch und packte ihre Hand. «Nava, Sie müssen mir vertrauen. Es ist wichtig, dass ich es weiß. Wohin bringen Sie uns? Sagen Sie’s mir.»
Nava sah ihm forschend in die Augen. Wonach sie auch gesucht hatte, sie schien es gefunden zu haben, denn sie beantwortete seine Frage ohne weiteren Protest. Caine schloss für eine Sekunde die Augen und öffnete sie wieder.
«Gut», sagte er. «Ich muss auf die Toilette. Danach sollten wir aufbrechen.»
Caine stand auf und hinkte zu dem langen Flur am anderen Ende des Tresens. Als er sicher war, dass ihn niemand sehen konnte, nahm er den Hörer von dem Münztelefon gegenüber der Herrentoilette ab. Genau in diesem Augenblick fiel ein Schatten auf den Boden. Es war Doc. Caine legte einen Zeigefinger an die Lippen. Er wollte nicht, dass Doc den Anruf Nava gegenüber erwähnte. Doc nickte und verschwand in der Toilette.
Caine wusste die Nummer von vor drei Tagen noch. Das Telefon klingelte lange, bevor der Mann ranging.
«Hallo, Peter. Hier ist David Caine.» Er schloss kurz die Augen, versuchte die richtigen Worte zu finden. «Bitte hören Sie mir ganz genau zu, ich habe nicht viel Zeit.»
«Hallo, James.» Forsythe erkannte sofort Tverskys Stimme am anderen Ende der Leitung. «Ich habe gehört, Sie suchen nach mir.»
«Wie kommen Sie denn darauf?», fragte Forsythe.
«Verschwenden wir nicht unsere Zeit. Ich weiß, was Sie suchen, und ich kann es Ihnen beschaffen – wenn die Bezahlung stimmt.»
«Sie haben nichts, was ich brauche.»
«Auch nicht David Caine?»
«Sprechen Sie weiter», sagte Forsythe und versuchte, nicht zu interessiert zu klingen.
«Ich weiß, wo er sich um achtzehn Uhr aufhalten wird.» Forsythe sah auf die Uhr – das war in vierzig Minuten. Er räusperte sich.
«Was möchten Sie denn dafür haben?»
Sie stiegen in einem Teil von Brooklyn aus der U-Bahn, den Caine nicht kannte. Viele Läden hatten hebräische Namen. Die Männer trugen schwarze Mäntel, schwarze Hüte, schwarze Bärte. Doc schmunzelte. Caine musste zugeben, dass er sich spielend leicht auf neue Gegebenheiten einstellte. Das hatte ihm schon immer an Doc gefallen: Ihn überraschte gar nichts.
«Das Gesetz der großen Zahlen», hatte Doc einmal zu ihm gesagt. «Überraschend wäre doch nur, wenn jedem Menschen zur exakt gleichen Zeit etwas Merkwürdiges passieren würde. Da ich aber die Dinge nur aus meinem Blickwinkel wahrnehme, muss ich davon ausgehen, dass jedes unwahrscheinliche Ereignis, mit dem ich konfrontiert werde, nicht auch allen anderen Bewohnern dieses Planeten widerfährt. Solange also die Chance seines Eintretens mehr als eins zu sechs Milliarden beträgt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendjemandem passiert, bei nahezu hundert Prozent, und was ist an einem Ereignis, das mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit eintritt, noch groß überraschend?»
Nava führte sie durch unzählige dunkle Gassen, bis sie so weit von der Straße entfernt waren, dass Caine sie kaum noch hören konnte. Als sie bei der dritten Tür ankamen, stieg Nava die Stufen hinauf und klopfte viermal. Eine Klappe in der Tür öffnete sich und enthüllte zwei misstrauisch blickende dunkelbraune Augen. Aber kaum fiel ihr Blick auf Nava, da flog die Tür auf.
«Meine kleine Nava!», rief ein Bär von einem Mann. Er nahm Nava hoch in seine behaarten Arme und drückte sie so fest, dass Caine schon glaubte, sie würde zerbrechen. Die beiden redeten hektisch auf Hebräisch miteinander, und allmählich verschwand das warme Lächeln des Mannes. Schließlich drehte Nava sich zu den anderen um.
«Das ist Eitan», sagte sie und zeigte zu dem Hünen. «Eitan, das sind David, Jasper und Doc.»
«Erfreut, Sie kennen zu lernen», sagte Eitan mit schwerem Akzent auf Englisch. Er schüttelte Caine fest die Hand. «Navas Freunde sind auch meine Freunde.» Er trat von der Tür zurück und winkte sie herein. «Bitte, Sie sind meine Gäste.»
Im Gegensatz zu der verdreckten Gasse war es in der Wohnung überraschend gemütlich. Ein oranger Teppich bedeckte den Steinboden. Ein hellgelbes Sofa, das in der Mitte stark durchhing – eindeutig Eitans Lieblingsplatz – stand vor einer Wand, an der Familienfotos hingen. Neben dem Sofa stand ein Schaukelstuhl aus Holz, auf dem handgemachte Kissen lagen.
«Bitte nehmen Sie Platz, ich hole etwas zu essen.» Eitan stampfte davon. Caine manövrierte sich den langen Couchtisch aus Holz entlang und setzte sich auf das Sofa. Die Sprungfedern quietschten leise, aber Caine ging davon aus, dass sie weit mehr aushielten als seine achtzig Kilo.
Eitan kehrte mit einem Teller Fladenbrot, einer Schale Humus und vier Glas Eistee zurück. Caine machte sich über das Essen her, während Eitan und Nava eine Zigarette rauchten. Die beiden alten Verbündeten plauderten auf Hebräisch, und Caine versuchte so zu tun, als ob alles in bester Ordnung war; dabei wusste er, dass ihm nicht mehr viel Zeit mit seinen Freunden blieb.
«Sie ist dort.»
«Sehr gut. Ist sie allein?»
«Nein. Es sind noch drei andere dort, dazu ihr Kontakt.»
«Den Kontakt töten. Dann sie zu mir bringen.»
«Verstanden.» Choi Siek-Jin machte sein Handy aus. Es war dunkel in der Gasse, also nahm er seine verspiegelte Sonnenbrille ab. Das Schloss an der Hintertür war ein besseres Spielzeug; es dauerte keine Minute, dann war er drin. Er konnte ihre Stimmen vom anderen Ende der kleinen Wohnung hören, aber er ging nicht in ihre Richtung. Stattdessen wartete er in der Küche.
Irgendwann würde der Dicke schon kommen. Und dann war Siek-Jin bereit.
«Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?», fragte Eitan und zeigte auf die fast leere Schale Humus.
«Das war mehr als genug-Zug-Lug-Trug», sagte Jasper. «Vielen Dank.»
Eitan lächelte und tat so, als hätte er Jaspers merkwürdige Angewohnheit nicht bemerkt. «Möchten Sie noch etwas Wasser? Oder vielleicht ein Glas Wein?»
«Ich hätte gerne noch etwas Eistee», antwortete Doc.
«Gern», sagte Eitan und griff sich Docs leeres Glas. «Bin gleich wieder zurück.»
Als Eitan den Raum verließ, verspürte Caine ein dumpfes Gefühl. Während er zusah, wie der Gastgeber in Richtung Küche ging, hatte Caine plötzlich das dringende Bedürfnis, ihn aufzuhalten. Aber ein untrüglicher Instinkt hielt ihn davon ab. Hätte er es früher gewusst, dann hätte er verhindern können, was gerade geschah.
Aber jetzt war es zu spät. Er musste der Welt ihren Lauf lassen.
Siek-Jin hielt einen Finger an die Lippen. Vor Angst gelähmt, stand Eitan da, die Augen weit aufgerissen, und starrte die riesige Waffe an, die auf seinen Kopf gerichtet war. Siek-Jin bedeutete Eitan mit einer knappen Handbewegung, das leere Glas abzustellen. Eitans Hände zitterten fürchterlich, aber er schaffte es, das Glas heil auf die Arbeitsfläche zu stellen.
Siek-Jin hielt den Mann mit der Waffe weiterhin in Schach, beschrieb mit der Hand eine Kreisbewegung und zeigte dann zum Boden. Eitan gehorchte. Er drehte sich um und sank auf die Knie, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Siek-Jin zog sein Messer und fuhr Eitan mit der Klinge in einer flüssigen Bewegung über die Kehle. Der Mann gab ein leises Gurgeln von sich und griff sich an den Hals, dann stach Siek-Jin ihn ins Kreuz.
Das Messer in der einen Hand und seine Pistole in der anderen, fing Siek-Jin den leblosen Körper auf und ließ ihn zu Boden sinken. Nachdem er die Klinge an Eitans Hemd abgewischt hatte, schob Siek-Jin sie wieder in die Scheide. Ihm war klar, dass er mit Vaner nicht auch nur annähernd so leicht fertig würde. Eine Hand würde er mit Sicherheit frei haben müssen.
Caine schloss die Augen und versuchte, sich an die Zukunft zu erinnern. Diesmal passte er auf, dass er den Pfad nicht zu weit hinunterging, dann öffnete er die Augen wieder und kehrte ins Jetzt zurück.
«Wir müssen das Sofa vor die Tür stellen», sagte Caine und stand mühsam auf. «Das Bücherregal auch.»
Kommentarlos ergriffen Nava und Jasper jeder ein Ende des Sofas und stellten es vor der Tür ab. Doc kümmerte sich um das Bücherregal. Als sie fertig waren, traten die vier zurück und bewunderten ihr Werk. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen durch das kleine Fenster dicht unter der Decke. Als sie Navas Gesicht erhellten, spürte Caine die Woge eines Déjà-vus.
Er bückte sich rasch und zog den Stecker einer Leselampe aus der Wand. Sie war klein, aber massiv. Er nahm sie wie eine Keule in die Hand. Sie würde reichen. Als Caine sich dem Flur zuwandte, hoffte er, dass sein Instinkt ihn gleich nicht im Stich lassen würde. Falls doch, bestand die 97,5329-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass Nava starb.
«Ich habe freie Schussbahn auf ihren Kopf.»
«Stopp», befahl Crowe. «Ich will, dass du sie nur anschießt.»
«Aber –»
«Jim, ich gebe hier den Ton an, verstanden?»
«Verstanden», grollte Dalton. Crowe hatte echt Nerven, ihn über einen offenen Kanal anzuwichsen. Das würden ihm Rainer und Esposito tüchtig reindrücken, wenn alles vorbei war.
«Leary, bist du in Position?»
«Hintertür ist gedeckt», ertönte Learys Stimme im Kopfhörer.
«Jim, Schussbahn immer noch frei?»
«Bestätigt», antwortete Dalton und betrachtete Navas Gesicht im Zielfernrohr. War doch scheißegal, was Crowe sagte – er würde dieses hinterhältige Dreckstück umlegen. Ein bisschen Leid tat es ihm dennoch. Die Jungs und er hätten eine Menge Spaß mit ihr haben können. Zu schade, dass er ihr eine Kugel zwischen die funkelnden Augen jagen musste – andererseits auch nicht so schade, dass er zögern würde, wenn es Zeit zum Abdrücken war.
«Irgendetwas stimmt nicht», sagte Nava. «Eitan. Er ist schon zu lange weg.»
Bevor Nava nach ihrer Glock greifen konnte, tauchte der koreanische Killer im Flur auf, die Pistole auf ihren Kopf gerichtet. «Nicht», sagte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. «Chang-Sun will Sie lebend.»
Navas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Die Blutspritzer auf der Hose des Koreaners besagten, dass Eitan bereits tot war. Obwohl der Feind nur drei Meter weit weg war, hätte die Entfernung ebenso gut einen Kilometer betragen können. Sie kam unmöglich an ihn heran, bevor er sie erschoss.
Es war vorbei.
«Anschuss Vaner in fünf», sagte Dalton leise ins Mikro. Er holte tief Luft und hielt sie an, während er den Countdown durchsagte. Ruhig zielte er mit dem Fadenkreuz auf Vaners Gesicht.
«Vier.»
Der waagerechte Faden durchschnitt ihre Augen, während der senkrechte ihre Nase in der Mitte teilte. Ihr Gesicht bestand nun aus vier Quadranten.
«Drei.»
Er spannte den Finger am Abzug an.
Er machte sich für den Rückstoß des Hochleistungsgewehrs bereit.
«Eins.»
Das Gewehr knallte und versuchte ihm aus dem festen Griff zu springen, zurückgestoßen von dem 7,62-mm-Geschoss, das mit 335 Metern in der Sekunde durch die Luft peitschte, genau auf Nava Vaners Gehirn zu.
Im selben Moment warf Caine mit der Lampe nach dem koreanischen Killer. Doch bevor die Lampe ihr Ziel treffen konnte, trat Siek-Jin seelenruhig beiseite, bewegte sich einen halben Meter nach links – genau, wie Caine es vorhergesehen hatte.
Nava war plötzlich von einer dunkelbraunen Silhouette verdeckt, in der es rot explodierte. Jemand war in die Schussbahn getreten. Wenn dieser Jemand David Caine war, dann saß Dalton tief in der Scheiße. Er verwarf den Gedanken, als die Silhouette außer Sicht geriet. Vaner war immer noch in Position, aber ihrem Blick nach zu urteilen, nicht mehr lange.
Dalton schoss den Clip auf ihren Kopf leer und hoffte auf das Beste.
Ein wildes Brausen ging durch die Luft, gefolgt von einem kurzen Knirschen. Auf einmal zerplatzte das Fenster und versprühte Glassplitter im Zimmer, während der Koreaner vornüber auf den Couchtisch krachte. Auf seiner Stirn gab ein Loch von der Größe eines Baseballs den Blick auf das graue, rot besudelte Fleisch seines Gehirns frei. Nava handelte, ohne zu denken, warf sich durch den Raum und riss Caine zu Boden.
«RUNTER!», kreischte sie, und im selben Moment erschienen hinter der Stelle, wo sie gestanden hatte, zwei Löcher in der Wand. Dann hörte sie ein Krachen, als Teile der Tür in den Raum barsten. Die Tür wäre ganz aufgeflogen, hätten das Sofa und das Regal den Angriff nicht noch kurz gebremst. Nava blieben noch wenige Sekunden, bevor es zu spät war.
Sie sah auf Caine hinab, der unter ihr lag, die Augen geschlossen, und schwer atmete.
Caine wusste, ihm blieben noch 15,3 Sekunden. Zumindest glaubte er das zu wissen. Einen Moment lang sah er sie vor sich, die eine Million Verzweigungen der Wahrscheinlichkeit, die von diesem Moment abgingen. Er konnte jede einzelne austesten und eine Ewigkeit damit verbringen, ihre jeweilige Zukunft durchzuspielen, je nachdem, welche von unendlich vielen Entscheidungen getroffen worden war. Viele führten zu seinem Tod, alle, bis auf ganz wenige, zu dem von Nava. In einer verschwindend kleinen Anzahl von Möglichkeiten ergab sich alles so, wie Caine es anstrebte.
Jeder Pfad besaß eine unendliche Zahl von Abzweigungen, die oft entsetzliche Auswirkungen darstellten, die er aber unmöglich alle ausloten konnte. Mit mehr Zeit hätte er eine bessere Wahl treffen können, aber er musste schnell handeln. Nur noch 13,7 Sekunden. Er wählte den Pfad, der ihm am wenigsten falsch erschien, verließ sich dabei halb auf sein Wissen und halb auf sein Gefühl.
«Es tut mir Leid, Nava», sagte Caine, die Augen noch immer geschlossen.
Bevor sie antworten konnte, packte er sie bei den Armen, drehte sie auf den Rücken und stieß ihren Kopf fest auf den Boden. Das Geräusch, mit dem ihr Schädel gegen den Beton krachte, erinnerte sie an einen Schuss.
Dann wurde alles schwarz.
Caine sah zu Jasper und Doc hinüber, die versuchten, ihre improvisierte Barrikade zusammenzuhalten; er hatte ihnen noch so viel zu sagen, aber er hatte nur noch 9,2 Sekunden.
Er kroch rasch zu Siek-Jins zerstörtem Kopf hinüber, zog mit Mühe sein geschientes Bein hinter sich her. Angesichts dessen, was ihm bevorstand, überkam ihn Übelkeit, aber er wusste, dass die Zeit lief, also folgte er einfach dem Pfad. Er griff in Siek-Jins Schädel und schaufelte Gehirnmasse heraus, bildete mit seinen Händen eine Schale, um so viel Blut wie möglich abzuschöpfen. Die Wärme der Masse verblüffte ihn – als hätte er seine Hand in heiße Lasagne getaucht. Ihm drehte sich fast der Magen um, aber Caine machte weiter.
Auf den Ellbogen schob er sich zurück, passte auf, dass sein Knie sich nicht verdrehte. Irgendwie schaffte er es, nicht die Fassung zu verlieren, während er seine grausige Ladung zu Nava hinübertrug. Bei ihr angekommen, rieb er ihr Gesicht und Haare damit ein. Ein genauer Blick würde erweisen, dass das Blut und die graue Masse nicht von ihr stammten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand richtig hinsah, lag bei nicht einmal 2,473 Prozent.
Caine griff sich Navas Rucksack und humpelte zur Küche, schloss die Tür hinter sich. 1,3 Sekunden noch, dann platzten vier Soldaten in den Raum.
…
Sie heißen Martin Crowe, Juan Esposito, Ron McCoy und Charlie Rainer. Jeder ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet; kugelsichere Westen bedecken ihre Brustkörbe. Ihre Gesichter sind hinter den getönten Scheiben ihrer Helme nicht zu erkennen.
«Runter, los!», bellt Rainer, obwohl alle bereits flach auf dem Boden liegen.
…
Caine trat über den toten Eitan hinweg, der in einer Blutlache auf dem Küchenboden lag; dann nahm er einen langen schwarzen Mantel und einen Hut vom Wandhaken und öffnete die Hintertür. Die Augen ließ er geschlossen. So fiel ihm das Sehen leichter.
…
Esposito schleudert Doc gegen die Wand.
Ein schwerer Stiefel tritt Jasper ins Kreuz, während ihm die Mündung einer Pistole gegen den Schädel gestoßen wird. Als Crowe den ausgeblichenen blauen Fleck auf Jaspers Wange sieht, weiß er, dass es sich nicht um den Zwilling handelt, den er haben will. Ein rascher Blick durchs Zimmer sagt ihm, was er wissen muss.
«Leary, Zielperson zu dir unterwegs.»
«Schon zu sehen.»
…
«Stehen bleiben!»
Caine zwang sich dazu, weiterzugehen, seine Angst zu unterdrücken. Der Mann (Mark Leary) bewegte sich langsam rückwärts, die Waffe noch immer auf Caines Oberkörper gerichtet, genau wie in Caines Vision.
«Stehen bleiben, oder ich schieße!», rief der Mann.
«Tun Sie nicht», sagte Caine. Die Augen noch immer geschlossen, hob er Navas Glock 9mm und
…
zielt und drückt ab. Die Kugel durchschießt Learys Wade, aber sie stoppt ihn nicht. Er holt mit der Pistole aus und schlägt sie Caine über den Schädel –
zielt und drückt ab. Die Kugel verfehlt Leary völlig, prallt vom Pflaster ab. Leary springt vor, packt Caine –
(Schleife)
zielt und drückt ab. Die Kugel fährt Leary in den Fuß. Er stolpert, fuchtelt wild mit den Armen, reißt Caine mit um –
(Schleife)
zielt und drückt ab.
…
Die Kugel fuhr Leary ins Bein, zerschmetterte seinen Oberschenkelknochen und zerfetzte beim Austritt den Hinterschenkel. Leary fiel rückwärts um, brüllend vor Schmerzen. Caine stapfte weiter, wich dem gestürzten Söldner nur leicht nach links aus. Er verließ die Gasse und setzte den schwarzen Hut auf.
In der Sekunde, als er Leary am Boden liegen sah, rannte Crowe los, aber es war zu spät. Als er um die Ecke bog, war Caine nirgendwo mehr zu sehen. Auf der Straße wimmelte es von chassidischen Juden – die schwarz gekleideten Männer sahen in seinen Augen alle gleich aus.
«So eine verfluchte Scheiße!», schrie er. Er starrte ins Gewimmel und wollte nicht wahrhaben, was er doch wusste – David Caine war entkommen.
Er wandte sich um und ging ins Haus zurück. Der Menge Hirn nach zu urteilen, die überall an Vaners Kopf klebte, war die Frau tot, ebenso der Asiate, der neben ihr lag. Crowe hielt sich nicht damit auf, den Puls zu überprüfen. Nicht zu fassen, dass Dalton sie beide getötet hatte. Das würde ein Nachspiel haben. Wenigstens der Zwilling lebte noch; er und der Doktor standen an der Wand.
«Rainer, schaff die beiden in den Lieferwagen», befahl Crowe. «McCoy, du gehst nach hinten und hilfst Leary. Dann –» Er brach ab, als er das Heulen der Sirenen hörte. Es klang, als raste eine ganze Flotte von Streifenwagen herbei. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Crowe wollte den hiesigen Cops auf gar keinen Fall die beiden Leichen erklären müssen. Wichtig war nur, sich die anderen zu packen und zu verschwinden.
«Ihr habt zwanzig Sekunden. Esposito – gib warm, wenn du rausgehst.»
Seine Männer wussten, was sie zu tun hatten. Esposito brachte Sprengstoff an den gegenüberliegenden Wänden an und bestückte ihn mit elektronischen Zündern. Crowe hatte keine Sorge, dass Beweismaterial übrig bleiben würde – ihm war noch nie ein Bombenleger begegnet, der lieber zu wenig C-4 nahm als zu viel, und Juan Esposito war gewiss keine Ausnahme.
Sie waren gerade mit ihren beiden Gefangenen der Wohnung entkommen, als Crowe ein gedämpftes Wuumm vernahm, gefolgt von einer gewaltigen Detonation. Wenn Polizei und Feuerwehr dort ankamen, würde nichts übrig sein als zwei verkohlte Leichen und jede Menge offener Fragen.