Kapitel // 8 //

Der Pistolenschuss war ohrenbetäubend. Viel lauter, als er erwartet hatte. Als er den Schuss hörte, erstarrte der Mann, der über Jaspers Bruder hergefallen war, und die Faust, mit der er gerade ausholte, hing in der Luft, als wäre er ein Boxer in einem Comic.

«Lassen Sie ihn los.» Jaspers Stimme zitterte ein wenig, aber das war ihm egal. Die Pranke, die den Hals seines Bruders gepackt hatte, löste sich und hob sich dann langsam. David sackte heftig hustend auf die Knie.

«Alles in Ordnung mit dir?», fragte Jasper.

«Wo kommst du denn auf einmal her?», fragte David hustend.

«Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzählen würde. Wer ist das?» Jasper zeigte auf den Schlägertyp, der immer noch die Hände gehoben hatte.

«Das ist Sergey», sagte David mit rauer Stimme. Er rappelte sich hoch und achtete sehr darauf, außer Reichweite des großen Russen zu bleiben. «Sergey, sagen Sie Vitaly, dass ich sein Geld bis zum Ende der Woche beschaffen werde.»

«Das wird Mr. Nikolaev nicht gefallen», grunzte Sergey.

«Nein, wahrscheinlich nicht», sagte David. «Sagen Sie es ihm einfach, okay?»

Sergey zuckte mit den Achseln, wie um zu sagen: Wie Sie wollen, es ist ja Ihre Beerdigung.

David wich vor ihm zurück und stellte sich hinter Jasper. Der wendete die Waffe und schlug Sergey mit dem Griff auf den Hinterkopf. Der hünenhafte Mann stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

«Und jetzt nichts wie weg hier, ehe dein Freund wieder zu sich kommt», sagte Jasper schwer atmend.

David sah seinen Bruder zum ersten Mal richtig an. «Woher wusstest du …?»

Jasper hätte es ihm gern erzählt, wusste aber, dass David noch nicht so weit war. Bei David war es wichtig, dass er sich normal anhörte. Wenn er sich verrückt aufführte, würde David ihm nicht vertrauen. Aber Jasper machte sich da keine Sorgen: Er hatte fast sein ganzes Leben lang geistige Gesundheit vorgetäuscht und beherrschte das ausgezeichnet.

«Ein Glücksfall, schätze ich mal», log Jasper. «Komm, gehn wir.»

Jasper nahm seinen Bruder beim Arm und führte ihn fort. Nachdem sie ein paar Blocks weit gegangen waren, blieb David stehen.

«Warte mal, wohin gehen wir?», fragte er.

«Zu dir nach Hause.»

«Nein, das geht auf gar keinen Fall», erwiderte David und schüttelte heftig den Kopf. «Nikolaev wird dort nach mir suchen.»

«Nein, wird er nicht», sagte Jasper zuversichtlich.

«Woher willst du das wissen?»

Jasper antwortete nicht. Vielmehr nahm er David wieder beim Arm, lief los und zog seinen Bruder mit.

 

Als sie in Caines Wohnung kamen, schlich schon ein Streifen frühes Morgenlicht über den Fußboden. Draußen vor dem Fenster sah Caine die Sonne über den Horizont spähen. Der Wanduhr nach war es 6.28 Uhr. Sie und der Anrufbeantworter waren die einzigen elektronischen Geräte, die in der Wohnung noch übrig waren. Alle anderen waren gestohlen. Das musste er Nikolaev lassen: Wenigstens war er gründlich.

Schachfiguren aus poliertem Stein lagen über den Boden verstreut. Caine bückte sich und hob einen schwarzen Springer auf. Das Pferdemaul war abgebrochen. Ihn überkamen Trauer und ein Gefühl des Verlusts. Das Schachspiel war das einzig Wertvolle gewesen, was er besaß. Caine hatte es zu seinem sechsten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen. Von dem Moment an, da sein Vater die seltsam aussehenden Figuren auf dem schwarzweißen Brett aufgestellt hatte, hatte das Spiel Caine in seinen Bann geschlagen.

«Schach ist wie das Leben, David», hatte sein Vater gesagt. «Jede Figur hat eine bestimmte Funktion. Manche sind schwach, andere sind stark. Manche sind gut für den Anfang, andere sind am Ende mehr wert. Aber du musst sie alle nutzen, um zu gewinnen. Und wie im Leben kommt es auf den Spielstand nicht an. Du kannst zehn Figuren weniger haben und trotzdem gewinnen. Das ist das Schöne am Schach: Ein Comeback ist bis zum Schluss möglich. Und um zu gewinnen, musst du dir nur über alles im Klaren sein, was auf dem Brett vor sich geht. Und du musst herausfinden, was dein Gegner als Nächstes tun wird.»

«Die Zukunft vorhersagen, meinst du?», fragte Caine.

«Die Zukunft vorhersagen kann man nicht. Aber wenn du genug über die Gegenwart weißt, kannst du die Zukunft steuern

Damals verstand Caine nicht, was sein Vater damit meinte, aber dennoch wurde er ein begeisterter Schachspieler. Allabendlich, nachdem Jasper und er den Tisch abgeräumt hatten, spielte sein Dad mit jedem von ihnen eine Partie, ehe die Zwillinge ihre Hausaufgaben machten. Jasper gewann nie gegen seinen Vater, Caine aber siegte regelmäßig gegen ihn.

Caine hob den weißen König auf und stellte ihn wieder auf seinen Platz. Es war nun schon über zehn Jahre her, dass sein Vater gestorben war. Das Schachspielen mit ihm fehlte Caine immer noch.

«Weißt du», sagte Jasper und riss Caine damit aus seinen Gedanken. «Ich glaube, Dad hatte dich lieber, weil du so gut spielen konntest.»

«Dad hatte mich nicht lieber», sagte Caine, obwohl er wusste, dass an dem, was sein Bruder da sagte, mehr als nur ein Körnchen Wahrheit dran war. «Und außerdem warst du auch ein guter Spieler, wenn du dich mal konzentriert hast. Dein Problem war, dass du nie lange genug still sitzen konntest. Du hast immer irgendwelche Flüchtigkeitsfehler begangen, die es einem dann leicht gemacht haben, dich zu attackieren.»

Jasper zuckte mit den Achseln. «Konzentration ist dein Ding, nicht meins», sagte er. «Hast du ein Kissen?»

Das war’s dann mit dem Schwelgen in Erinnerungen, dachte Caine. Er hatte Jasper so verstanden, dass ihr Gespräch damit beendet war. Er richtete Jasper die Couch her und legte sich dann auf sein Bett. Fast augenblicklich schlief er ein. Ganz langsam trieb sein Geist hinaus auf die See des Unterbewussten. Und dann saß er 

… in einem Zug nach Philadelphia.

Der Waggon schaukelt sacht hin und her, was einschläfernd auf ihn wirkt. Er hat das stete Klick-Klack, Klick-Klack im Ohr. Die Bäume draußen vor dem Fenster ziehen als verschwommener brauner Streifen an ihm vorbei. Er guckt nach unten, und was er da sieht, überrascht ihn. In seiner linken Hand liegt eine andere, viel kleinere Hand. Sie gehört Elizabeth. Das kleine Mädchen strahlt Caine an und drückt einen seiner Finger.

Caine sieht zu seiner rechten Hand hinüber. Sie ist fest geschlossen und wird gehalten von einer großen, weichen Hand mit langen roten Fingernägeln. Caine sieht die Frau an und möchte sie bitten, ihren Griff zu lösen. Als sie ihm das Gesicht zuwendet, kommt sie ihm irgendwie bekannt vor. Ihm wird erst klar, wer sie ist, als er ihren dicken Bauch bemerkt. Die schwangere Frau aus dem Krankenhaus.

«Wohin fahrt ihr?», fragt Caine die beiden.

«Wo du auch hinfährst», antworten sie einstimmig.

«Und warum das?», fragt Caine, ohne recht zu wissen, was er durch diese Frage eigentlich erfahren will.

«Weil das nun mal so funktioniert», antwortet Elizabeth.

«Ah», erwidert Caine, so als wäre das eine absolut plausible Antwort.

Und in einem Winkel seines nun mit Dopamin überschwemmten Hirns war sie das tatsächlich.

 

Dr. Tversky richtete sich die Krawatte, ehe die Tür aufglitt. Zwei Männer in grün-schwarzem Tarnanzug empfingen ihn. Er hatte nie verstanden, warum das Militär in der Stadt Kleidung trug, die dazu bestimmt war, sich darin zwischen Urwaldlaub zu verbergen. In dem grauen Raum fielen die massigen Männer mit ihrer Tarnkleidung eher auf, wirkten wie große, dreidimensionale Actionfiguren.

«Weisen Sie sich bitte aus, Sir.» Die Aufforderung klang wie ein Befehl.

Dr. Tversky reichte der Wache seinen Führerschein und wartete, während der Mann einen Besucherausweis ausstellte. Er bekam ihn ausgehändigt, betrachtete kurz den laminierten Zettel und klemmte ihn sich vor die Brust. In großer Blockschrift stand darauf TVERSKY, P., gefolgt von einem schwarzen Strichcode. Wann hatten die Menschen angefangen, es für vollkommen selbstverständlich zu halten, dass sie etikettiert wurden wie ein Stück Seife?

Er war überrascht, als er in der oberen rechten Ecke des Ausweises ein Foto von sich sah. Das musste kurz zuvor eine der vielen verborgenen Kameras hier in der STR-Anlage aufgenommen haben. Tversky starrte das Bild an; er hatte noch nie ein derart ungestelltes Foto von sich gesehen. Einen Moment lang war er bestürzt – der Mann auf dem Bild sah nicht gut aus. Er wirkte ungehalten und fast ein wenig ängstlich. Tversky fragte sich, ob die Emotionen, die er seinem Gesicht ansah, für Forsythe ebenso augenfällig sein würden.

Das konnte er sich bei diesem Termin nicht erlauben. Forsythe würde seine Furcht wittern und sie ausnutzen, zumal es recht unwahrscheinlich war, dass Forsythe ihm überhaupt glauben würde. Tverskys Ansicht nach war Forsythe nie ein großer Denker gewesen. Eher ein besserer Verwalter. Und dennoch war Tversky hier, um diesen Mann, der ihm nicht das Wasser reichen konnte, um Geld zu bitten.

Und um Unterstützung.

 

Forsythe saß an seinem großen Schreibtisch und starrte seinen alten Forscherkollegen an. Was Tversky ihm gerade geschildert hatte, war geradezu unglaublich. Nein, nicht unglaublich – unmöglich. Doch selbst wenn seine Geschichte nur ein Fünkchen Wahrheit enthielt, konnte Forsythe sie nicht ignorieren. Ja, womöglich war sie genau das, was er brauchte. Er beschloss, Tversky auf den Zahn zu fühlen, um zu sehen, wie weit der Mann an seine eigene Theorie glaubte.

«Das ist sicherlich eine interessante Sache», sagte Forsythe unverbindlich. «Aber was wollen Sie von mir?»

«Ich brauche Ihre Unterstützung. Es ist ja offensichtlich, dass ich nicht die nötigen Mittel habe, um dieses Phänomen effektiv zu erforschen. Aber mit Ihrer finanziellen Unterstützung …»

«… würden Sie das tun», beendete Forsythe den Satz und legte die Hände in den Schoß.

«Ja, das würde ich», erwiderte Tversky und biss die Zähne zusammen. Forsythe schüttelte in Gedanken den Kopf. Er hätte erwartet, dass ein hochintelligenter Mann wie Tversky an diesem Punkt seiner Karriere mittlerweile gelernt hatte, seine Wut im Zaum zu halten. Zumal wenn er mit einem potenziellen Geldgeber sprach. Auf der anderen Seite war es Tverskys – und Konsorten – Unfähigkeit, mit Menschen umzugehen, die Forsythes Aufstieg erst ermöglicht hatte.

«Ich würde Ihnen ja gerne helfen», begann Forsythe, «aber was Sie da schildern, widerspricht siebzig Jahren Quantenphysik. Wie Sie wissen, besagt die Heisenberg’sche Un–»

«Heisenberg hat sich geirrt», sagte Tversky.

«Ach ja?» Forsythe hatte zwar Übung im Umgang mit der unglaublichen Hybris mancher Wissenschaftler, aber Tverskys dreiste Aussage verblüffte ihn dann doch. Es gab zwar immer noch ein paar Renegaten, die die Gültigkeit der Heisenberg’schen Unschärferelation bestritten, aber davon abgesehen, wurden die Grundsätze der Quantenmechanik, wie Werner Heisenberg sie formuliert hatte, von praktisch sämtlichen führenden Physikern der Erde anerkannt.

In seinem berühmten Aufsatz von 1926 hatte Heisenberg mathematisch nachgewiesen, dass es unmöglich war, einen Vorgang zu beobachten, ohne sein Ergebnis zu beeinflussen. Um das zu beweisen, hatte er sich die Situation vorgestellt, dass ein Wissenschaftler die genaue Position und die genaue Geschwindigkeit eines subatomaren Teilchens bestimmen möchte.

Das ließ sich nur erreichen, indem man das Teilchen mit einer Lichtwelle bestrahlte. Durch die Analyse der sich dabei ergebenden Streuung der Lichtwelle konnten die Wissenschaftler feststellen, wo sich das Teilchen befand, als es von der Lichtwelle getroffen wurde. Dieses Experiment hatte jedoch einen unerwünschten Nebeneffekt: Da die Geschwindigkeit des Teilchens unbekannt war, bis es von der Lichtwelle getroffen wurde, ließ sich nicht feststellen, inwiefern die Geschwindigkeit des Teilchens durch den Kontakt mit der Lichtwelle verändert wurde.

Damit zeigte Heisenberg, dass sich Position und Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit bestimmen ließen, dass in der physikalischen Welt also immer eine gewisse Unschärfe, eine Ungenauigkeit der Messungen, vorlag. Heisenberg lehnte die Existenz absolut gültiger Gesetze ab, die von der Newton’schen Physik postuliert wurde, und behauptete, die Welt sei nicht schwarz oder weiß – sondern grau. Subatomare Teilchen hatten in der realen Welt keine genaue Position, sondern nur eine probabilistische, was bedeutet, dass, selbst wenn ein bestimmtes Teilchen sich wahrscheinlich an einem bestimmten Ort befindet, es tatsächlich erst dort ist, wenn es an diesem Ort auch beobachtet wird.

Heisenberg konnte damit zeigen, dass man durch Beobachtungen nicht erfahren konnte, wo sich ein Teilchen in der Natur tatsächlich befand, sondern nur, wo es sich befand, während es beobachtet wurde. Und obwohl vielen Wissenschaftlern diese Vorstellung zuwider war, war Heisenbergs Theorie eines probabilistischen Universums absolut vereinbar mit allgemein anerkannten physikalischen Gleichungen.

Im Jahr 1927 einigten sich dann einige Physiker auf die so genannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die Heisenbergs Theorie stützte und postulierte, dass beobachtete Phänomene anderen physikalischen Gesetzen unterliegen als nicht beobachtete Phänomene. Das warf nicht nur einige hochinteressante philosophische Fragen auf, sondern zwang die Wissenschaftler auch zuzugeben, dass buchstäblich alles möglich war, da die Welt eher von Wahrscheinlichkeiten als von Gewissheiten regiert wurde.

So befand sich beispielsweise ein Teilchen, das sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Labor eines Wissenschaftlers befand, möglicherweise am anderen Ende des Universums. Es war die Geburtsstunde der modernen Quantenphysik, und obwohl die meisten Leute nicht behaupten konnten zu verstehen, wie so etwas möglich war, gelang es niemandem, Heisenbergs Behauptungen zu widerlegen.

Dennoch wurde die Theorie nicht überall gutgeheißen, vor allem nicht von eifrigen Newtonianern, die der Lehre des Determinismus anhingen – die besagt, dass das Weltall von unveränderlichen Gesetzen beherrscht wird und nichts ungewiss ist. Die Deterministen waren der Überzeugung, dass alles eine Folge von bestimmten Ursachen war und sich vollständig vorhersagen ließ, wenn die Menschheit erst einmal die «wahren» Naturgesetze und den gegenwärtigen Zustand des Universums kennen würde.

Forsythe ließ sich das durch den Kopf gehen und überlegte, wie er Tverskys Behauptung am besten infrage stellen konnte.

«Wenn man Heisenberg ablehnt, bekennt man sich zum Determinismus», sagte Forsythe vorsichtig. «Ist es das, was Sie damit sagen wollen?»

«Möglicherweise. Meiner Ansicht nach wurde der Determinismus nie restlos widerlegt.»

«Was ist mit Charles Darwin?»

Tversky verdrehte die Augen, als Forsythe den Mann erwähnte, der als einer der Ersten den Determinismus angefochten hatte. Die Heisenberg’sche Unschärferelation wurde oft als letzter Nagel im Sarg des Determinismus betrachtet, aber Darwins Evolutionstheorie war einer der größten Nägel.

Als Darwin sein revolutionäres Werk Über die Entstehung der Arten schrieb, lieferte er Philosophen wie Physikern das Bild einer Welt, die nicht erschaffen war von einer göttlichen Macht, sondern sich im Laufe von Jahrmillionen durch unzählige zufällige Mutationen entwickelt hatte. Nachdem das Werk 1859 erschienen war, musste jeder, der nunmehr an die Evolution glaubte und nicht mehr an einen allmächtigen Schöpfer, jegliche Form von Prädestination und damit auch den Determinismus ablehnen.

«Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht an die Evolution glauben? Erzählen Sie mir doch bitte nicht, Sie wären Kreationist.»

Tversky knirschte kurz mit den Zähnen, ehe er antwortete; Forsythe lächelte. Das Einzige, was er noch mehr schätzte als eine intellektuelle Debatte, war, wenn er einem seiner Brüder aus dem Elfenbeinturm auf die Nerven gehen konnte. Ihm war klar, dass es lächerlich war, Tversky als Kreationisten zu bezeichnen, aber gerade deshalb machte es ihm ja so viel Spaß. Tversky jedoch ging das eindeutig zu weit, und er verfiel in einen gehässigen Vortragston.

«Natürlich glaube ich an die Evolution. Allerdings ist Darwins These, die Evolution und die natürliche Zuchtwahl beruhten auf zufälligen Mutationen, alles andere als bewiesen. Nur weil die moderne Wissenschaft bisher nicht in der Lage war festzustellen, was genau Mutationen auslöst, bedeutet das noch lange nicht, dass sie zufällig erfolgen. Zufälligkeit ist doch nur der äußere Anschein eines Phänomens, das wir bisher noch nicht verstanden haben.

Das menschliche Genom enthält über 3,2 Milliarden Nukleotidbasen. Wer wollte da behaupten, es gäbe innerhalb dieses Genoms keine chemischen Strukturen, die dafür sorgen, dass die körperlichen Merkmale der Nachkommen einer bestimmten Person auf sinnvolle Weise bestimmten äußeren Widrigkeiten angepasst werden – wie beispielsweise dunklere Haut in tropischen Klimaten oder höhere Wangenknochen in Regionen, in denen oft starke Winde wehen?»

Forsythe hob die Hände. «Also gut, Sie haben mich überzeugt. Ich nehme das zurück – ich halte Sie nicht für einen Kreationisten. Aber dennoch: Was ist mit dem Determinismus? Was ist mit Maxwell?»

James Clerk Maxwell, ein philosophischer Urgroßvater Heisenbergs, war einer der brillantesten Physiker des neunzehnten Jahrhunderts, am besten bekannt durch seine Studien zu elektromagnetischen Wellen und zur Thermodynamik und Entropie. Diese besagt, dass sich Wärme stets von einem Körper mit höherer Temperatur zu einem Körper mit geringerer Temperatur hin ausbreitet, bis die Temperatur der beiden Körper ausgeglichen ist.

Er zeigte, dass, wenn man einen Eiswürfel in ein Glas warmes Wasser legt, nicht die Kälte des Eises in das Wasser übergeht, sondern die Wärme des Wassers in das Eis. Das Wasser erwärmt den Eiswürfel, bis er schmilzt und die gesamte Flüssigkeit ein thermisches Gleichgewicht erreicht. Wie Heisenberg war Maxwell jedoch kein großer Verfechter absolut gültiger Gesetze, und obwohl er die erste Hälfte seiner Laufbahn über versuchte, diese Gesetze zu entdecken, verbrachte er die zweite Hälfte damit, sie wieder in Frage zu stellen.

Sein größter Erfolg auf diesem Gebiet war der Nachweis, dass der berühmte Zweite Hauptsatz der Thermodynamik kein Naturgesetz war. Dieser besagt, dass die Entropie in einem geschlossenen System nur zunehmen kann, das heißt, dass Energie sich immer ausbreitet, nie zusammenzieht. Mit diesem Satz konnte man alles Mögliche erklären: beispielsweise warum Felsen den Berg nicht hinaufrollen und warum sich leere Batterien nicht einfach so wieder aufladen. Denn dies würde voraussetzen, dass sich Energie spontan zusammenzöge, das genaue Gegenteil dessen, was der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik konstatiert: dass sich Energie immer ausbreitet und ein geschlossenes System sich immer hin zur größtmöglichen Unordnung entwickelt.

Maxwell gelang jedoch der Nachweis, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik keine absolute Gültigkeit hat. In einem Gedankenexperiment füllte er dazu einen Behälter mit Gas. Dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gemäß konnte man davon ausgehen, dass sich die Gasmoleküle gleichmäßig ausbreiten würden, bis sie den gesamten verfügbaren Raum ausfüllten. Das würde darauf schließen lassen, dass überall im Behälter die gleiche Temperatur herrscht, da die Wärme durch die unablässigen zufälligen Bewegungen der Moleküle erzeugt wird.

Maxwell erkannte nun, dass, da Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit der Moleküle zufällig waren, es möglich war, dass sich die Moleküle, die sich am schnellsten bewegten, in einer bestimmten Ecke des Behälters ansammelten. Dies würde durch die spontane Konzentration von Energie an der Stelle, an der sich die Moleküle gesammelt hatten, zu einem kurzen Temperaturanstieg führen – was eindeutig im Widerspruch zum Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik stand.

Maxwell gelang es damit zu zeigen, dass der Zweite Hauptsatz nur probabilistisch oder «meistens» zutraf. Daraus zog er die Schlussfolgerung, dass den meisten physikalischen Gesetzen keine absolute Gültigkeit zuzumessen war.

«Maxwells Beweis, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nur probabilistisch und nicht absolut gültig ist, wird gern als Beweis dafür herangezogen, dass es den Zufall gibt», sagte Tversky. «Ich aber würde eher postulieren, dass Zufälligkeit nur der äußere Anschein ist, nicht die Realität.»

Forsythe hob bei dieser verwegenen Behauptung die Augenbrauen. Was Tversky damit andeutete, war unglaublich. Sie beide wussten, was er meinte, aber Forsythe musste es aussprechen, und sei es nur, um es einmal laut zu hören.

«Sie glauben also, dass Impuls und Richtung der Elektronen nicht zufällig sind?»

«Wenn man wirklich an Heisenbergs Theorie glaubt, dass alles möglich ist», sagte Tversky, «dann muss es auch möglich sein, dass die Bewegungen der Elektronen nicht zufällig verlaufen.»

«Was liegt den Bewegungen der Elektronen denn sonst zugrunde, wenn sie nicht zufällig verlaufen?»

«Spielt das eine Rolle?», fragte Tversky.

«Natürlich spielt das eine Rolle», sagte Forsythe und fuchtelte mit der Hand.

«Warum?»

Forsythe starrte seinen Forscherkollegen an, wusste nicht recht, was er sagen sollte. «Wie meinen Sie das – warum?»

«Ich meine», sagte Tversky und beugte sich auf seinem Stuhl vor, «warum spielt es eine Rolle, was für die Bewegung der Elektronen verantwortlich ist? Sie könnten ausgelöst sein durch organisierte Teilchen, die noch kleiner sind als Quarks und erst noch entdeckt werden müssen, oder es könnte ein Energiefluss aus einer anderen Welt sein – ja, es könnte sogar sein, dass Elektronen Empfindungen haben. Ich will damit sagen, dass es nicht entscheidend ist, warum ihre Bewegungen nicht zufällig sind, sondern einzig und allein, dass sie nicht zufällig sind.»

«Aber die steuernde Variable, die hinter den Bewegungen der Elektronen steckt –»

«Ist eine hochinteressante Sache, aber das liegt außerhalb meines Forschungsgebiets.»

Forsythe trank einen Schluck Kaffee und ließ sich durch den Kopf gehen, was Tversky gesagt hatte. «Aber Sie haben mir immer noch nicht erklärt, worin angeblich Heisenbergs Denkfehler besteht.»

«Das muss ich auch nicht. Wenn Sie die Tatsache akzeptieren, dass hinter den Bewegungen der Elektronen etwas steckt, müssen Sie auch akzeptieren, dass es eine Kraft gibt, die diese Bewegungen steuert. Sehen Sie das denn nicht? Wenn es diese noch unentdeckte Kraft gibt, dann gibt es möglicherweise Methoden, Elektronen zu beobachten, ohne dazu auf Lichtwellen zurückzugreifen.»

Forsythe konnte nicht anders, er musste den Mann anstarren.

«Aber das ist ein Zirkelschluss – und es ist paradox. Sie behaupten, weil in einem probabilistischen Universum alles passieren könnte, könnte dieses Universum auch deterministisch sein statt probabilistisch! Sie verwenden die Heisenberg’sche Unschärferelation dazu, Heisenberg zu widerlegen.»

Tversky nickte nur. Seine Arroganz war erstaunlich, aber seine Ideen hatten einen bizarren Charme, der auf seltsame Weise zwingend wirkte. Dennoch wollte sich Forsythe nicht anmerken lassen, dass Tversky tatsächlich anfing, ihn zu überzeugen.

Forsythe räusperte sich und sagte: «Und ich soll diese ketzerischen Hypothesen hinnehmen, weil … ja, warum eigentlich?»

«Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie sie unbesehen akzeptieren. Sie sollen nur glauben, dass sie zutreffend sein könnten

«Und worauf soll sich Ihrer Meinung nach dieser Glaube gründen?»

Tverskys Augen leuchteten. «Auf Vertrauen.»

«Nicht gerade das überzeugendste Argument, das müssen Sie zugeben.»

Tversky zuckte die Achseln. «Schaun Sie, James, ich bin kein Verkäufer. Ich bin Wissenschaftler. Aber ich sage Ihnen, ich liege richtig. Ich habe es gesehen. Wenn Sie dabei gewesen wären, würden Sie das verstehen.»

«War ich aber nicht.»

«Ich aber.»

Forsythe schüttelte den Kopf. «Es tut mir Leid, aber das reicht mir einfach nicht. Ohne einen Beweis kann ich keine Mittel bewilligen. Ich kann nicht –»

Tversky schlug mit der Faust auf den Tisch. «Warum nicht, verdammt nochmal? Wissenschaft war doch mal etwas Revolutionäres. Sie wurde von mittellosen Genies betrieben, die rund um die Uhr schufteten, weil sie eine Theorie hatten, dass das Universum anders funktioniert, als ihre Mitmenschen glaubten, dass es funktioniert. Sie hatten eine Vision. Und sie hatten den Mut, für ihre Vision einzustehen.» Tversky erhob sich und beugte sich zu Forsythe vor. «Ich bitte Sie: Versuchen Sie doch dieses eine Mal, kein Bürokrat zu sein, sondern ein Wissenschaftler.»

Forsythe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Ich bin Wissenschaftler. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich in der realen Welt lebe und um ihre Zwänge weiß. Ich bin klug genug, innerhalb des Systems zu arbeiten, statt mich darüber zu beklagen. Sie sagen mir, ich solle mutig sein … Na, dann frage ich Sie: Wo ist denn Ihr Mut? Was haben Sie bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit denn schon unglaublich Riskantes getan?»

Tversky blieb stumm. Forsythe wusste nicht, ob aus Wut oder Sprachlosigkeit, aber es war ihm auch egal. Ihm war beides recht.

«Dachte ich es mir doch.» Forsythe stand auf und öffnete die Tür seines Büros. «Wenn das alles ist – ich habe heute noch sehr viel zu tun. Sie dürfen gerne wiederkommen und mir Ihre Theorie noch einmal darlegen – wenn Sie einen Beweis dafür haben.»

«Ich werde einen Beweis liefern», sagte Tversky selbstbewusst. «Aber ich bezweifle, dass ich dann zu Ihnen damit komme.» Tversky machte auf dem Absatz kehrt und stapfte auf dem Korridor davon.

Forsythe wandte sich an den Wachtposten an seiner Tür und sagte sehr selbstzufrieden: «Sorgen Sie bitte dafür, dass Dr. Tversky den Ausgang findet.»

«Jawohl, Sir», erwiderte der Soldat und lief seinem Schutzbefohlenen hinterher. Forsythe blieb noch einen Moment in dem nun menschenleeren Korridor stehen und betrat dann wieder sein Büro. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er war zuversichtlich, dass er Tversky mit seinen Sticheleien anständig Feuer unterm Hintern gemacht hatte. Wie er bereits von Tverskys «geheimen» Versuchen mit seiner Testperson Alpha wusste, war leicht vorstellbar, dass Forsythes höhnische Bemerkungen Tversky dazu antreiben würden, noch mehr Risiken einzugehen als ohnehin schon.

Forsythe blieb weiter nichts zu tun, als sich zurückzulehnen und abzuwarten. Wenn Tverskys nächstes Experiment ein Fehlschlag würde, konnte sich Forsythe auf andere Projekte konzentrieren. Hatte Tversky jedoch Recht … tja, dann würde Forsythe Agent Vaner anweisen, zuzuschlagen und das zu tun, worauf sie sich am besten verstand. Und anschließend konnte er dort weitermachen, wo Forsythe aufgehört hatte.

Und die Wissenschaft würde nicht klüger sein als zuvor.