Forsythe kochte immer noch vor Wut angesichts der Demütigung, von zwei bewaffneten Wachen aus dem STR-Labor geführt worden zu sein. Er versuchte, sich davon freizumachen, während er in seinem neuen Büro auf und ab ging, zwei Stockwerke unter den Straßen von Manhattan. Gott sei Dank hatte er sich schon vor Monaten das Risikokapital besorgt und das Labor aufgebaut. Die komplette wissenschaftliche Ausstattung stand bereits zur Verfügung, wenn auch die Computer und die Elektrik noch nicht richtig funktionierten.
Draußen vor der Glaswand waren Grimes und seine Computerfreaks zu sehen, wie sie herumliefen und die neuen Server installierten und das Sicherheitssystem initialisierten. Wenn alles glatt ging, hatten sie innerhalb der nächsten Stunde alles zum Laufen gebracht.
Da klingelte sein Telefon. Obwohl Forsythe den Anruf dringend erwartet hatte, schrak er hoch. Er griff zum Hörer und unterbrach damit das schrille Klingeln. «Haben Sie ihn?»
«Nein. Sie wussten, dass wir kommen. Die Tür war verbarrikadiert, und die Zielperson hatte sich bereits einen Fluchtweg zurechtgelegt.»
Forsythe fuhr sich mit der Hand über das lichte Haar. Wenigstens versuchte Crowe nicht, es schönzureden.
«Was ist mit dem Zwilling?», fragte Forsythe.
«Den haben wir. Ich hab ihm fünfzig Milligramm Amobarbital verpasst. Das sollte für die nächsten drei Stunden reichen.»
Forsythe seufzte erleichtert. «Er muss unter allen Umständen bewusstlos bleiben. Sobald er anfängt, zu sich zu kommen, verabreichen Sie ihm nochmal 25 Milligramm.»
«Verstanden.»
Nach einem unangenehmen Moment des Schweigens sagte Crowe: «Sir, David Caines Bodyguard ist tot, und wir haben seinen Bruder. Caine steht ohne Schutz da und ohne Freunde. Er dürfte bald wieder auf der Bildfläche erscheinen, und dann kommt er uns nicht mehr davon.»
«Ihr Wort in Gottes Ohr», sagte Forsythe und legte auf. Er war enttäuscht, dass sie Testperson Beta noch nicht hatten, aber Crowe hatte Recht – es war nur eine Frage der Zeit. Bis dahin konnte er mit dem Zwillingsbruder einige Tests durchführen. Wenn Testperson Beta wirklich über die Gabe verfügte, die sie bei ihm vermuteten, dann bestand aller Grund zu der Annahme, dass sein Bruder sie ebenfalls besaß.
Forsythe konnte seine Ankunft im Labor kaum erwarten, er wollte unverzüglich mit den Tests beginnen. Obwohl er bei dem Zwilling die Zwischenschritte am liebsten übersprungen und sofort einen Gewebeschnitt seines Temporallappens vorgenommen hätte, wusste er doch, dass sie noch monatelange chemische Analysen vor sich hatten, bis es so weit war. Bis dahin musste man den Zwilling voraussichtlich in einem nahezu konstanten katatonischen Zustand belassen.
Erst nachdem sie alles herausgefunden hatten, was es herauszufinden gab, würden sie seinen Schädel öffnen.
Trotz der pochenden Schmerzen in seinem Knie ging Caine weiter. Als er die Explosion hörte, zog er sich in ein Starbucks zurück. Zuerst ging er auf die Toilette und wusch sich das Blut von den Händen. Sein Hemd war mit feinen roten Spritzern übersät, aber daran konnte er nichts ändern. Er müsste nur den langen schwarzen Mantel zugeknöpft lassen.
Als Koffein und Zucker seines zweiten Espressos zu wirken begannen, öffnete Caine verstohlen Navas Rucksack. Obwohl er den Inhalt bereits kannte, war es beruhigend, ihn nochmal mit eigenen Augen zu sehen. Es handelte sich um zwei Pistolen – eine Sig-Sauer und eine Glock –, zwanzig Ladeclips Munition, einen Störsender, einen GPS-Tracker, ein PDA und drei verschiedene Ausweise mit den entsprechenden Kreditkarten. Aber was ihn vorrangig interessierte, waren die drei Bündel 20-Dollar-Scheine, fünfzig Scheine in jedem Bündel.
Dreitausend Dollar waren nicht genug für sein Vorhaben, aber immerhin ein Anfang. Er schloss einen Moment lang die Augen, dann verließ er das Café. Es dauerte gerade mal vierzig Sekunden, bis ein Taxi hielt.
«Wohin?», fragte der Fahrer mit gelangweilter Stimme.
«East Village», sagte Caine. «Ecke Seventh und Avenue D.»
Vor Navas geistigem Auge tauchte das Bild ihres brennenden Körpers auf. Ihre Haut verfärbte sich rubinrot und begann, Blasen zu schlagen und sich in langen, blutigen Streifen zu schälen. Die Hitze kam ihr ganz und gar lebendig vor, wie ein Tier, das sie mit einer Flammenzunge begierig ableckte.
Der Rauch umwogte ihr Gesicht, drang in ihre Lunge vor. Er versengte ihr die Lippen, das Zahnfleisch, den Rachen. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu öffnen, weil sie wusste, dass sie ohnehin nichts erkennen würde. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf zu atmen.
Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, wie Caine sich auf sie gerollt und sie bewusstlos geschlagen hatte. Nun waren ihre Arme eingeklemmt. Sie drehte die Handflächen nach oben und streckte die Fingerspitzen aus. Alter verschlissener Stoff … das Sofa. Es musste über sie gekippt sein, schützte sie vor den Flammen. Sie stieß ihr Gesicht in das Sitzkissen, der alte Stoff diente ihr als Luftfilter. Sie musste hier bald raus. Viel länger hielt sie das nicht mehr aus.
Sie hatte gerade noch genug Kraft, um einmal kräftig zuzustoßen. Jetzt oder nie. Sie drückte mit dem rechten Arm das Sofa hoch. Einen Moment lang ragte es in einem 45-Grad-Winkel hoch, genau in der Schwebe, ohne wegzukippen oder wieder auf sie zu krachen. Nava spannte die Muskeln der rechten Hand an und versetzte ihm erneut einen Stoß. Dröhnend fuhr das Feuer in den freien Raum zwischen ihr und dem Sofa, versengte die Luft. Sie stieß ein letztes Mal zu, und das Sofa krachte links neben ihr herunter. Sie war frei.
Nava kam mühsam hoch und lief in den vorderen Teil der Wohnung. Die Außenmauer war fast völlig verschwunden; es war nichts übrig geblieben als ein Skelett aus Schlackenbeton-Formsteinen. Nava zwängte sich hindurch und sog gierig die frische Luft ein, entfernte sich stolpernd von dem brennenden Gebäude. Dann brach sie zusammen, aber das war ihr egal; der Boden war kalt, und die Luft war sauber.
Saitzew hatte immer gesagt, ausruhen könne sie sich noch, wenn sie tot sei, aber sie beschloss, den Leitspruch ihres Mentors dieses eine Mal zu ignorieren. Das hier war der richtige Moment. Bevor sie ohnmächtig wurde, sah sie, wie ein Unbekannter sich über sie beugte.
Er trug eine rote Fliege.
Forsythe verglich die Kernspintomographie des Zwillings mit der von Testperson Beta. Sie stimmten nicht völlig überein, aber die Anomalien im rechten Temporallappen waren durchaus vergleichbar. Das übertraf Forsythes Hoffnungen bei weitem. Wenn er dem Zwilling das experimentelle Antiepileptikum verabreichte, sollte er in der Lage sein, die Hirnchemie von Testperson Beta zu replizieren. Eine Testperson und dazu noch eine Kontrollperson – etwas Besseres konnte ihm nicht passieren. Zu schade, dass es keine Drillinge waren.
Mit einem Mal begannen die Neonleuchten zu flackern und gingen aus.
Forsythes Puls verdoppelte sich, er begann schwer zu atmen. Es war still. Er hatte das Geräusch der Ventilation gar nicht wahrgenommen, bevor sie zu arbeiten aufhörten. Nun gab es nichts als den stockfinsteren Raum und sein eigenes, angestrengtes Hecheln. Er streckte die Hände aus und fuhr die Tischfläche entlang. Etwas fiel mit lautem Knall zu Boden.
Endlich bekamen seine zitternden Finger das Telefon zu fassen. Er hielt den Hörer ans Ohr. Gott sei Dank, ein Freizeichen. Er wählte Grimes’ vierstellige Durchwahl. Es klingelte achtmal, bevor Grimes abhob.
«Jau.»
«Was ist los, verdammt?» Forsythe wusste, dass seine Stimme erbärmlich klang, aber es war ihm egal. «Warum ist das Licht aus? Welcher Idiot hat das verdammte Licht ausgeschaltet?»
«Mensch, jetzt bleiben Sie mal cool, Dr. Jimmy», sagte Grimes. «Was ist denn los, fürchten Sie sich im Dunkeln oder was?»
Forsythe wollte antworten, aber er konnte nicht. Er bekam kaum Luft. Diese totale Finsternis brachte es wieder zurück – wie seine Mutter ihn als Kind immer im Schrank eingeschlossen hatte. Manchmal nur für ein paar Minuten, aber wenn er besonders böse gewesen war, hatte sie ihn stundenlang da dringelassen. Er konnte sich an den Geruch der Mottenkugeln erinnern und daran, wie die Anzüge seines Vaters an seinem Kopf rieben. Und an die Hitze. Nach zehn Minuten war ihm der Schrank wie ein Ofen vorgekommen; dann waren seine Anziehsachen klatschnass und klebten.
Das Schlimmste jedoch war die Dunkelheit gewesen. Die unerbittliche drückende Schwärze. Nach einer Weile wusste er nicht mehr, ob er die Augen geöffnet hatte oder geschlossen. Dann fing er an, Sachen zu sehen, und dann schrie er, schrie wie am Spieß. Er wusste, dass das Geschrei nicht half – seine Mutter ließ ihn nie raus, solange er schrie –, aber er konnte nichts dagegen tun …
Unvermittelt hörte Forsythe ein lautes Zischen, und die Neonröhren gingen flackernd wieder an. Prompt schlug sein Herz nicht mehr ganz so wild, und er schaffte es, einmal tief bebend Luft zu holen.
«Sehen Sie?», sagte Grimes. «Schon vorbei.»
«Was für eine Scheiße war das denn?», fragte Forsythe. Er hatte sich wieder einigermaßen gefasst.
«Pfui, was sind das denn für Ausdrücke?», sagte Grimes mit einem Lachen. «Ist alles okay. Ich hab nur gecheckt, wie die IT-Spezis den Großrechner mit der Elektrik verbunden haben, und dabei ein paar Kabel vertauscht.»
«Dass Ihnen das nicht nochmal passiert», sagte Forsythe.
«Aye, aye, Capt-»
Forsythe knallte den Hörer auf die Gabel, bevor Grimes sein schwachsinniges Gelaber beenden konnte. Er sah auf die Uhr – elf. Testperson Beta war seit fünf Stunden verschwunden. Forsythe war nun gänzlich von dem Spyware-Programm abhängig, das Grimes im Computersystem der NSA freigesetzt hatte.
Es ging sechstausend Telefonate pro Sekunde durch und suchte nach dem Stimmbild von Testperson Beta. Wo sie auch steckte, sie konnte nicht ewig vom Telefon wegbleiben. David Caine war nicht nur schlau, bis jetzt hatte er verdammt viel Glück gehabt. Aber irgendwann würde das Glück ihn im Stich lassen.
So waren eben die Gesetze der Wahrscheinlichkeit.
Als Caine das Podvaal betrat, legte sich eine Riesenpranke auf seine Schulter. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass es Sergey Kozlov war.
«Wo haben Sie gesteckt, Caine? Vitaly hat sich Sorgen gemacht.»
«War nur kurz unterwegs, Sergey», sagte Caine und drehte sich zu dem riesigen Russen um. «Jetzt bin ich wieder da, um meine nächste Rate zu bezahlen.»
Kozlov sah enttäuscht aus, dass es heute keinen Anlass zur Gewalt gab. Er grummelte leise etwas auf Russisch, dann brachte er Caine zu Nikolaevs Büro.
«Caine», sagte Nikolaev und stand überrascht auf. «Sergey dachte, Sie hätten die Stadt verlassen, aber mir war klar, dass Sie so etwas nie tun würden, nicht wahr?»
«Natürlich nicht, Vitaly», sagte Caine und griff in den Rucksack. Er zog zwei Packen Zwanziger heraus und legte sie auf den Tisch. «Für Sie.»
Nikolaev schlitzte die Banderolen auf, die die Päckchen zusammenhielten. Er fächerte das Geld auf und nahm aus jedem Päckchen einen Schein, den er mit einem Stift markierte und gegen das Licht hielt. Als er sich davon überzeugt hatte, dass es sich nicht um Falschgeld handelte, legte er das Geld in die Schreibtischschublade.
«Das funktioniert ja besser, als ich dachte», sagte Nikolaev. «Dann sehen wir uns nächste Woche?»
«Eigentlich», erwiderte Caine, «habe ich vor, den Rest meiner Schulden heute Abend zu bezahlen.»
Nikolaev hob die Brauen. «Ach? Haben Sie mein ganzes Geld in dieser Tasche?»
«Nicht ganz», sagte Caine. Er zog den letzten Stapel Zwanziger heraus. «Ich habe einen Riesen.»
Nikolaev runzelte die Stirn. «Sie schulden mir noch zehn.»
«Ich weiß. Den Rest will ich gewinnen.»
Kozlov schnaubte, und Nikolaevs Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er sagte etwas auf Russisch, und Kozlov lachte erneut.
«Caine», sagte Nikolaev immer noch grinsend, «wenn Sie noch einen Riesen entbehren können, dann sollten Sie ihn mir vielleicht lieber geben, anstatt ihn zu verspielen. Das Glück war Ihnen in letzter Zeit nicht hold.»
«Ich weiß es zu schätzen, dass Sie um mein Wohlergehen bemüht sind, aber ich möchte lieber spielen», sagte Caine. «Selbstverständlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.»
Nikolaev breitete die Arme aus. «Natürlich nicht», sagte er und nahm Caines letztes Bündel. «Ich wechsele es Ihnen persönlich.»
Kozlov begleitete Caine in den Club und zu seinem gewohnten Tisch in der hinteren Ecke. Walter strich gerade den Pott ein und lachte in sich hinein. Schwester Straight warf Caine einen Blick zu und nickte leicht. Stone blinzelte kaum merklich. Zwei weitere Männer, die Caine nicht kannte, kehrten nach einem abschätzigen Blick zu ihren Drinks zurück. Walter sah als Letzter auf.
«Hui», gluckste er, «das ist meine Glücksnacht. Willkommen daheim, Caine. Noch mehr Geld, das Sie mir schenken wollen?»
«Heute Abend nicht, Walter», sagte Caine und setzte sich. Er hoffte, dass er zuversichtlicher klang, als ihm zumute war. Caine legte seine Chips auf den Tisch. Als sein Magen sich meldete, versuchte er, ganz ruhig zu bleiben. Er schaffte das. Wenn er sich konzentrierte, schaffte er das. Aber was, wenn er sich im Immer verlor wie letztes Mal? Wenn er einen Anfall bekam? Wenn –
Caine unterbrach die nervöse Stimme in seinem Kopf mit seiner eigenen. «Zweihundert kleinmachen», sagte er und schob dem Geber zwei schwarze Chips zu.
«Mache zweihundert klein», sagte der Geber, nahm Caines schwarze Chips und schob ihm einen Stapel rote und grüne zu. Caine schloss kurz die Augen. Sobald er sah, was er sehen musste, öffnete er sie wieder. Er war bereit. Er schob zwei rote Chips auf das Setzfeld vor sich.
«Geben.»
«Straße bis zum Buben», sagte Caine und strich den Pott ein.
«Mist!», rief Walter und warf seine Karten hin. «Das ist schon die dritte, die Sie mir beim River abgeknöpft haben.»
Caine antwortete nicht. Er musste sich konzentrieren, um auf das Immer zugreifen zu können. Er schloss die Augen, während er seine Chips zählte. Er hatte in den vergangenen sieben Stunden 6530 Dollar gewonnen. Es war Schwerstarbeit. Zwar hatte er schon ein nettes Sümmchen beisammen, aber nicht genug, um sich zu beschaffen, was er zu Jaspers Befreiung benötigte. Es wurde Zeit, die Einsätze zu erhöhen.
Bei dem Gedanken überkam ihn ein vertrautes Gefühl. Er kannte das schon – auf dem Höhenflug einer Glückssträhne zu sein, zuversichtlich, dass ihn nichts zum Absturz bringen konnte. In solchen Momenten setzte er alles auf einen River Flush und stand am Ende ohne einen Cent da.
Aber nicht diesmal. Diesmal war alles anders. Diesmal wusste er, dass er es draufhatte. Er musste sich nur konzentrieren – und seinen Magen im Griff haben –, dann würde es klappen.
«Wie wär’s, wenn wir mal ein bisschen Spannung in die Sache bringen?», sagte Caine und schob seinen großen Stapel nach vorn. «Ich habe siebenfünf und ein paar Zerquetschte. Wie wär’s mit einem kleinen Zweikampf? Jeder fünf Karten, Sie mischen, ich hebe ab, der Gewinner kriegt alles. Wie sieht’s aus, Walter?»
Walter hob die Augenbrauen. Caine konnte beinahe hören, wie er das Für und Wider abwog. Er wusste, dass Walter in der vergangenen Woche mehrere tausend Dollar gewonnen hatte, also war er flüssig. Aber selbst wenn nicht, Walter war ein leidenschaftlicher Zocker. Er konnte der Herausforderung unmöglich widerstehen. Dennoch beschloss Caine, seinem Erzrivalen noch einen kleinen Schubser zu verpassen.
«Wenn Sie nicht wollen, sagen Sie’s einfach – in Ihrem Alter muss man ja nicht mehr alles mitmachen.»
Walter machte ein finsteres Gesicht. Caine wusste, wie pubertär es war, sich über Walters Alter lustig zu machen, aber er wusste auch, dass es funktionierte. Eine Sekunde später zählte Walter einen Riesenhaufen Chips ab und rief Nikolaev herüber. Nach einer kurzen Unterredung nickte Nikolaev zustimmend. Der Geber ergänzte Walters Stapel um drei lila Chips.
Er schob sie nach vorn. «Fangen wir an.»
Walter hielt seine Hand hin, und der Geber teilte ihm ein neues Blatt aus. Walter begann zu mischen. Hinter geschlossenen Augenlidern sah Caine gebannt zu, wie die Karten ineinander verschwammen.
…
Die Karovier liegt über dem Herzbuben. Mischen. Die Vier ist zwischen zwei Damen. Mischen. Sie liegt unter dem Kreuzass. Mischen. Auf der Pikvier. Mischen.
…
«Aufwachen und abheben», sagte Walter und knallte die Karten vor Caine auf den Tisch. Caine ließ die Augen zu. Stattdessen streckte er die Hand aus und legte sie auf den Stapel. Er befand sich nach wie vor im Immer.
…
Seine Finger streichen über die Ränder der Karten, während er versucht, die richtige Stelle zum Abheben zu finden. Wenn er hier abhebt, kriegt er zwei Fünfen, aber Walter hat drei Achten. Hier hat er einen König und einen niedrigeren Wert, aber Walter hat ein Paar Zweien. Hier hat er –
…
«Aufhören mit dem Scheiß und abheben», sagte Walter und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Caine machte vor Schreck die Augen auf und wurde aus dem Immer gerissen; seine Finger zuckten, hoben gegen seinen Willen ab. Eine Sekunde lang hielt er die Karten nur in der Luft, während sich in seinem Magen eine schreckliche Beklommenheit breit machte.
«Na, nun legen Sie sie schon hin.»
Caine ließ die Karten sinken und hatte Angst, die Augen zu schließen. Hatte Angst, zu sehen. Als Walter zu geben begann, lächelte er, spürte Caines Nervosität.
«Was ist los? Haben Sie auf einmal Angst?»
«Mund halten, Walter.» Das war Schwester Straight.
Caine war erleichtert, dass sie da war, aber er verbarg das Gefühl. Er gab sich entspannt, obwohl ihm der Schweiß übers Gesicht lief. Was, zum Teufel, machte er da eigentlich? Jasper war an einen OP-Tisch gefesselt, und er saß hier und zockte, um genug Geld für seine Rettung zusammenzubekommen. Als er diesen Pfad zum ersten Mal im Immer gesehen hatte, war ihm die Idee völlig abstrus vorgekommen, aber er hatte seine Zweifel beiseite geschoben und beschlossen, zu glauben. Und nun schau sich das einer an – er war wieder genau da, wo er immer war, und riskierte seine Zukunft beim Kartenspiel.
Ein toller Dämon, wirklich.
«Nun?» Walter deutete auf die fünf Karten, die umgekehrt vor Caine lagen. Langsam nahm Caine sie hoch und fächerte sie auf, eine nach der anderen. Mit jeder Karte, die er sah, sank seine Hoffnung.
Pikfünf.
Kreuzsieben.
Pikbube.
Herzzwei.
Karoneun.
Völliger Mist.
Er schloss die Augen und versuchte zu wiederholen, was geschehen war, als er Leary in der Gasse niedergeschossen hatte, versuchte, noch einmal abzuheben und alles in Ordnung zu bringen. Aber als er die Augen schloss, sah er –
…
Caine hat eine Fünf, eine Sieben, einen Buben, eine Zwei, eine Neun. Walter hat zwei Könige.
Caine hat eine Fünf, eine Sieben, einen Buben, eine Zwei, eine Neun. Walter hat zwei Könige.
Caine hat eine Fünf, eine Sieben, einen Buben, eine Zwei, eine Neun. Walter hat zwei Könige.
…
Es war zwecklos. Das Abheben, das Ausgeben – es war bereits geschehen. Er konnte nicht zurückgehen und die Vergangenheit ändern. Er konnte das Immer nur dazu benutzen, die richtige Zukunft zu wählen.
«Wie viele Karten wollen Sie?», fragte Walter ihn. Normalerweise wäre die Entscheidung klar gewesen. Die Zwei, die Fünf und die Sieben raus. Den Buben und die Neun behalten. Mit sechs Outs (drei Buben und drei Neunen) von 47 Karten betrug die Wahrscheinlichkeit, dass er mit den Karten, die er auf der Hand behielt, einen Zwilling bilden konnte, dreizehn Prozent.
Aber es bestand nur eine ungefähr 0,5-prozentige Chance, dass er auf einen Buben- oder Neunen-Drilling kam – was er musste, wenn er Walters zwei Könige schlagen wollte –, vorausgesetzt natürlich, dass Walters Blatt nicht mehr besser wurde. Caine schloss die Augen, versuchte zu sehen, welches die nächsten drei Karten im Stapel waren.
…
Herzsechs.
Herzacht.
Kreuzass.
Die bringen gar nichts.
Er schrie innerlich, spürte, wie seine Magensäure brannte. Es war vorbei. Er hatte verloren. Nach sieben Stunden meisterhaften Spiels hatte er es geschafft, alles zu verderben. Er schloss die Augen, suchte die Pfade ab, aber da war nichts … nichts außer –
…
Der Weg zum Sieg.
…
Ohne zu zögern, nahm Caine eine Hand unter den Tisch und kniff Schwester Straight in den Hintern.
«Oh!», rief sie aus und warf plötzlich die Arme hoch. Sie stieß mit dem Ellbogen gegen Stones Hand, was dazu führte, dass der sein Bier umkippte. Es lief quer über den Tisch und direkt in Walters Schoß. Als die kalte Flüssigkeit ihm in den Schritt klatschte, sprang Walter auf, stieß mit dem Knie an den Tisch, und der Kartenstapel rutschte hinunter.
«Scheiße!», schrie Walter. «Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was zum Teufel ist mit Ihnen los, Schwester?»
Schwester Straight öffnete den Mund zu einer Antwort, aber nach einem verstohlenen Blick zu Caine brach sie ab. «Da war eine Ratte», sagte sie. «Sie ist mir über den Fuß gelaufen.» Sie drohte Nikolaev mit dem Zeigefinger. «Schämen Sie sich, Vitaly.»
Er zuckte die Schultern. «Wir sind hier im Village. Da fühlen sich die Ratten nun mal wohl. Was soll ich tun?»
Walter bückte sich und begann, die Karten aufzusammeln.
Caine legte seine Karten verkehrt herum hin. «Damit haben Sie falsch gegeben.»
«Was soll das denn heißen, verdammt?», fragte Walter.
«Sie haben den Stapel vom Tisch gestoßen», sagte Caine. «Sie haben einige Karten sehen können. Damit können Sie nicht mehr richtig geben.»
«Von wegen. Es hätte meine Entscheidung gar nicht beeinflusst. Ich hab zwei Könige, sehen Sie?» Walter hielt seine Karten hoch. «Ich wollte drei Karten nehmen. Ich will immer noch drei Karten nehmen. Wegen mir heben Sie nochmal ab.»
Caine sah zu Nikolaev hoch. «Vitaly, ich glaube, wir brauchen einen Schiedsspruch.»
«Falsch gegeben», sagte der Russe.
«Waas? Ich –»
Nikolaev hob die Hand. «Mein Club, meine Regeln. Wenn Ihnen das nicht schmeckt, gehen Sie woanders spielen.»
Caine unterdrückte ein Grinsen und schob seine Karten in die Tischmitte. Der Geber nahm sie beiseite und gab Walter ein neues Blatt. Immer noch leise meckernd, fing Walter zu mischen an. Als er fertig war, knallte er Caine die Karten hin. Diesmal war Caine bereit und wusste genau, wonach er suchte.
…
Seine Finger berühren die Karten.
Ein bisschen mehr zur Mitte.
Noch drei.
Er berührt sie.
Er ist sich sicher.
…
Caine hob sauber in der Mitte ab, und Walter begann zu geben. Caine sah ihm völlig unbesorgt zu. Er wusste, welche Karten er bekam – und dass es ein Siegerblatt war. Er warf den Buben und die Dame ab und behielt die beiden schwarzen Vieren und die Herzacht.
Walter zog langsam eine Karte. Der alte Mann versuchte, sein Grinsen zu verbergen, als er sah, was er bekam, aber das spielte keine Rolle – Caine wusste es längst. Er hatte es so geplant.
«Bereit zum Aufdecken, Walter?»
«Wie wär’s, wenn wir den Einsatz verdoppeln?», fragte Walter mit leuchtenden Augen.
Caine sah zu Nikolaev, aber der Mafioso schüttelte den Kopf. «Würde ich ja gern, Walter, aber ich kriege hier keinen Kredit.»
«Feigling», murmelte Walter leise.
«Moment. Ich springe Caine bei», sagte Schwester Straight unvermittelt zu Walter. Dann sah sie zu Nikolaev. Er zuckte die Schultern und nickte. Sie sagte zu Caine: «Für die Hälfte des Gewinns, der auf meinen Anteil fällt, versteht sich.»
Caine lächelte. Sie war eine Zockerin, aber hallo. «Natürlich», sagte Caine. Sie warteten, bis Nikolaev die entsprechende Menge Chips gebracht hatte. Dann war es so weit.
Walter deckte triumphierend seine Karten auf. «Bube-Flush», sagte er fröhlich.
«Full House», sagte Caine und deckte seine Karten auf. «Vieren über Achten.» Er gab der Schwester ein Küsschen auf die Wange. «Vielen Dank, Schwester.»
Sie errötete wie ein Schulmädchen. «War mir ein Vergnügen», sagte sie und stieß ihn unter dem Tisch an.
Caine besaß jetzt fast 19 000 Dollar.
Gerade genug.
Als Nava erwachte, riss sie sich sofort die Sauerstoffmaske vom Gesicht und richtete sich mühsam auf. Sie versuchte herauszufinden, wo sie war. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet – weiße Wände, grauer Linoleumfußboden, billige Möbel. Kein Krankenhauszimmer, so viel stand schon mal fest. Es sah mehr nach Labor aus; auf einem langen Tisch waren vier Computer aufgereiht. An der Wand hing eine mit Zeichnungen übersäte Tafel. Neben ihrem Krankenbett stand ein Rollwagen aus Metall mit drei Schüben voller Spritzen, Skalpellen, Verbandsmaterialien und Medikamenten.
Während sie sich noch im Zimmer umsah, hörte sie das Drehen des Türknaufs. Reflexartig wollte sie nach ihrer Glock greifen und stellte in dem Moment fest, dass sie unbewaffnet war. Sogar das Messer, das sie sich an die Wade geklebt hatte, war verschwunden. Sie musste improvisieren. Sie nahm ein Skalpell vom Rollwagen und hielt es an ihren Körper, der von einem dünnen Baumwolllaken bedeckt war. Der Griff fühlte sich hart und kalt an der Haut an.
Sie machte sich bereit und starrte den schmalen Mann an, der das Zimmer betrat. Als er sah, dass sie wach war, rückte er nervös seine Fliege zurecht.
«Hallo, Miss Vaner», sagte er mit einem verlegenen Lächeln. «Wie geht es Ihnen?»