Die Dunkelheit fühlte sich gut an, sehr viel besser als das Licht. Die Wirkung der Medikamente ließ nach. Nun war Caine in der Lage zu fliehen. Zwar konnte er seinen Körper nicht befreien, dafür aber seinen Geist. Und genau das tat er auch, ließ sich in das Immer sinken, wo die Zeit nur ein theoretisches Konzept war. Als er alles betrachtete, das Jetzt, die Vergangenheit und die Zukünfte, merkte er, dass diesmal etwas anders war.
Diesmal war er nicht allein.
…
Da ist eine Frau. Sie ist jung und alt zugleich. Er weiß, dass Sie schön ist, obwohl er Sie nicht sehen kann. Ihre Schönheit strahlt von innen heraus. Wie sein Wissen ist auch das Ihre unendlich, aber im Gegensatz zu ihm hat Sie Ihres verinnerlicht, es durchfließt Ihren Geist.
Auf einmal wird Caine von Wissen überschwemmt.
…
Sie – Verstehst du?
Caine – Ja. Die Zukunft ist ungeformt, bis sie beobachtet wird. Wenn man eine Münze wirft, existieren zwei mögliche Zukünfte: eine, in der die Münze Kopf zeigt, und eine, in der sie Zahl zeigt. Keine von beiden erlangt jedoch das Sein, solange man sie nicht beobachtet.
Sie – Ja. Darum existieren Teilchen an allen möglichen Orten zugleich, weil sie alle möglichen Zukünfte gleichzeitig verkörpern.
Caine – Aber das steht im Konflikt zur Theorie vom Laplace’schen Dämon. Laplace glaubte, wenn man alles wüsste, was es im Jetzt zu wissen gibt, dann würde man sämtliche vergangene Ereignisse kennen und sämtliche zukünftige. Wenn Laplaces Theorie zutrifft, dann ist die Zukunft determiniert, dann gibt es nur eine einzige – aber es gibt nicht nur eine Zukunft, sie ist unendlich in ihrer Vielzahl.
Sie – Das stimmt. Laplaces Theorie ist unvollständig. Sie trifft zu, was die Vergangenheit des Jetzt betrifft, aber den Zukunftsaspekt vermag sie nicht zu fassen.
Caine – Ah. Der Laplace’sche Dämon weiß alles Vergangene, weil es immer nur eine Vergangenheit gibt und weil alle Verzweigungen vorwärts weisen. Aber die genaue Zukunft kennt der Laplace’sche Dämon nicht, weil es mehr als eine gibt. Der Laplace’sche Dämon weiß alles in allen möglichen Zukünften.
Sie – Ja. Weil du das Jetzt in seiner Mannigfaltigkeit vollständig siehst, siehst du alle möglichen Zukünfte; folglich sind deine Wahrnehmungen unendlich. Weil die Wirklichkeit ein Abbild deiner Wahrnehmung ist, wählst du deine eigene, jedem vorwärts sich verzweigenden Moment entstammende Wirklichkeit, indem du dir aussuchst, welchen Moment du wahrzunehmen wünschst.
Caine – Ich verstehe. Darum kann ich das Immer nicht mit offenen Augen sehen – wenn ich die Welt wahrnehme, verbleibt sie im Jetzt und schließt andere mögliche Zukünfte aus.
Sie – Ja.
Caine – Aber … warum ich? Warum bin ich der Dämon? Warum nicht jemand anders?
Sie – Das ist schlichte Wahrscheinlichkeit, wie die Gauß’sche Glockenkurve. Jeder besitzt einige «dämonische» Fähigkeiten. Bei den meisten sind sie nur sehr schwach ausgeprägt, bei einigen hingegen sehr stark. Manche Menschen haben überhaupt keine dämonischen Fähigkeiten. Folglich müssen einige alle haben. Diese wenigen sind die Dämonen.
Caine – Wenn so viele Menschen einige dämonische Fähigkeiten besitzen, warum kenne ich dann niemand anderen, der das Immer bereist?
Sie – Das Immer ist in ihrem Unterbewusstsein gefangen. Sie sehen es vielleicht, aber sie begreifen es nicht. Manchmal ist es nur ein Widerhall.
Caine – Ein Déjà-vu etwa?
Sie – Ja. Ein Déjà-vu ist die Erinnerung an eine mögliche Zukunft, die man schon einmal gesehen hat. Normalerweise betreten die Menschen den in die Zukunft führenden Pfad, den sie gesehen haben, nicht. Folgen sie ihm jedoch einmal ganz genau, kommt die Erinnerung wieder hoch – das ist ein Déjà-vu.
Caine – Dann ist diese Fähigkeit bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt?
Sie – Ja, manche sind schwach, andere sind stark. Die Schwachen besitzen wenig oder überhaupt keinen Weitblick. Sie sind nicht in der Lage, die Folgen ihres Handelns vorauszuahnen, weil sie die möglichen Zukünfte nicht wahrnehmen können. Sie stolpern blind und unwissend durchs Leben. Ihre Entscheidungen sind zufällig, und genau so sind die Folgen ihrer Entscheidungen.
Die Starken nehmen viel wahr, wenngleich das Wahrgenommene in ihrem Unterbewusstsein gefangen bleibt. Sie begründen ihre guten Ideen mit «Scharfblick», «Intuition» oder «so einem Gefühl». In Wahrheit rühren ihre Ideen von den Zukünften her, die sie im Immer wahrnehmen. Das Immer hält für jeden die Möglichkeit einer idyllischen und glücklichen Zukunft bereit.
Die Starken versuchen, ein idyllisches Leben herbeizuführen, indem sie die Entscheidungen ihres zukünftigen idyllischen Ichs nachahmen und dieselben Ereignisse wahrnehmen. Folglich sind ihre Entscheidungen gut, weil ihr Unterbewusstsein weiß, dass es sich um die «richtigen» Entscheidungen zum Erreichen einer dieser glücklichen Zukünfte handelt.
Caine – Aber gibt es noch andere wie mich? Andere … Dämonen?
Sie – Ja. Es existieren noch andere Dämonen im Jetzt. Sokrates, Alexander der Große, Julius Cäsar, Johanna von Orleans, Molière, Napoleon Bonaparte, Hermann von Helmholtz, Vincent van Gogh, Alfred Nobel. Sie sind alle Dämonen.
Caine – Sie sind alle Epileptiker … wie ich. Dann handelt es sich bei den Anfällen um … Teile des Immer, die die Synapsen überlasten?
Sie – Ja. Der Anblick des Immer lässt die Dämonen im Jetzt leiden.
Caine – Und was soll ich im Jetzt am besten tun?
Sie – Was du möchtest. Du hast die Macht, deine eigene Zukunft zu wählen und damit die Zukunft der Menschen in deiner Umgebung zu beeinflussen.
Caine – Aber woher weiß ich, welche Entscheidungen richtig sind? Alles hängt miteinander zusammen. Was für mich richtig ist, könnte anderen schaden.
Sie – Entscheidungen sind nicht richtig oder falsch. Entscheidungen sind einfach nur. Du musst das wählen, was dir am besten zu sein scheint.
Caine – Aber wie soll ich mich entscheiden?
Sie – Das bleibt dir überlassen.
…
«Grimes, was ist hier los, verdammt nochmal?!?»
«Tut mir Leid, Dr. Jimmy. Es gibt anscheinend ein Problem mit einem der Hauptschalter.»
«Die Details interessieren mich nicht!», brüllte Forsythe in den Hörer. Er war kurz vor einem hysterischen Anfall. «Ich will, dass Sie das Problem lösen. Kriegen Sie das hin?»
«Jetzt hören Sie mal zu, Jimmy», fauchte Grimes zurück. «Ich tue mein Bestes. Kirk Ende.» Grimes schaltete aus.
Forsythe ballte die Fäuste. Dieser miese kleine Scheißkerl. Sobald sie aus dem Schlamassel heraus waren, würde er sich einen neuen Technikfreak suchen. Er hatte die Nase gestrichen voll von Grimes’ Unfähigkeit.
Er wandte sich wieder dem durchsichtigen Spiegel zu und starrte ins Nichts, lauschte den eigenen flatternden Atemzügen. Die Schwärze schien förmlich greifbar zu sein in dem fensterlosen Zimmer. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er blinzelte unentwegt, als ließe sich die Dunkelheit wegspülen wie ein Schleier vor den Augen, aber es nutzte nichts. Ob er die Augen offen oder geschlossen hatte, machte keinen Unterschied.
Auf einmal setzte sein Herz einen Schlag aus. Himmelherrgott … Testperson Beta. Die Lidklammern halfen gar nicht ohne Licht – und die Medikation wurde vom Computer vorgenommen. Kein Strom, das bedeutete keine Beruhigungsmittel. Keine zehn Minuten, und die Testperson wachte womöglich auf. Forsythes neue Angst übertraf die alte noch. Er griff zum Hörer und tippte Grimes’ Durchwahl.
«Sie müssen unbedingt dafür sorgen, dass das Licht wieder funktioniert!», drängte er.
«Raten Sie mal, was ich gerade vorhatte», antwortete Grimes spöttisch.
«Grimes, ich meine es ernst. Sie verstehen nicht – es ist lebenswichtig, dass wir sofort wieder Strom haben.»
«Hören Sie, Dr. Jimmy, ich sagte Ihnen schon, dass ich so schnell arbeite, wie ich kann. Mit Ihnen zu telefonieren macht mich l-a-n-g-s-a-m-e-r.» Er zog das letzte Wort zur Betonung in die Länge. «Wenn Sie also keinen neuen Auftrag haben, dann lassen Sie mich besser weiterarbeiten.»
«Worauf warten Sie dann noch?!» Forsythe knallte den Hörer auf die Gabel. Sein Herz raste. Er musste irgendetwas unternehmen – aber was? Er stieß seine schweißnassen Hände in die Taschen seines Laborkittels und stand auf. Er musste aufpassen, dass er nicht zu hyperventilieren begann. Er machte drei Schritte nach vorn und schlug sich das Knie am Aktenschrank. «Scheiße!», schrie er und hielt sich die lädierte Stelle.
Er tastete in der Finsternis umher, bis er seinen Bürosessel wieder fand, setzte sich und rieb sich das Knie. Er löste in der Kitteltasche die Faust, streckte die Finger. Da fühlte er etwas Langes, Dünnes. Die hatte er ja fast vergessen. Er zog sie heraus, drückte den kleinen Schalter an der Seite und war für einen Moment vom Licht der Stiftlampe geblendet.
Forsythe seufzte vor Erleichterung, sein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder. Er richtete das Licht auf den durchsichtigen Spiegel, aber es wurde nur reflektiert und warf riesige Schatten an die hintere Wand. An die Testperson kam er so nicht heran, aber wenn er ins Nebenzimmer ging und ihr direkt in die Augen leuchtete, sollte sie das in Schach halten, bis der Strom wieder lief.
Forsythe ging mit der Lampe zur Tür und griff nach dem Knauf. Sie war verriegelt. Das ergab keinen Sinn, er schloss seine Tür nie von innen ab. Und warum sollte draußen jemand herumlaufen und die elektronischen Schlösser betätigen … O Gott … die elektronischen Schlösser. Er drehte wieder an dem Knauf, obwohl er wusste, dass es völlig zwecklos war. Er fuhr herum und starrte seinen dunklen Umriss im Spiegel an. Was um Gottes willen geschah wohl gerade auf der anderen Seite des Spiegels?
Er trommelte gegen die Tür und fing zu schreien an.
Nava hatte keine Ahnung, was genau sie davor bewahrt hatte, das Bewusstsein zu verlieren: der heftig brennende Schmerz im Fuß, das fürchterliche Pochen in ihrem Handgelenk oder die heiße Flüssigkeit, die ihr unregelmäßig auf den Hals tropfte. Sie strich sich über die Haare. Ihre Hand war feucht und klebrig. Blut, aber Gott sei Dank nicht ihres.
Sie rollte den Mann von ihrer Schulter herunter und tastete nach seinem Puls. Nichts. Sie seufzte erleichtert. Sie sah auf ihre Uhr – 23 : 01. Jetzt, wo sie die sieben Soldaten eliminiert hatte, brauchte sie sich wegen des Alarms keine Sorgen mehr zu machen. Aber es gab noch eine zweite Deadline.
Grimes hatte sie gewarnt, dass es nach dem Stromausfall zehn Minuten dauern würde, bis die Gebäudeverwaltung ein Team Wachleute in das unterirdische Labor schickte. Unter normalen Umständen hätte sie sich wegen eines halben Dutzends Mietbullen keine Sorgen gemacht, aber sie wusste, dass sie in ihrem gegenwärtigen Zustand kaum mit ihnen fertig werden konnte.
Ihrer Armbanduhr zufolge hatte sie noch acht Minuten und fünfzehn Sekunden, um Caine zu retten.
Nava hob die Sig-Sauer des dunkelhaarigen Mannes auf, tastete nach dem Griff. Sie kam nur mühsam auf die Füße. Sie konnte die Ferse ihres linken Fußes kaum belasten, und der Fußboden war schlüpfrig von Blut. Nach einer Minute schaffte sie es zu stehen, lehnte sich keuchend an die Wand. Kurz hatte sie das Gefühl, doch noch in Ohnmacht zu fallen. Sie schüttelte das gebrochene Handgelenk, und ein greller Schmerz durchzuckte es.
Sie riss die Augen auf. Den Rucksack zwischen den Zähnen haltend, wühlte sie mit der unversehrten Hand in dem Reißverschlussfach, bis sie ihre Nachtsichtbrille gefunden hatte. Sie ging den Flur so schnell hinab, wie sie konnte.
Sie musste zu David, bevor es zu spät war.
Grimes lachte glucksend, als er sein kabelloses Headset abnahm. Dr. Jimmy flippte ja so was von aus. Erste Sahne, aber hallo. Hätte er bloß daran gedacht, einen Mitschnitt von dem wutschnaubenden Wissenschaftler zu machen. Er hätte Jimmys Flüche als Soundeffekt für seinen Laptop nehmen können. Na ja, vielleicht nächstes Mal. Wenn Dr. Jimmy nicht vorher an einer Embolie starb.
Es war alles ganz einfach gewesen. Er konnte Caines Kombination aus Genialität und Mumm immer noch nicht fassen. Darauf zu kommen, dass die Wanze in seiner Wohnung in der Grünlilie versteckt war, dazu brauchte man Köpfchen, aber als Caine sich dann tatsächlich davor setzte und langsam seinen Plan erklärte … Alle Achtung!
Wenn Grimes es nicht mitbekommen hätte, würde Caine jetzt tief in der Scheiße sitzen. Oder noch schlimmer, wenn es statt seiner Forsythe gesehen hätte, dann wäre Caines Kumpeline mitten in eine Falle getappt. Aber zu Caines Glück hatte alles perfekt funktioniert.
Grimes dachte daran zurück, wie er das erste Mal das Überwachungsbild von Caines Wohnung gesehen hatte, bevor Crowes Team dort reinbretterte. Als er sah, dass Caine die Lippen bewegte, hatte er den Ton hochgedreht und die Überraschung seines Lebens erlebt.
«Dies ist eine Nachricht für Steven Grimes. Ich weiß, dass Sie zuhören und dass Martin Crowe unterwegs ist, um mich zu entführen. Sobald er das getan hat, benötige ich Ihre Hilfe, um fliehen zu können. Für Ihre Mitarbeit erhalten Sie eine Million Dollar. Bitte tun Sie Folgendes für mich …»
Dann hatte Caine seinen Fluchtplan dargelegt. Seine Idee, dass Grimes das Licht ausschalten sollte, war genial. Er hatte Grimes beauftragt, Nava in einer bestimmten Kneipe im East Village anzurufen und ihr den Plan darzulegen. Nachdem Nava das Geld auf Grimes’ Konto auf den Cayman-Inseln überwiesen hatte, hatte Grimes ihr die Lagepläne und Alarmcodes gemailt. Dann hatte er den falschen Betriebsausweis und einen speziell modifizierten Armbandsender angefertigt und beides draußen unter Forsythes Geländewagen deponiert. So leicht hatte er in seinem ganzen Leben noch kein Geld verdient.
Er hoffte, dass Caine es schaffte – Nava hatte ihm eine zusätzliche halbe Million versprochen, wenn die Operation erfolgreich verlief. Verdammt, für Dr. Jimmy zu arbeiten brachte noch viel mehr Geld, als er ursprünglich gedacht hatte.
Grimes’ Headset vibrierte. «Grimes hier.»
«Ich bin eingesperrt, verdammte Scheiße!» Das war Forsythe, inzwischen am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
«Häh?», machte Grimes völlig verdattert.
«Ich sagte, ich bin eingesperrt! Die Türschlösser funktionieren alle elektronisch, Sie Vollidiot!»
«Oh, ach so», sagte Grimes und verkniff sich ein Lachen. «Das hatte ich ja ganz vergessen. Bleiben Sie einfach sitzen. In ein paar Minuten hab ich den Strom bestimmt zum Fließen gebracht.»
«Ich werde nicht einfach sitzen bleiben! Schicken Sie jemanden runter, der mich rausholt!»
«Dr. Jimmy, ich bin im Moment ziemlich beschäftigt, wie ich Ihnen gerade schon erklärt habe. Außerdem, wo wollen Sie denn hin? Der Strom ist in der gesamten Anlage ausgefallen.»
«Ich muss zu der Testperson, verdammt noch mal!» Forsythe verlor die Fassung. «Geht das denn nicht in Ihren Kopf rein? Ich muss zu der Testperson, oder wir können einpacken! Also schicken Sie jemanden runter … SOFORT!»
«Ist ja gut», sagte Grimes, «ganz ruhig, Mann. Ich schick Ihnen gleich jemanden –»
«Nicht gleich.» Auf einmal klang Forsythes Stimme völlig ruhig, was doch etwas gruselig war. «Sofort. Schicken Sie ihn jetzt runter.»
«Wird gemacht. Sonst noch was?»
Forsythe knurrte etwas Unverständliches und knallte schon wieder den Hörer auf. Grimes überlief ein Schaudern. Er gab es nur ungern zu, aber die nackte Angst in Forsythes Stimme war nicht ohne Wirkung geblieben. So sehr er es auch genoss, Dr. Jimmy zu piesacken, vielleicht sollte er doch eine Wache hinunterschicken. Wenn er seinen Job verlor, gingen all seine Möglichkeiten der Einkommensergänzung flöten.
Moment, was dachte er da gerade? Er würde doch keine halbe Million riskieren, nur weil Dr. Jimmy sein blödes Schlummerlicht vermisste. Er wählte sich in das Kommunikationssystem ein, meldete sich als Systemadministrator an, wählte die entsprechende Option und legte auf. Wenn Forsythe ihn feuerte, dann war das eben so.
Ab morgen konnte er es sich leisten, auf große Reise zu gehen.
Forsythes Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, während die Finsternis ihn bedrängte. Das winzige Licht der Stiftlampe konnte die Schrecken nicht länger fern halten. Warum brauchten die bloß so lange, verdammt? Es war doch schon fünf Minuten her, dass er Grimes angerufen hatte, oder? Er sah auf seine Armbanduhr, die blau leuchtete. Es waren noch nicht einmal neunzig Sekunden vergangen. Trotzdem sollten anderthalb Minuten für einen Wachmann genug sein, um die dreißig Meter bis zum Beobachtungszimmer zurücklegen zu können.
Forsythe sah in den dunklen Spiegel vor sich und konnte in dem schwachen blauen Licht seiner Uhr nur den Schatten seines eigenen Spiegelbilds erkennen. Er musste nach nebenan, bevor es zu spät war. Die Testperson konnte jeden Moment das Bewusstsein wiedererlangen. Sie würde noch immer etwas Thorazin im Blutkreislauf haben; die Gefahr, dass sie nach dem Aufwachen sofort bei Verstand war und zu fliehen versuchte, war denkbar gering …
Gering? War er denn von allen guten Geistern verlassen? So etwas wie Ereignisse von geringer Wahrscheinlichkeit gab es nicht mehr. Forsythe hob den Hörer auf, um noch einmal bei Grimes anzurufen, aber es ertönte kein Freizeichen. Er drückte die Gabel hinunter und ließ sie langsam wieder kommen, um das Telefon zum Funktionieren zu bringen.
Die Leitung war immer noch tot.
Er knallte den Hörer auf, immer und immer wieder. Kunststoffsplitter flogen in alle Richtungen, während sich eine weitere Schicht seiner geistigen Gesundheit verabschiedete.
Nava lehnte sich an die Tür. Sie atmete schwer. Sie hatte während des kurzen Rückwegs den zweimal stehen bleiben und sich ausruhen müssen. Ihr linker Fuß schien Tonnen zu wiegen. Mit jedem Schritt war ein Übelkeit erregendes Schmatzen von Blut zu hören. Zum Glück hatte die Stahlkappe ihres Stiefels die Kugel daran gehindert, aus dem Fuß wieder auszutreten; so war wenigstens eine Seite des Wundkanals verschlossen.
Sie fragte sich, wie lange sie noch bei Bewusstsein bleiben konnte, bevor der Blutverlust sie ohnmächtig werden ließ. Vielleicht noch fünfzehn Minuten, höchstens. Bald würde sie es wissen. Sie nahm einen letzten Atemzug, richtete sich so gerade auf, wie sie konnte, und probierte den Knauf. Er ließ sich nicht bewegen. Sie suchte den abgetrennten Daumen des Latinos aus ihrer Tasche und drückte ihn auf den Scanner. Nichts.
Scheiße. Sämtliche elektronischen Schlösser waren ausgefallen. Sie machte zwei Schritte zurück, zog die 45er des Dunkelhaarigen aus dem Rucksack und schoss dreimal in das Schloss. Dann stieß sie die Tür auf und humpelte weiter den Flur hinunter. Er hatte so harmlos gewirkt, als er hell erleuchtet gewesen war, nun erschien er ihr bedrohlich und beengend. Sie wollte nicht hier sterben, zehn Meter unter der Erde.
Sie musste sich konzentrieren. Auf Caine. Ihre Mission. Ihr Ziel.
Endlich kam sie bei einem Schild an der Wand an, auf dem «Flügel D» stand – sie war bald da. Als sie zum ersten Mal das Sicherheitssystem der Einrichtung gesehen hatte, war es ihr merkwürdig vorgekommen, dass sie Jasper in D8 gefangen hielten, weit weg von seinem Bruder. Nun ergab alles einen Sinn – David befand sich in D10, ganz nah bei Jasper.
Sie lehnte sich schwer an die nächste Tür, um wieder zu Atem zu kommen. D6. Sie war fast dort. Sie atmete tief aus und ging weiter. Trotz der stickigen Luft zitterte sie, und Kälte breitete sich in ihr aus. Das waren bereits die ersten Folgen des Blutverlusts.
Sie zwang sich zu einem weiteren Schritt … und zu noch einem. D8. Nur noch ein paar Schritte. Gleich hatte sie es geschafft. Sie schleppte sich zur Tür am Ende des Gangs, und plötzlich erfüllten ihre letzten Adrenalinreserven sie wieder mit Energie. Anderthalb Meter von D10 entfernt hob sie die Waffe.
Caine musste hinter dieser Tür sein; er musste einfach. Denn wenn nicht, kam keiner von beiden hier lebend heraus. Sie zielte auf das Türschloss und begann zu feuern.
Caine wollte die Augen öffnen, aber sie waren bereits auf. Ein unglaublich grelles Licht blendete ihn, fraß sich bis in sein Gehirn. Er wollte seine Augen davor schützen, konnte aber die Arme nicht bewegen – er konnte nicht einmal blinzeln. O Gott, er war gelähmt. Moment … wenn er gelähmt war, dann müsste er doch trotzdem noch blinzeln können, oder?
Er hörte ein leises Ächzen und begriff, dass es aus seiner eigenen Kehle kam.
«David, können Sie reden?», fragte eine Frauenstimme. Sie kam ihm bekannt vor. Er kannte sie, es war …
«Ich bin’s, Nava. Ich hol Sie hier raus.»
Nava … sie hatte ihn gerettet … hatte ihn zu diesem Unterschlupf bei ihrem Freund gebracht … und dann war etwas passiert … etwas Wichtiges. Er war so durcheinander; er fühlte sich, als hätte er Kleister im Kopf.
Noch mehr Licht … Finger berührten sein Gesicht, seine Augenlider. Ein metallisches Klicken, ein Kneifen, und auf einmal war sein rechtes Lid frei. Dann sein linkes. Die Lider taten weh, fühlten sich wund gerieben und zu locker an, als ob sie ausgetrocknet und in die Länge gezogen waren. Aber trotz der Schmerzen war es ein wunderschönes Gefühl, die Augen schließen zu können.
«Ah!», rief er, als ihm plötzlich der linke Arm grässlich wehtat.
«Tut mir Leid, aber die Kanüle muss raus», entschuldigte sich Nava. «Bin gleich fertig.»
Wieder dieser stechende Schmerz. Blut stieg auf, als die Nadel aus seinem Arm glitt. Instinktiv versuchte er den Arm zu beugen, um die Blutung zu stillen, aber kaltes Metall biss ihm ins Handgelenk. Er versuchte den anderen Arm, mit demselben Ergebnis. Seine Beine und Füße waren ebenfalls gefesselt. Nun fiel ihm langsam alles wieder ein … die Entführung … in diesem Raum aufzuwachen, an diesen Stuhl geschnallt.
Er sah sich um. Nava beugte sich über ihn, eine seltsame Brille auf dem Kopf. Eine Stablampe, die sie auf den Tisch gelegt hatte, warf lange Schatten durch den Raum. Nava verschwand aus seinem Blickfeld. Dann hörte er ein Reißen. Nava schob einen Stoffstreifen zwischen eine der Schellen und seine Haut.
«David, ich vereise die Fessel jetzt. Es wird einen Moment lang kalt sein.»
Caine hörte das unverkennbare Zischen einer Sprühdose, und sein Handgelenk fühlte sich eisig an unter der dünnen Stoffschicht.
Bevor er verarbeiten konnte, was sie gesagt hatte, hörte Caine ein scharfes Krachen wie von zerbrechendem Glas. Sein Arm war frei.
«Alles in Ordnung?»
«Ja, glaube schon», sagte Caine und bewegte versuchsweise den Arm. Es stach wie von tausend Nadeln. Caine war immer noch müde und benommen. Nava kümmerte sich nun um seinen anderen Arm und um die Beine. Sie hatte gerade die letzte Fessel eingesprüht, da vernahm Caine einen schweren Schlag.
Sie drehten sich beide zu dem Geräusch um. Zuerst sah Caine nur ihre dunklen Spiegelbilder, aber dann, als er genauer hinsah, hatte er den Eindruck, ein kleines Licht auf der anderen Seite zu erkennen. Erneut ein Schlag …
Auf einmal zersplitterten Caines und Navas Spiegelbilder, als ihnen die verspiegelte Wand mit einem unglaublichen Bersten entgegenflog. Caine hob den Arm, um sein Gesicht vor den herunterregnenden Glassplittern zu schützen. Tausend Miniaturspiegel wirbelten auf ihn zu; einige wenige kerbten ihm die Haut. Blut sickerte aus sieben winzigen Schnitten, riss ihn aus seinem Dämmerzustand.
Was ihn jedoch vollends in den Wachzustand versetzte, war ein hysterisches Geschrei.