Während Dr. Tversky die Datenausbeute seiner jüngsten Experimente begutachtete, dachte er über Julia nach. Sie war in letzter Zeit stets lächelnd und vergnügt durchs Labor geflattert, ein himmelweiter Unterschied zu der Schüchternheit, die sie in ihren ersten beiden Jahren hier im Labor an den Tag gelegt hatte. Bald würden die Leute Verdacht schöpfen – wenn sie es nicht längst schon hatten.
Doch das kümmerte ihn nicht sonderlich; schließlich legten Professoren schon seit Anbeginn der Zeit ihre Doktorandinnen flach. Und solange man dabei diskret vorging, scherte sich die Univerwaltung nicht darum, ja, sie erwartete gar nichts anderes; es zählte zu den unausgesprochenen Privilegien eines Professors.
Das sagte er Julia natürlich nicht. Sie war ein bisschen naiv, was den Lauf der Welt anging, und er spürte, dass sie die Heimlichkeit ihrer Affäre sehr prickelnd fand, und daher tat er, was er konnte, um ihre Phantasie zu beflügeln. Der Sex mit ihr war in Wirklichkeit gar nicht so besonders. Sie war willig, aber plump – ließ beim Blasen viel zu sehr Zähne und Fingernägel spüren, und wenn er sie bestieg, lag sie nur da wie ein Sack Kartoffeln und grinste blöd. Und wie sie darauf beharrte, ihn «Petey» zu nennen, wenn sie alleine waren. Ihn schauderte schon beim Gedanken an diesen pubertär anmutenden Kosenamen.
Nach einem Monat hatte er beschlossen, die Sache zu beenden, doch dann war ihm klar geworden, dass dieser schwere Fall von jugendlicher Schwärmerei eine einmalige Gelegenheit darstellte. Sie hatte zunächst gezögert, an dem Menschenversuch teilzunehmen, aber als er ihr erklärte, wie wichtig es für ihn sei, willigte sie bald ein. Die bisherigen Ergebnisse waren geradezu extraordinär. Es war unglaublich, was er Julia während ihrer Dämmerzustände für Informationen entlocken konnte. Er vermutete, dass er aus ihr sogar noch mehr herausholen konnte, sorgte sich aber um die möglichen Nebenwirkungen der Behandlungen.
Zwar machte sie größtenteils einen guten Eindruck, aber dass sie neuerdings ständig Reime bildete, war ziemlich Besorgnis erregend. Solche chaotischen Sprachmuster waren erste Anzeichen für Schizophrenie. Ihm war klar gewesen, dass er mit der Veränderung ihrer Hirnchemie ihre geistige Stabilität gefährdete, aber er war erstaunt, dass es so schnell geschah. Das war es aber wert, wie auch immer die Risiken für Julia aussahen.
Denn wenn es ihm gelang, die Experimente zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, war es nicht Julias Sicherheit und Wohlergehen, um das er sich Sorgen machen musste – sondern sein eigenes.
Dr. James Forsythe wusste seit jeher, dass er nicht brillant war.
Doch der dünne, kahlköpfige, bärtige Mann wusste auch, dass Brillanz gar nicht unbedingt notwendig war, wenn man ein großer Wissenschaftler werden wollte. Es war natürlich sehr hilfreich, über einen scharfen Verstand zu verfügen – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Alles, was darüber hinausging, wirkte sich normalerweise eher nachteilig aus. Der typische Wissenschaftler war ein Introvertierter, der es mangels Sozialkompetenz in der wahren Welt zu nichts brachte, und Forsythe war froh, dass er nicht zu diesen Menschen zählte.
Wenn er einen seiner Forscher sagen hörte, Forsythe sei kein richtiger «Mann der Wissenschaft», lächelte er. Forsythe wusste zwar, dass das eine Beleidigung sein sollte, fasste es aber als Kompliment auf. Schließlich waren die so genannten «genialen» Wissenschaftler lediglich die Arbeiterbienen des STR-Labors, wohingegen Forsythe der Direktor war.
Obwohl das Science and Technology Research-Labor der Regierung der USA unterstand, wussten die meisten Zivilisten nichts von seiner Existenz, und das war wahrscheinlich auch besser so. Das Labor selbst gab es erst seit zwanzig Jahren, aber eigentlich reichte seine Geschichte zurück bis ins Jahr 1952, als Präsident Truman mit der Unterzeichnung der National Security Council Intelligence Directive die National Security Agency gegründet hatte.
Anfang der Achtzigerjahre hörte die NSA Tag für Tag in über 130 Ländern über 250 Millionen Gespräche ab. Obwohl die Mission eigentlich darin bestand, nur Gespräche auszuwerten, die für die nationale Sicherheit von Belang waren, und alles andere zu ignorieren, konnte die NSA, wenn sie etwas Interessantes aufschnappte, es sich nicht verkneifen zuzuhören – wie ein kleiner Junge, der einen Telefonhörer abnimmt und seinen älteren Bruder Sexgeschichten erzählen hört.
Bald rang die Führungsebene der NSA mit sich, was sie mit all diesen vielfältigen Informationen anfangen sollte – zumal den wissenschaftlichen Daten. Es war dann der Chef der Kryptographischen Abteilung, der sich eine Lösung einfallen ließ. Ihm schwebte vor, dass ein Forschungslabor eingerichtet werden sollte, das die Daten, die man bei Wissenschaftlern in aller Welt gesammelt hatte, entschlüsseln, analysieren und interpretieren sollte, sodass kein Land die USA jemals in puncto Fortschrittlichkeit würde übertreffen können.
Als man diesen Plan dem Weißen Haus unter Ronald Reagan als weiteres Mittel anbot, die kommunistischen Regime der Welt genau im Auge zu behalten, griff die Regierung den Vorschlag bereitwillig auf. Und so wurde am 13. Oktober 1983 das Science and Technology Research-Labor gegründet.
Ursprünglich bespitzelte die STR nur ausländische Wissenschaftler. Doch als der Kalte Krieg zu Ende ging und das Internet immer mehr internationale Kooperationen ermöglichte, spionierte die STR zusehends auch einheimische Wissenschaftler aus. Zu diesem Zeitpunkt profitierte die amerikanische Regierung schon viel zu sehr von den Forschungen der STR, um sich groß darum zu kümmern.
Das «Forschungsverfahren» der STR war ganz einfach. Die Analytiker überflogen Abertausende Seiten Forschungsberichte aus Großrechnern aus aller Welt und markierten sämtliche interessanten neuen Technologien, denen die Wissenschaftler der STR dann auf den Grund gingen. Sie wiederholten die entscheidenden Experimente und ermittelten so den Grad der Realisierbarkeit neu entwickelter Techniken.
War eine neue Technik erst einmal validiert, so leitete die STR die Informationen an die entsprechenden staatlichen Stellen weiter. Stammte die Technik jedoch aus dem Ausland und war sie kommerzieller Natur, so spielte man die Informationen den zwei oder drei von der Regierung gerade favorisierten multinationalen Konzernen mit Hauptsitz in den USA zu. Bald wurde die STR zur weltweit einflussreichsten Clearingstelle für neue Technologien.
Als Forsythe 1997 das Amt des Direktors antrat, war er verblüfft darüber, wie viel Geld und politisches Kapital ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte. Die STR kontrollierte die Weitergabe gestohlener technologischer Informationen an nicht weniger als sechs staatliche Stellen (die CIA, das Verteidigungsministerium, das FBI, die Verbraucherschutzbehörde FDA, die NASA sowie die National Institutes of Health) und auch eine Hand voll der innovativsten Unternehmen des Silicon Valley. Das einzige Organ, das Forsythe und seine «Kunden» überwachte, war das Aufsichtsgremium der STR, das sich aus drei Senatoren zusammensetzte, denen durchaus bewusst war, welche Macht ihnen dieser Posten verlieh.
Forsythe war klar, dass er wahre Macht nur erlangen konnte, wenn er alleiniger Entscheidungsträger war. Dazu musste er das Aufsichtsgremium unter seine Kontrolle bringen. Damals gewann Forsythe einen ungewöhnlichen Verbündeten bei seinem Streben nach Macht: einen schmierigen jungen Hacker von der NSA namens Steven Grimes. Binnen zweier Wochen beschaffte Grimes Informationen, die das Gremium, das geleitet wurde von Geoffrey Daniels, einem Senator aus Utah, für Forsythes Empfehlungen sehr viel empfänglicher machten.
Zwar war Grimes’ übermächtiges Verlangen, andere zu überwachen, beunruhigend, aber sein Voyeurismus und seine Neugierde erwiesen sich als ausgesprochen nützlich. Forsythe hatte immer noch keine Ahnung, wie Grimes an die Fotos gelangt war, die Daniels mit einem kleinen Jungen zeigten, und ehrlich gesagt wollte er es auch gar nicht wissen. Es zählte einzig und allein, dass Senator Daniels, nachdem er diese Fotos gesehen hatte, sehr gern bereit war, Forsythes «Vorschläge» zu befolgen.
Auch John Simonson, der jüngste Senator des Gremiums, wurde viel umgänglicher, nachdem Grimes herausgefunden hatte, dass Simonson über eine Firma auf den Cayman-Inseln Steuerhinterziehung betrieb. Nun schlug das Gremium Forsythe keinen Wunsch mehr ab. Zwar gab es bei den Entscheidungen immer eine Gegenstimme, aber die Mehrheit war alles, was Forsythe brauchte, und das war auch gut so, denn es war Grimes nie gelungen, etwas über den dritten Senator herauszufinden, einen ultrareligiösen Rechten aus Louisiana.
Seit fast sechs Jahren kontrollierte Forsythe nun das Aufsichtsgremium der STR und machte auch keinen Hehl daraus, forderte von Vorstandsvorsitzenden wie von leitenden Beamten Gefälligkeiten und Geld ein und erhielt beides. Es war ein herrliches Leben. Doch nun ging das alles zu Ende, durch das vorzeitige Ableben Senator Geoffrey Daniels’, der im Schlaf einem Herzstillstand erlegen war.
Als Forsythe aus den Nachrichten von Daniels’ Tod erfahren hatte, hatte er leise geflucht. Er wusste, dass Daniels’ Nachfolger Senator John «Mac» MacDougal sein würde, ein Liberaler aus Vermont. Zwei Jahre zuvor hatte sich MacDougal vergeblich um einen Sitz im Aufsichtsgremium beworben, und seitdem hatte er auf die nächste Gelegenheit gelauert. Forsythe war sich sicher, dass MacDougal bereits alle Hebel in Bewegung setzte, um auf diesen Posten zu gelangen.
Da er vorausgesehen hatte, dass MacDougal eines Tages sein Ziel erreichen würde, hatte Forsythe Grimes als Präventivmaßnahme Belastungsmaterial suchen lassen. Dummerweise fand der Hacker lediglich heraus, dass ein Cousin MacDougals, der in der pharmazeutischen Industrie tätig war, auf Staatsaufträge hoffte.
Als Forsythe an diesem Morgen ins Labor kam, lag bereits eine Nachricht aus MacDougals Büro vor, in der um ein Treffen gebeten wurde. Da wusste Forsythe, dass er seinen Posten spätestens zum Monatsende los war. Ihm war immer bewusst gewesen, dass er diese Position nicht ewig innehaben würde, aber er war davon ausgegangen, dass es mindestens bis zu den nächsten Wahlen zum Senat noch so weitergehen konnte.
Glücklicherweise traf es ihn nicht gänzlich unvorbereitet. Im Laufe der vergangenen Monate hatte er zwölf Millionen Dollar aufgetrieben, um damit ein eigenes Forschungslabor zu eröffnen. Risikokapitalgeber stellten nur selten wie im Fall Forsythes Blankoschecks aus – aber andererseits bot sich ihnen ja auch nur selten die Gelegenheit, einen Mann wie Forsythe zu finanzieren – jemanden, der buchstäblich über Tausende durchführbare Pläne verfügte.
Das Problem war nur, dass Forsythe immer davon ausgegangen war, dass ihm noch mindestens ein Jahr blieb, um die perfekte Idee zu finden. Nun hatte er dafür nicht einmal mehr einen Monat. Aber er konnte es dennoch schaffen. Er würde in den kommenden zwei Wochen Abstracts sämtlicher Forschungsvorhaben querlesen, bis er eine Idee entdecken würde, die es wert war, gestohlen zu werden. Und wenn er dieses Projekt erst einmal gefunden hatte, würde er die entsprechenden STR-Unterlagen verschwinden lassen, damit ihm der Staat keine Konkurrenz machen konnte.
Wie der Zufall wollte, hatte er einige Tage zuvor ein viel versprechendes Abstract gelesen. Es schilderte die illegalen Experimente eines Biometrikers, den die STR schon seit einer ganzen Weile beobachtete. Der gute Onkel Doktor hatte offenbar einer Testperson ein faszinierendes Präparat injiziert, das hochinteressante Auswirkungen auf deren Gehirnströme hatte. Forsythe wusste zwar nicht, wer das menschliche Versuchskaninchen war (das immer nur als «Testperson Alpha» bezeichnet wurde), aber er kannte den Professor.
Zufällig hatte dieser bereits beim Labor um einen Termin gebeten. Wahrscheinlich brauchte er Fördermittel. Es war perfekt. Forsythe griff zum Hörer und rief seine Sekretärin an.
«Ich möchte baldmöglichst einen Termin mit diesem Mann. Die Kontaktdaten müssten Ihnen bereits vorliegen … Ja, morgen wäre mir recht … Der Name ist Tversky.»