Kapitel // 29 //

«Wer sind Sie?», fragte Nava und starrte den Mann mit der Fliege an. «Und woher wissen Sie, wie ich heiße?»

«Mein Name ist Peter. Ich bin ein Bekannter von David. Er hat mich gebeten, Sie hierher zu bringen.»

«Was bedeutet ‹hier›?»

«Sie befinden sich in meinem Forschungslabor.»

Nava hätte sich am liebsten die Augen gerieben, aber sie konnte nicht. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. «Wann hat er Sie kontaktiert?»

«Er hat gegen 17.15 Uhr hier angerufen.»

Nava fiel ein, dass David sich vor dem Verlassen der Kneipe kurz entschuldigt hatte. Natürlich – er hatte das Telefon benutzen wollen. Aber nur, weil die Zeitangabe stimmte, hieß das noch nicht, dass der Mann die Wahrheit sagte.

«Was hat er gesagt?»

Der Mann starrte einen Moment lang an die Decke, dann räusperte er sich. «Er hat gesagt … er hat gesagt, dass mein Partner eine seiner Studentinnen ermordet hat.»

«Julia Pearlman.»

Der Mann blinzelte mehrmals. «Ja. Ich habe ihm zuerst nicht geglaubt, aber da mein Partner verschwunden und Julia tot ist, musste ich zumindest in Erwägung ziehen, dass es stimmte. David wusste, dass ich die Untersuchungen für meinen Partner ausführe, dieselben Tests, die ich auch an David vorgenommen habe. Mein Partner drohte mir, dass er mich in die Sache mit hineinziehen würde, wenn ich nicht täte, was er wollte.»

Nava schwirrte der Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie packte das Skalpell fester. «Sie haben die Tests an David vorgenommen?»

Der Mann nickte.

«Sie sind Paul Tversky?»

«Aber nein», sagte er und schüttelte den Kopf. «Paul ist … äh, war … mein Partner. Ich bin Peter Hanneman.»

Nun verstand Nava gar nichts mehr. «Haben Sie ein Foto von Ihrem Partner?»

«Ja, habe ich.» Dr. Hanneman zeigte auf eine gerahmte Fotografie an der Wand. Sie zeigte ihn neben einem Mann mit vollem Haar, der einen Laborkittel trug. Nava erkannte den Mann, es war – Doc.

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Tversky und Doc waren ein und dieselbe Person. Er war die ganze Zeit bei ihnen gewesen. Sie hatten über die Tests gesprochen, und … Dann wurde es ihr plötzlich klar. Sie war davon ausgegangen, dass Tversky die Tests selbst vorgenommen hatte. Als sie David vor dem Arzt, der die Tests an ihm durchführte, gewarnt hatte, musste er natürlich gedacht haben, dass sie Peter Hanneman meinte und nicht Paul Tversky.

«Aber Julia hat auch von ‹Petey› gesprochen», sagte Nava mehr zu sich selbst als zu Peter Hanneman.

«Ja, manche seiner Studenten nennen ihn so», sagte Hanneman. «Es ist ein Spitzname, aus seinen Initialen gebildet: Paul Tversky, abgekürzt P. T., Pe-tey.»

Nava schüttelte den Kopf, als sie begriffen hatte. «Erzählen Sie weiter.»

«Paul sagte mir, dass er David bei seinen finanziellen Problemen helfen wolle, aber ohne ihn in eine unangenehme Situation zu bringen. Darum wollte er, dass ich David zweitausend Dollar für die Tests anbiete. Ich wusste nicht, dass Paul die Daten wirklich für irgendetwas benutzen wollte.»

«Moment», unterbrach Nava ihn, die noch immer ganz durcheinander war. «Was hat David noch gesagt, als er Sie anrief?»

«Er hat mir die Adresse der Wohnung in Brooklyn genannt und mir genau gesagt, wann ich dort eintreffen sollte. Er hat gemeint, dass Sie dringend medizinische Hilfe benötigen würden. Als ich in Brooklyn ankam, sind Sie gerade aus dem brennenden Gebäude gelaufen. Sie waren kurz vor dem Ersticken. Ich bin zwar kein Mediziner, aber ich kenne die menschliche Anatomie und verstehe ein wenig von erster Hilfe, also ist es mir gelungen, Sie wieder zu beleben. Dann habe ich Sie ins Labor gebracht und Ihre Wunden versorgt.» Hanneman zeigte auf Navas verbundene Hände.

«Wissen Sie, wo Ihr Partner jetzt steckt?»

Peter Hanneman schüttelte den Kopf.

«Verflucht.» Nava schwang ihre Beine herum und stellte die Füße auf den Boden.

«Moment, Sie können jetzt nicht gehen.»

«Dann schauen Sie mal genau hin», entgegnete Nava.

«Nein», sagte Hanneman, stellte sich vor sie und streckte die Hände aus, als wollte er einen Güterzug aufhalten. «David möchte, dass Sie hier bleiben und sich ausruhen. Er hat gesagt, dass Sie von ihm hören werden, wenn er Ihre Hilfe benötigt.»

«Sie meinen, er wird mich anrufen?»

«Ich … ich weiß nicht genau. Ich hatte den Eindruck, dass er sich über einen Dritten mit Ihnen in Verbindung setzen wird.» Hanneman nahm die Hände herunter. «Bitte. Ich sage die Wahrheit.»

Ein Blick auf sein ängstliches Gesicht bestätigte dies. Sie ließ sich wieder auf dem Bett nieder und kreuzte die Arme vor der Brust. Sie konnte hier nicht einfach auf Abruf herumsitzen. Sie musste etwas unternehmen. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr etwas fehlte. Ihr Rucksack war fort. Sie wollte schon wieder aufstehen, da bremste Hanneman sie.

«Ach, und David hat gesagt, Sie sollen sich keine Sorgen wegen Ihrer … ähm, ‹Kampfmittel› machen. Sie werden sie bald zurückerhalten, hat er gesagt.»

Nava lief eine Gänsehaut über den Rücken. Es war, als hätte Caine ihre Gedanken gelesen.

Er war tatsächlich der Laplace’sche Dämon.

 

«Wie geht es ihm?», fragte Paul Tversky und sah nervös zu, wie Jaspers Brust sich hob und senkte.

«Er schläft.» Forsythe warf einen letzten Blick auf die EEG-Werte der Kontrollperson und wandte sich um. «Viel wichtiger, wie geht es Ihnen?»

«Besser, jetzt, wo ich hier bin», sagte Tversky. «Ihre Männer waren ziemlich beeindruckend.»

«Nicht beeindruckend genug, fürchte ich.»

Tversky nickte. «Irgendetwas von David gehört?», fragte er zögernd.

«Nein», sagte Forsythe leicht gereizt. «Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Sie haben keine Vorstellung, wo er stecken könnte?»

«Überhaupt nicht», sagte Tversky. «Aber wie ich David kenne, wird er bald auftauchen. Solange wir seinen Bruder haben, wird er sich nicht einfach absetzen.»

«Gut zu wissen», sagte Forsythe und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kernspintomographie von Jaspers Hirn. «Falls Sie mir die Frage beantworten möchten, wie sind Sie darauf gekommen, dass die Antwort im Temporallappen liegt?»

«Nun ja», begann Tversky, sichtlich erleichtert, dass das Gespräch in theoretische Bahnen kam, «ich habe einen Artikel gelesen, in dem die Ansicht vertreten wird, dass zwischen dem mesialen Temporallappen, dem Hippocampus sowie dem damit verbundenen Gewebe des limbischen Lappens und außerkörperlichen Erfahrungen ein gewisser Zusammenhang bestehe. Ein Schweizer Arzt untersuchte Patienten mit pathologischen Temporallappen. Dann verglich er ihre Erlebnisse mit gesunden Patienten, deren Neurotransmitter mit verschiedenen Chemikalien wie LSD und Ketamin erregt worden waren.

Viele der ‹stimulierten› Patienten berichteten über optische und akustische Halluzinationen, andere über das Auftauchen verschütteter Erinnerungen, und manche hatten Halluzinationen, die mit denjenigen bei Nahtoderfahrungen vergleichbar waren. Andere erlebten Déjà-vus oder Jamais-vus. Da wurde mir klar, dass sämtliche dieser Symptome mit der Aura vor einem epileptischen Anfall übereinstimmen, was mich an Hans Bergers Experimente in den dreißiger Jahren erinnerte. Meine Aufgabe ist es nur noch, die einzelnen Teile miteinander zu verbinden.»

Forsythe nickte. «Was, meinen Sie, spielt sich genau auf der physiologischen Ebene ab?»

Tversky rieb sich das Kinn. «Ich bin mir noch nicht sicher. Aber wenn ich eine Vermutung äußern sollte, würde ich sagen, dass der Temporallappen dem Gehirn vielleicht gestattet, auf Realitätszweige zuzugreifen.»

«Realitätszweige?», fragte Forsythe. Er hatte diesen Begriff bereits gehört, wusste aber nur vage, was er bedeutete.

Tversky erklärte: «Wie Sie sicher wissen, existiert von den zwölf Quarks und zwölf Leptonen, aus denen alle Materie besteht, nur eine Hand voll in unserem Universum. Der Rest existiert überhaupt nicht oder verschwindet nach einer Nanosekunde. Nach Ansicht zahlreicher Vertreter der modernen Physik jedoch existieren sie woanders – in Parallelwelten, also in Realitäten, die neben unserer Welt existieren und andere physikalische Gegebenheiten aufweisen. Jedenfalls bestehen diese Parallelwelten nicht wie unsere Realität aus Quarks und Leptonen, sondern aus anderen Leptonenpaaren.»

«Faszinierend», sagte Forsythe, obwohl er von dem Gesagten kaum etwas verstanden hatte. Ihm war die Quantenmechanik immer zu abstrakt gewesen, um ihr viel Aufmerksamkeit zu widmen. Er wusste, dass die Physik subatomare Bauteile nachgewiesen hatte, die in dem uns bekannten Universum nicht vorkamen – er stellte nur die Wichtigkeit dieser Entdeckung in Frage. Was hatte man von der Erforschung hypothetischer Konstrukte, die sich in der Realität gar nicht beobachten ließen?

«Im Grunde», fuhr Tversky fort, «gehe ich davon aus, dass der rechte Temporallappen Interaktionen zwischen unserem Bewusstsein und solchen Realitäten ermöglicht. Ich glaube, die Halluzinationen und präkognitiven Erlebnisse, die David Caine erfahren hat, stammen aus seinem rechten Temporallappen, der auf Daten aus einem zeit- und raumlosen Realitätszweig zugreift.»

«Was, der Qantenmechanik zufolge, deshalb möglich ist, weil Zeit und Raum keine absoluten Begriffe sind; folglich existieren diese Daten außerhalb der Zeit als solcher», sagte Forsythe in dem Versuch, mit seinem eingeschränkten Verständnis von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie zu glänzen.

Tversky nickte bekräftigend.

«Und die Auren und Anfälle?», fragte Forsythe.

«Die Auren sind bewusste Manifestationen, die auftreten, wenn das Gehirn sich mit anderen Realitäten verbindet. Jedenfalls steigert solch eine Verbindung die neurale Aktivität des Gehirns auf dramatische Weise, was wiederum einen Anfall auslöst.»

«Als ob man seinen Finger in eine Lampenfassung steckt?»

Tversky runzelte die Stirn über Forsythes naives Beispiel, sagte jedoch: «Ja, so in etwa.»

Leicht verlegen stellte Forsythe eine weitere Frage, um Tversky zum Weiterreden zu animieren: «Haben Sie andere Forschungsarbeiten gefunden, die Ihre Theorie womöglich stützen?»

«Einige, aber viele sind es nicht. Vor einigen Jahren gab es eine umstrittene Studie, der zufolge das Praktizieren des chinesischen Qi Gong bei manchen Menschen dazu führte, dass sie allein durch die Kraft ihrer Gedanken das Kernresonanzspektrum bestimmter Chemikalien beeinflussen konnten.»

Forsythe nickte. Den Begriff ‹Qi Gong› hatte er schon einmal gehört, ihn jedoch immer mit einer Art Sekte in Verbindung gebracht. Es war ihm allerdings bekannt, dass diese Meditationstechniken auf der ganzen Welt erforscht wurden.

«In einer anderen Studie bewies ein deutscher Wissenschaftler, dass Yogameister ihre Hirnwellen durch intensives Meditieren signifikant verändern konnten. Und natürlich ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Temporallappen-EEGs von berufsmäßigen Hellsehern oft atypische Werte aufweisen.»

«Und was ist mit dem Zwilling?», fragte Forsythe. «Weist er vergleichbare Fähigkeiten wie Testperson Beta auf?»

Tversky beobachtete einen Moment lang Jaspers Werte auf dem Monitor, bevor er antwortete. «Ja und nein. Ein paar Mal schien er Dinge zu wissen, die er unmöglich wissen konnte – so hat er mich etwa auf meinem Handy genau in dem Augenblick angerufen, als David zu mir ins Auto gestiegen ist –»

«Wo wir gerade dabei sind», sagte Forsythe und drehte sich zu ihm um. «Wie kam es eigentlich, dass Sie genau in dem Moment, als Testperson Beta eine Fluchtmöglichkeit brauchte, in Philadelphia die Eisenbahnstrecke entlanggefahren sind?»

Tversky funkelte ihn an. «Sie formulieren das Problem falsch, James. Meine Anwesenheit dort war ein Zufall. Die Frage, die Sie stellen sollten, ist, woher David wusste, dass ich dort sein würde. Er hat das Zusammentreffen arrangiert, nicht ich, wenngleich ich nicht weiß, mit welcher Absicht.»

Forsythe nickte. Er war nicht gänzlich überzeugt, weil Tverskys Erklärung schon arg den Zufall bemühte, aber er hatte selbst auch keine andere Erklärung dafür. «Aber wir waren bei seinem Zwillingsbruder stehen geblieben …»

«Nun ja», sagte Tversky, «er verfügt eindeutig über außergewöhnliche Fähigkeiten, aber seine Gabe kommt nicht an die seines Bruders heran. Ich schlage vor, dass Sie mich mit ihm reden lassen, sobald er zu sich kommt. Ich habe eine Idee, wie wir ihn dazu bringen können, mit uns zusammenzuarbeiten. Und ich würde gerne etwas ausprobieren, bevor Sie David hierher bringen.»

«Und das wäre?»

«Ich glaube, ich weiß, wie wir David darin hindern können, seine Gabe zu benutzen», sagte Tversky. «Jetzt, wo er die Fähigkeit erlangt hat, sein Bewusstsein mit anderen Realitäten zu verbinden, rechne ich damit, dass er sehr viel leichter auf sie zugreifen kann als früher.»

«Wo liegt das Problem?», fragte Forsythe. «Genau das möchten wir doch.»

«Ja, es sei denn, er setzt seine Gabe der Zukunftsschau zur Flucht ein.»

Forsythe nickte. «Natürlich.»

«Aber wenn ich Recht habe», fuhr Tversky fort, «dann weiß ich vielleicht, wie wir das in den Griff bekommen. Wie sich David Caine abschalten lässt.»

 

«Jasper … Jasper, können Sie mich hören? Wachen Sie auf.»

Watte. Sein Kopf war voller Watte. Jasper bemühte sich, die Augen zu öffnen, aber die Lider waren zu schwer. Irgendjemand rüttelte an seiner Schulter. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen; die Lider waren jetzt leichter. Das Zimmer wurde langsam deutlicher. Es war so weiß, dass es blendete. Die Luft war kalt. Er hustete. Sein Mund war staubtrocken, seine Zunge ein dickes Stück Sandpapier. Da war ein Verband an seinem Arm … mit einer Nadel darunter.

«Jasper? Ich bin’s, Doc.»

Jasper wandte sich zu der Stimme und erkannte Doc, der ihn anlächelte. Jasper erwiderte sein Lächeln, aber dann hielt er inne. Irgendetwas stimmte nicht, auch wenn er nicht mehr wusste, was. Das Wissen waberte am Rand seines Bewusstseins, gerade außer Reichweite. Wenn bloß sein Bruder da wäre –

«Wo ist …?» Er hustete mit schwacher Stimme.

«Trinken Sie das», sagte Doc und hielt einen dünnen Strohhalm an Jaspers Lippen. Er saugte dreimal leicht daran und schluckte. Er konnte das Wasser spüren; ein eisiger Fluss, der ihm die Kehle hinunterrann. «Besser?», fragte Doc.

Jasper nickte und fragte unter Mühen: «Wo ist David? Ist er entkommen?»

Doc schüttelte den Kopf, das Gesicht voller Sorge. «Sie haben uns alle gekriegt, Jasper.»

Jasper schloss die Augen. Er verstand das nicht. Die Stimme hatte ihm gesagt, dass David entkommen würde. Er hatte alles richtig gemacht … und doch war es falsch gelaufen. Er hatte David schützen sollen, seine Gabe. Stattdessen hatte er ihn in eine Falle geführt. Jetzt waren sie in den Händen der Verschwörer. Ein Teil von ihm wusste, dass es so hatte kommen müssen. Er hatte es von Anfang an gewusst. Aber –

«Warum … warum sind Sie frei-high-schrei-Blei?», fragte Jasper verwirrt.

«Man wollte Ihren Bruder operieren … ihn aufschneiden», sagte Doc.

«Nein», sagte Jasper. «Das dürfen sie nicht … Lassen Sie mich mit ihnen reden … ich muss ihn beschützen …» Jasper versuchte, sich aufzusetzen, aber die Gurte hielten ihn fest.

«Schhhh … schhhh, ist ja gut. Ich habe sie davon überzeugt, dass David erst einmal Ruhe braucht.»

«Wirklich?»

«Ja.»

«Das ist gut», sagte Jasper und sank auf den Behandlungsstuhl zurück.

«Aber ich musste ihnen versprechen, dass Sie ihnen helfen», sagte Doc.

«Helfen? Wobei?»

«Sie wollen sehen, was Sie können, Jasper. Sie wollen verstehen.»

«Aber wie-Knie-Brie-Ski?», fragte Jasper. Er war verwirrt. Und er war müde, unglaublich müde.

«Hiermit», sagte Doc und hielt eine glänzende Silbermünze hoch. «Wenn ich sie werfe, können Sie mir dann sagen, ob es Kopf oder Zahl wird?»

Jasper schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht in die Zukunft sehen, nur wenn die Stimme mich leitet. Aber David … er kann es …»

Doc runzelte die Stirn. «Woher wussten Sie dann, dass Sie mich im Auto anrufen mussten?»

«Manchmal» – Jasper runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern – «kann ich das Jetzt sehen.»

Doc nickte leicht. «Wenn ich also die Münze werfe, können Sie mir sagen, was es ist, ohne hinzugucken?»

«Ich glaube schon … aber ich bin so müde, Doc.»

«Ich weiß, Jasper. Aber Sie müssen das tun … David zuliebe.»

«Na gut», sagte Jasper und merkte, dass er nicht deutlich sprechen konnte. «Meinetwegen-Regen-Segen-fegen

Doc drehte sich kurz um, sah in den Spiegel und hob die Brauen, bevor er sich wieder Jasper zuwandte. «Kann es losgehen?», fragte er.

«Ja.»

Jasper schloss die Augen. Er hörte, wie Doc die Münze hochwarf, in der Luft fing und mit einem gedämpften Klatschen auf seiner Hand ablegte.

«Kopf oder Zahl?»

«Zahl», sagte Jasper, immer noch mit geschlossenen Augen.

«Richtig. Gut gemacht, Jasper. Und jetzt nochmal.»

Schnipp. Fitsch. Klatsch.

«Zahl-Wal-schal-Qual

«Gut … die Chance für zwei richtige Tipps in Folge liegt bei 25 Prozent», sagte Doc. «Nochmal.»

Schnipp. Fitsch. Klatsch.

«Kopf.»

«Gut. 12,5 Prozent.»

Schnipp. Fitsch. Klatsch.

«Zahl.»

«Hervorragend … Wahrscheinlichkeit 6,25 Prozent.»

Schnipp. Fitsch. Klatsch.

«Kopf-Tropf-Zopf-klopf

«Großartig. 3,125 Prozent. Jetzt tippen Sie bitte noch einmal, aber diesmal mit geöffneten Augen.»

Jasper war verwirrt. «Aber dann kann ich das Jetzt nicht mehr sehen.»

«Versuchen Sie es einfach. Bitte, Jasper, David zuliebe.»

Jasper öffnete die Augen. Der weiße Raum blendete ihn.

Schnipp. Fitsch. Klatsch.

Jasper versuchte zu sehen, was es war, aber es ging nicht. «Kopf», riet er.

«Tja, na schön», sagte Doc und zog seine Hand weg. Die Münze lag mit der Zahl oben. «Ich denke, das reicht. Sie können jetzt weiterschlafen.»

«Gut-Brut-Mut-Nut», sagte Jasper. Er wollte so gern wieder schlafen, aber vorher musste er Doc noch eine Frage stellen. «Wann … wann kann ich David sehen?»

«Bald, Jasper», sagte Doc. «Er wird bald hier sein.»

 

Caine schlief bis drei Uhr nachmittags. Als er in dem dunklen Motelzimmer erwachte, duschte er und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung. Trotz seines pochenden Knies genoss er den Fußweg in der kalten Winterluft. Er wusste, es war vielleicht sein letzter. Zu Hause angekommen, machte er sich nicht die Mühe abzuschließen. Wozu auch?

Wenn sie kamen, würde sein Sperrriegel sie ohnehin nicht aufhalten. Die Uhr an der Wand zeigte 4 : 28 : 14. Er hatte Zeit bis 4 : 43 : 27, dann kamen sie. Vielleicht noch ein paar Sekunden später. Er konnte die exakte Zeit herausbekommen, wenn er wollte, aber es war nicht nötig. Er hatte nur noch zweierlei vorzubereiten, dann würde er der Welt ihren Lauf lassen.

Seine Chancen, dass er die nächsten 24 Stunden überlebte, lagen bei ansehnlichen 43,9 Prozent, wenngleich es nur eine 13,1-prozentige Chance gab, dass er nach seinen eigenen Regeln würde leben können und nicht als Docs Versuchskaninchen. Er versuchte, nicht zu viel an Docs Verrat zu denken. Wenn er das hier überlebte, konnte er noch ewig darüber nachdenken – im wahrsten Sinne des Wortes.

Und wenn nicht, nun … dann war es auch egal.

 

«Verflucht, ich glaub’s nicht!» Grimes wirbelte herum und drückte Crowes Durchwahl. «Ich hab ihn!»

«Wo?»

«Sie werden es nicht glauben», sagte Grimes und starrte auf den Monitor. «Er ist in seiner Wohnung.»

«Sagen Sie den anderen Bescheid. Sie sollen sich ausrüsten und auf dem Heliport zu mir stoßen. In drei Minuten.»

«Verstanden.»

Nachdem Grimes mit Dalton geredet hatte, rief er Dr. Jimmy an. «Ich habe die Zielperson lokalisiert.»

«Verständigen Sie Crowe.»

«Schon erledigt», sagte Grimes. «Sein Team zieht in einer Minute los.»

«Sie haben ihm die Position der Testperson genannt?», fragte Forsythe.

«Nein», sagte Grimes und verdrehte die Augen. «Er wollte lieber ‹Heiß oder kalt› spielen.»

«Stellen Sie mich zu ihm durch.»

Grimes legte zwei Schalter um, und Forsythe war weg. «Gern geschehen», sagte Grimes in sein jetzt abgeschaltetes Mikro. Na toll. Kein «Gut gemacht», kein schlichtes «Wie haben Sie das geschafft?». Bloß ein gebieterisches «Stellen Sie mich durch!». Als ob er irgendeine blöde Telefonistin wäre. Jimmy hatte null Ahnung, wie verdammt talentiert sein engster Mitarbeiter war. Er nahm es einfach als selbstverständlich hin. Als ob es das Leichteste der Welt wäre, sich in den Großrechner der NSA zu hacken und die Signale der AV-Ausrüstung abzuzweigen, die sie in der Wohnung der Zielperson versteckt hatten.

Dann leck mich doch, Jimmy.

Leck mich doch.

Da er nichts anderes zu tun hatte, beschloss Grimes, sich das Ganze in seiner persönlichen Folge von Versteckte Kamera anzusehen. Dem GPS des Hubschraubers nach zu urteilen, würden Crowe und seine Jungs sich in ungefähr zehn Minuten auf das Dach der Zielperson abseilen. Solange Caine blieb, wo er war, gab es diesmal keine Möglichkeit zu entkommen. Und selbst wenn er es versuchte: Der Himmel war wolkenlos, was bedeutete, dass der KH-12 ihn ohne Probleme verfolgen konnte. Grimes hatte bereits vorgesorgt und den Spionagesatelliten in Position gebracht, nur für den Fall der Fälle.

Er glaubte jedoch gar nicht, dass Caine fliehen würde. So ein Pech aber auch. Ihm war es lieber, wenn sie flohen. Aber Crowe zuzuschauen, wie er durch diese Tür platzte, würde auch Spaß machen. Mann, er beneidete David Caine jetzt nicht. Er beneidete ihn kein bisschen.

 

Caine humpelte in die Küche, um etwas zum Schreiben zu holen. Er fand nur einen Briefumschlag, dessen Rückseite unbeschrieben war. In großen Buchstaben schrieb er seine Nachricht darauf und unterzeichnete. Die Nachricht war nur 21 Wörter lang, aber sie könnte alles ändern. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von der richtigen Person gelesen wurde, war hoch – 87,3246 Prozent –, aber sicher war es nicht.

Caine hatte gelernt, dass niemals etwas hundertprozentig sicher war.

Ihm blieben noch neun Minuten und siebzehn Sekunden. Er drehte mehrere Runden durch die Wohnung, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er rückte seinen Stuhl zurecht, mit dem Gesicht zur Grünlilie, dann begann er zu reden. Als er fertig war, fing er wieder von vorn an, nur für den Fall. Nach dem dritten Durchgang brach er ab. Es bestand immer noch eine 8,7355-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass sein Monolog nicht gehört worden war, aber ihn erneut zu wiederholen, war zu riskant.

Er legte den Umschlag in seinen Schoß, mit der gerade beschriebenen Seite nach unten, und schloss die Augen. Er hatte alles getan, was er tun konnte. Ob es funktionierte oder nicht, lag nicht mehr in seiner Hand. Es fühlte sich merkwürdig an, die Kontrolle abzugeben. Obwohl er die ersten dreißig Jahre seines Lebens völlig schicksalsergeben verbracht hatte, fand er das ganze Vorhaben jetzt beängstigend.

Am liebsten wäre er einfach abgehauen. Ihm blieben noch vier Minuten. Genug Zeit, um die Wohnung zu verlassen und unterzutauchen. Er wusste, dass er es schaffen konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ihm gelang, das Land zu verlassen und Forsythe für immer los zu sein, lag bei 93,4721 Prozent. Aber dann musste er Jasper im Stich lassen, und das konnte er nicht. Also saß er wie festgeklebt auf seinem Stuhl, mit zitternden Händen, mit pochendem Knie, mit klopfendem Herzen, und wartete ab.

Wartete ab, ob sein großer Plan funktionieren würde.

Oder ob er sterben würde.

 

Beim zweiten Klingeln des Telefons war Nava hellwach. Dr. Hanneman eilte durchs Zimmer und hob ab.

«Hallo? … Ja, einen Moment.» Er hielt Nava den Hörer hin, und sie riss ihn ihm aus der Hand.

«Nava Vaner?», sagte ein Mann mit breitem russischem Akzent.

«Wer ist dort?», fragte sie. Ihre Nackenhaare sträubten sich; auf einmal fiel ihr Chang-Suns Drohung wieder ein, dem SVR ihre Identität zu verraten. Aber selbst wenn er die russische Regierung informiert hatte, konnte er doch unmöglich wissen, wo sie sich gerade aufhielt – oder doch?

«Mein Name ist Vitaly Nikolaev. Ich bin ein Freund von Mr. Caine. Er hat mich gebeten, Sie anzurufen.»

«Wo ist er?»

«Das weiß ich nicht, aber er hat gesagt, Sie und ich sollten uns treffen.»

«Woher weiß ich, dass Sie derjenige sind, der zu sein Sie vorgeben?»

Aus dem Hörer kam ein raues Lachen. «Mr. Caine hat mir schon erzählt, dass Sie ein misstrauischer Mensch sind – Tanja

Navas Herz setzte einen Schlag aus. Caine kannte ihren russischen Namen, aber die RDEI kannte ihn auch.

«Und noch etwas hat er gesagt», fügte Nikolaev hinzu: «Irgendwo muss Vertrauen anfangen.» Nava stieß die Luft aus. Genau diese Worte hatte sie im Zug zu Caine gesagt. Die Nachricht war echt.

«Wann und wo?», fragte Nava.

«Sergey kommt Sie abholen.»

«Ist das Ihr Fahrer?»

«Ja», lachte Nikolaev, «er ist Fahrer. Seien Sie in dreißig Minuten bereit.» Es klickte, dann war die Leitung tot. Nava legte den Hörer auf.

«Ist alles in Ordnung?», fragte Hanneman und knetete nervös die Hände.

«Ich habe keine Ahnung», sagte sie. «Aber ich werde es bald erfahren.»

 

«Sind sie schon dort?»

«Nein», sagte Grimes und stellte die Kamera rasch auf Liveübertragung.

«Was war das?», fragte Forsythe.

«Was?»

«Dieser Sprung eben. Gerade saß Caine noch vor der Pflanze, jetzt steht sein Stuhl mitten im Zimmer.»

«Wettereinflüsse», log Grimes. «Manchmal verursachen elektrische Interferenzen in Gewitterwolken eine Unterbrechung des Signals. Kein Grund zur Sorge.»

Forsythe nickte. «Wo ist Crowe?»

Grimes zeigte auf einen blinkenden grünen Punkt auf einem anderen Bildschirm. «Er überfliegt gerade den Central Park. Sie sollten in ein paar Minuten dort sein.»

«Gut», sagte Forsythe. Er verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich zu dem Monitor, der die Bildübertragung aus Caines Wohnung zeigte. «Was tut er da?»

Grimes sah auf das körnige Schwarzweißbild. David Caine saß mitten im Zimmer auf einem Stuhl, das Gesicht zur Tür gewandt. Seine Augen waren geschlossen, aber an seiner Körperhaltung war zu sehen, dass er nicht schlief.

«Sieht aus, als ob er …» Grimes verstummte. Es ergab keinen Sinn, aber nach dem, was er gerade über seinen Kopfhörer gehört hatte, ergab gar nichts mehr Sinn, oder? «Sieht so aus, als ob er wartet.»