Kapitel // 15 //

Nava gab die Kennnummer ein und klickte auf «Suche». Statt der Worte auf blauem Bildschirmhintergrund erschien ein Stadtplan von New York, der zwei blinkende Punkte enthielt – einer stellte Navas gegenwärtige Position dar, der andere Caines. Das Global Positioning System arbeitete perfekt.

Sie hatte Caines Lederjacke an diesem Morgen mit einem Minisender markiert. Jetzt musste sie nur noch auf seinen Zwillingsbruder warten. Sobald sie auch Jasper markiert hatte, konnte sie ihn als Lockvogel für Grimes verwenden, während sie selbst sich David schnappen würde. Anschließend würde Nava von der Bildfläche verschwinden.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. Wenn Jasper nicht bald die Wohnung verließ, war sie in der Bredouille. Während sie über die Straße sah, hielt vor ihr ein FedEx-Lieferwagen und versperrte ihr die Sicht. Der Fahrer beugte sich über den Sitz und öffnete die Beifahrertür.

Nava stieg ein und knallte die Tür zu. Drinnen öffnete sie die Trennwand zwischen Fahrerkabine und Frachtraum und ging nach hinten. Grimes und sein Kollege sahen kaum von ihrer Arbeit hoch, als sie hereinkam. Beide hämmerten sie auf ihre Tastaturen ein, und ihre Blicke huschten zwischen den drei vor ihnen angebrachten Flachbildschirmen hin und her.

Es gab keinen Platz, an dem sich Nava hätte setzen können, also blieb sie stehen und wartete, bis Grimes fertig war. Nach ungefähr einer Minute reckte er ihr eine Hand entgegen, hielt es aber weiterhin nicht für nötig, sich zu ihr umzusehen.

«Geben Sie mir Ihren PDA. Ich muss ein paar Daten aktualisieren.»

Ohne nachzudenken, gab sie Grimes das kleine Gerät. In dem Moment, da er es in die Finger bekam, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte, aber es war schon zu spät. Er steckte den PDA in einen Schlitz an seinem Pult und drückte auf einen Knopf. Auf Grimes’ Hauptbildschirm erschien der Stadtplan von New York.

«Oh, toll, Sie haben ihn schon markiert. Ich schicke seine Koordinaten an das ganze Überwachungsteam.» Seine Finger flatterten über die Tastatur. «So, jetzt wissen alle, wo die Zielperson ist, falls er Ihnen durch die Lappen geht.»

«Er ist jetzt eine Zielperson?», fragte Nava.

«Yep.» Grimes wirbelte auf seinem Drehstuhl herum. «Dr. Jimmy hat für den Einsatz heute Morgen offiziell grünes Licht gegeben. Sie übernehmen taktische Unterstützung. Ein Einsatzkommando ist unterwegs.»

«Was?»

«Sehen Sie selbst», sagte Grimes und zeigte auf den rechten Bildschirm. Die ersten Daten über das Kommando erschienen bereits auf dem Schirm. Da die NSA über keine eigenen Kampfeinheiten verfügte, handelte es sich bei den zusätzlichen Leuten um Überwachungsspezialisten, die man an einigen Schusswaffen ausgebildet hatte, vermutete Nava.

Nava überflog die Dossiers über die drei übrigen Soldaten. Bis auf Gonzalez, den Sprengstoffexperten, hatten sie alle eine ähnliche Ausbildung absolviert und an Kampfeinsätzen teilgenommen – einige davon in geheimer Mission. Nava atmete aus. Das machte alles noch erheblich komplizierter. Sie sah zu Grimes hinüber.

«Finden Sie nicht, dass das ein bisschen viel des Guten ist? Vier Soldaten für die Festnahme eines einzigen Zivilisten?»

«Was soll ich dazu sagen?» Grimes zuckte die Achseln. «Dr. Jimmy ist auf Hundertachtzig. Er will verhindern, dass irgendwas schief geht.»

«Wie ist er denn an diese Special-Forces-Typen überhaupt rangekommen?»

«Keine Ahnung. Gefälligkeiten, schätze ich mal. So wie er Sie auch gekriegt hat. In diesem Fall setzt er alle Hebel in Bewegung.» Grimes nahm einen Fruchtgummiwurm aus einer Plastiktüte zwischen seinen Schenkeln und bot ihn ihr an. Nava schüttelte den Kopf. Ungerührt stopfte sich Grimes das Ding in den Mund und redete beim Kauen weiter. «Die sind in ein paar Minuten hier. Nach der Begrüßung will Dr. Jimmy, dass Sie ihn sich schnappen.»

Grimes’ Terminal begann zu piepen. Er drehte sich um und drückte auf einen Knopf. «Ja? Sie ist hier, einen Moment.» Er nahm sein drahtloses Headset ab und reichte es Nava. «Es ist Forsythe.»

«Hallo?»

«Agent Vaner, ich wollte nur sichergehen, dass Grimes Ihnen alle Informationen gegeben hat, die Sie benötigen.»

«Ich glaube schon, Sir. So wie ich es verstanden habe, soll ich das Team leiten, das den Zugriff durchführt, und Caine anschließend ins STR-Labor bringen.»

«Genau. Ich will, dass Sie die Führung übernehmen, denn wir müssen unauffällig vorgehen. Die Männer, die gleich zu Ihnen stoßen, sind nicht gerade für ihr Fingerspitzengefühl bekannt; ich konnte auf die Schnelle leider keine anderen bekommen. Ich hoffe, Sie werden sie in Schach halten können.»

«Ich werde mein Bestes tun, Sir.»

«Gut. Seien Sie äußerst vorsichtig im Umgang mit Mr. Caine. Er ist viel gefährlicher, als er wirkt.»

«Verstanden», sagte Nava und fragte sich, was genau Forsythe damit meinte.

«Viel Glück, Agent Vaner.»

«Danke, Sir.» Ein Klicken, dann war die Verbindung unterbrochen. Nava nahm das Headset ab und wollte es Grimes wiedergeben, sah aber, dass er bereits ein anderes trug.

«Ich hab immer eins zur Reserve dabei», sagte er mit einem Grinsen. «Dr. Jimmy ist echt ein Schisser, was? – ‹Seien Sie äußerst vorsichtig im Umgang mit Mr. Caine›», sagte er und betonte dabei jede Silbe genau wie Forsythe. Nava wusste nicht, ob sie eher darüber erstaunt war, dass er ihr Gespräch mitgehört hatte, oder darüber, dass er es so stolz eingestand.

«Das ist doch wohl ein Klacks, oder?», fragte Grimes unbeirrt weiter. «Ihr rennt dem einfach die Tür ein und schnappt ihn euch.»

Nava verließ den Lieferwagen, ohne darauf zu antworten. Das Dumme war: Grimes hatte Recht. Sein Angriffsplan war der beste – einfach und direkt, ohne Risiko für die Umgebung –, und wenn die Special-Forces-Typen etwas taugten, wussten sie das auch. Und sobald die NSA Caine erst einmal festgenommen hatte, würde sich ihr nie wieder eine Möglichkeit bieten, an ihn heranzukommen.

Sie musste sich etwas überlegen.

 

Als ihm klar wurde, wer Tommy war, hängte sich der Filialleiter seiner Bank sofort ans Telefon. Er sagte sogar «Sir» zu Tommy. Tommy konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemand schon einmal mit «Sir» angesprochen hatte. Sir Tommy. Ihm gefiel, wie das klang.

Da er nun reich war, hätte er sich vielleicht «Thomas» nennen sollen. Aber nee. Er konnte sich nicht vorstellen zu sagen: «Hallo, ich bin Thomas.» «Tommy» hatte ihm sein ganzes Leben lang genügt, und dabei würde er bleiben. Er griff zum Telefon und rief Dave an, um ihm von der guten Neuigkeit zu berichten.

«Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dir danken soll», sagte Dave begeistert.

«Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich eines Tages dafür revanchieren werde», sagte Tommy grinsend. «Wenn du nicht gewesen wärst, hätten sie mich auf der Middle School doch jeden Tag verkloppt. Und außerdem wäre ich bei Miss Castaldi durchgefallen. Ich bin dir wirklich was schuldig.»

«Das weiß ich nicht, aber … also, ich bin echt überwältigt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.»

«Du musst nichts sagen, Mann.»

«Dann treffen wir uns also um sechs.»

«Ja. Ich freu mich schon.»

Dave dankte ihm noch zweimal, ehe Tommy ihn endlich aus der Leitung bekam. Er fühlte sich großartig. Besser als großartig – sagenhaft. Er war noch nie in der Lage gewesen, jemandem zu helfen. Doch nun war er der Größte und zahlte seine Schulden ab. Von nun an würde alles anders werden. Er würde große Dinge tun. Er würde etwas bewegen.

Sein Telefon klingelte wieder, aber diesmal ließ er den Anrufbeantworter rangehen. Es war schon wieder ein Werbeanruf. Die Frau wollte Tommys Finanzplanerin werden. Sie leierte eine Liste von Dingen herunter, über die sich Tommy angeblich Gedanken machen musste – Immobilien, ein Aktienportfolio, Lebensversicherungen, steuernsparende Maßnahmen, ein Nachlassverwalter – PIEP. Sein Anrufbeantworter schnitt ihr das Wort ab.

Tommy sah auf die Wanduhr. Ihm blieben nur noch ein paar Stunden für den Gang zur Bank und die Fahrt nach Manhattan. Dave hatte angeboten, nach Brooklyn zu kommen, aber Tommy wollte nach Downtown, wollte feiern.

Immer noch grinsend ging er in die Küche seinen Mantel holen. Dave war ihm stets ein guter Freund gewesen. Tommy hoffte, dass sie sich jetzt nicht wieder aus den Augen verlieren würden. Dave war genau der Typ, den Tommy jetzt brauchte – klug und anständig, jemand, der ihn nicht ausnutzen würde. Da kam Tommy auf eine Idee.

Er nahm einen Zettel, schrieb eine lange Notiz und hängte sie mit einem kleinen footballförmigen Magneten an die Kühlschranktür. Ihm war klar, dass es ziemlich seltsam war, so was zu tun, aber da er nun Multimillionär war, musste er an solche Dinge denken. Er trug jetzt Verantwortung und so.

Als er den Zettel betrachtete, vermittelte ihm das ein gutes Gefühl, genau so, wie als er Dave gesagt hatte, dass er ihm helfen würde. Ja, jetzt würde endlich alles anders werden. Er konnte es gar nicht erwarten, dass sein neues Leben begann. Tommy zog sich den Mantel an und verließ die Wohnung. Er musste sich beeilen, wenn er es noch rechtzeitig zur Bank schaffen wollte – auch wenn er vermutete, dass der Filialleiter extra seinetwegen die Bank beliebig lange geöffnet halten würde.

Tommy war jetzt ein großer Mann. Ein großer Mann mit großen Plänen.

 

Jaspers Gesicht war immer noch ein wenig geschwollen, aber er sah schon viel besser aus als in der Nacht zuvor.

«Willst du wirklich nicht aus der Stadt weg?», fragte Jasper. «Ich meine, wenn Tommy das wahrmacht, bist du die ganzen fiesen Kerle doch erst mal los, oder etwa nicht?»

«Theoretisch schon.»

«Und warum willst du dann, dass ich abhaue?»

«Ich weiß nicht», log Caine. Caine wusste es tatsächlich nicht, ahnte aber, dass alles erst noch einmal schlimmer werden würde, ehe es dann eine Wendung zum Besseren nahm. «Ich finde einfach nur, du solltest mal fort von hier.»

«Also gut.» Jasper stand auf und zog sich seinen alten Parka an. Die Jacke hatte überall dunkelbraune Flecken. Caine wollte erst einen blöden Kommentar machen, doch dann wurde ihm klar, dass es getrocknetes Blut war. Er nahm seine Lederjacke, die über einem Stuhl hing, und warf sie seinem Bruder zu.

«Dein Parka sieht scheiße aus. Hier, nimm die.»

Jasper betrachtete erstaunt die teure Lederjacke seines Bruders. «Ist das dein Ernst?»

«Ja. Ich schenke sie dir. Sieh’s als Trostpreis für den Boxkampf heute Nacht.»

«Danke», sagte Jasper und wechselte begeistert den Parka gegen die Lederjacke. «Na so was! Passt wie angegossen!»

«Wer hätte das gedacht.»

Caine lächelte. Es kam ihm so vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass er das letzte Mal gelächelt hatte. Er schlüpfte in einen alten Regenmantel und schloss die Tür hinter ihnen ab. Die Zwillinge setzten identisch aussehende Sonnenbrillen auf und gingen die Treppe hinab. Als sie das Haus verließen, nahmen sie keine Notiz von dem weißen FedEx-Laster und dem schwarzen Lieferwagen daneben.

 

«Auf Position bleiben», befahl Nava, als sie die Brüder das Haus verlassen sah.

«Aber Ma’am, wir haben freies Schussfeld –»

«Auf Position bleiben. Das ist ein Befehl, Lieutenant.»

«Verstanden.»

Nava trat ihre Zigarette aus und folgte den Zwillingen. Während sie die Straße hinabging, überlegte sie, was sie tun sollte. Es war ihr gelungen, Grimes hinzuhalten, indem sie ihm erklärte, dass sie Caine nicht vor irgendwelchen Zeugen festnehmen wollte, die ihn kannten, wie seinem Gast beispielsweise, doch sobald Jasper von der Seite seines Bruders wich, konnte sie die Männer nicht mehr davon abhalten, sich David zu schnappen.

«Mist, Caine und sein Freund sehen sich aber wirklich ähnlich», ertönte Grimes’ Stimme aus ihrem Headset. «Die sind ja wie Zwillinge.»

«Hier wird nicht geplappert», sagte Nava streng. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, dass Grimes womöglich seinem Gedächtnis nachhalf.

«Wie Sie meinen», murmelte er.

«Konzentrieren Sie sich auf die Zielperson», sagte Nava. «Die andere ist irrelevant.»

«Welcher ist denn die Zielperson, Ma’am?», fragte Spirn.

Da witterte Nava eine Chance für sich. Solange die Brüder zusammenblieben, konnten die Männer nicht erkennen, wer von ihnen den GPS-Sender trug, da dieser nur auf einen Meter genau war. Nava überlegte kurz, Jasper als David zu identifizieren. Im Handgemenge konnte sie den Sender bestimmt ausschalten. Und bis ihnen klar wurde, dass sie Jasper hatten, konnte sie sich David schnappen und mit ihm verschwinden.

Doch da sie die Bekanntschaft der beiden als Vorwand genutzt hatte, nicht sofort zuzuschlagen, konnte sie jetzt hinter dieses Argument nicht mehr zurück. Wenn es ihr bloß gelungen wäre, sie beide zu markieren, so wie sie es vorgehabt hatte, hätte sie die Männer auf Jasper ansetzen können. Wenn –

Sie sah den Mann an, den sie für David Caine gehalten hatte. Unter dem Rand seiner dunklen Sonnenbrille entdeckte sie eine leichte Verfärbung der Haut. Sie sah den anderen Bruder an, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Sein Gesicht war makellos. David hatte seine Jacke aus irgendeinem Grund seinem Bruder gegeben, was bedeutete, dass Jasper nun den Sender trug, nicht David.

«Ich muss mir das näher ansehen», sagte Nava und legte sich bereits einen neuen Plan zurecht. Sie ging weiter, wartete darauf, dass die Brüder die Straße überquerten. An der nächsten Kreuzung verlangsamten sie ihre Schritte. Als die Ampel auf grün umsprang, betraten die Zwillinge die Straße und kamen nun auf sie zu. Sie wollten links und rechts an ihr vorbeigehen, aber Nava tat, als würde sie stolpern, und rempelte Caine an.

«Oh, Entschuldigung», sagte sie und packte ihn mit einer Hand beim Ellenbogen und mit der anderen bei der Schulter.

«Macht nichts», sagte er.

Sie nickte und ging weiter. «Zielperson ist der mit der schwarzen Lederjacke.»

«Verstanden – schwarze Lederjacke.»

«Sobald sie sich trennen, schlagen Sie auf mein Kommando zu», befahl Nava.

«Verstanden.»

An der nächsten Kreuzung blieben die Brüder stehen. Sie unterhielten sich kurz, umarmten einander und gingen dann getrennter Wege. David überquerte die Straße, und sein Bruder bog um die Ecke. Jetzt war es so weit.

«Nähern. Michaelson, Sie gehen vor ihm. Brady rechte Flanke. Gonzalez, Sie halten mit dem Lieferwagen neben ihm, wenn wir uns genähert haben. Spirn, Sie kommen mit mir.» Die Männer nahmen in flottem Schritt ihre Positionen ein. In ihrer Zivilkleidung fielen sie unter den Passanten auf dieser belebten Straße Manhattans nicht weiter auf.

«Position.» Michaelson ging zwei Meter vor Jasper.

«Position.» Brady ging einen Meter rechts neben Jasper.

«Halten», sagte Gonzalez. «Ich habe ein bisschen Probleme mit dem Verkehr. Warten Sie.»

Das Team blieb an der Zielperson dran, während Gonzalez ein in zweiter Reihe haltendes Taxi umkurvte, dann an ihnen vorbeifuhr und zehn Meter vor der Zielperson hielt. «Position.»

«Wir schlagen zu, wenn die Zielperson noch einen Meter vom Wagen entfernt ist. Spirn und ich übernehmen den Zugriff, Michaelson und Brady, Sie halten sich bereit, falls er versucht zu fliehen.»

Nava näherte sich Jasper und zog ein dünnes Metallröhrchen aus der Tasche. Sie musste sich beeilen. Wenn er damit herausplatzte, dass David sein Zwillingsbruder war, war alles vorbei. Nava beschleunigte ihre Schritte, während sich Jasper dem Lieferwagen näherte. Sie war ihm fast schon so nah, dass sie ihn berühren konnte. Über seine Schulter sah sie Michaelson, der drei Meter weiter an einem geparkten Auto lehnte.

Nava streckte eine Hand aus und packte Jasper am Oberarm. «Entschuldigung. Mr. Caine?»

Jasper wandte sich erstaunt um. «Ja?»

Nava hielt ihm hastig einen gefälschten Dienstausweis hin. «Könnten Sie bitte mit an den Wagen kommen, Sir? Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.»

Jasper sah Nava an, dann Spirn. «Äh, klar», sagte er und ging an den Bordstein, stellte sich mit dem Rücken zu dem Lieferwagen.

«Danke, es dauert nur einen Augenblick», sagte Nava und rammte ihm, ohne ein weiteres Wort zu sagen, das Röhrchen in den Oberschenkel. Jasper riss die Augen auf und machte «AHHH!». Spirn packte Jasper am Arm, damit er nicht weglaufen konnte, aber das war gar nicht nötig. Zwei Sekunden nachdem Navas Spritze Jaspers Jeans und Haut durchstochen hatte, ergoss sich das Benzodiazepin bereits in seinen Blutkreislauf.

Das Beruhigungsmittel wirkte fast augenblicklich. Seine Augen, die noch einen Moment zuvor entsetzt geblickt hatten, guckten nun gelöst, geradezu verträumt. Nava warf Michaelson einen Blick zu, und der nickte. Keiner der anderen Passanten hatte etwas bemerkt.

«Mr. Caine, wir müssen Sie jetzt mitnehmen», sagte Nava und hielt Jasper am Arm fest, damit er nicht hinfiel. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber über seine Lippen drang nur unverständliches Genuschel. Spirn und Nava führten ihn zum Heck des Lieferwagens. Spirn riss die Tür auf und half Jasper hinein, und Nava schirmte sie währenddessen so gut sie konnte von den Passanten ab.

Dann stieg sie ebenfalls ein, und Michaelson und Brady folgten. Beide wirkten enttäuscht, dass die Zielperson keinen Widerstand geleistet hatte. Brady knallte die Tür zu, und Gonzalez gab Gas. Nava sprach in ihr Mikro: «Wir haben die Zielperson und kommen jetzt zur Basis.»

«Verstanden. Ich werde Dr. Jimmy die gute Nachricht überbringen.»

Nava beugte sich vor. «Gonzalez, lassen Sie mich an der nächsten Ecke raus.»

«Kommen Sie nicht mit?», fragte Michaelson verdutzt.

Sie schüttelte den Kopf und tat, als müsste sie gähnen. «Ich habe die ganze Nacht lang observiert. Ich gehe jetzt nach Hause. Spirn, Sie haben das Kommando. Melden Sie sich bei Grimes, wenn Sie im Labor angekommen sind.»

Der Lieutenant nickte. Als der Lieferwagen hielt, öffnete Nava die Tür und sprang hinaus, nahm ihren Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Sie schloss die Tür wieder und klopfte kurz dagegen. Als der Lieferwagen außer Sicht war, zückte sie ihren PDA.

Sie gab die neue GPS-Kennnummer ein und wartete, während das Gerät die Verbindung zu dem Satelliten herstellte. Der vertraute Stadtplan mit den beiden blinkenden Punkten erschien. David Caine war zwei Kilometer entfernt, ging in Richtung Westen. Es war 17.37 Uhr. Ihr blieben nur noch 23 Minuten.

Sie überlegte, ein Taxi zu nehmen, aber zu dieser Tageszeit kam man zu Fuß schneller voran.

 

Tversky richtete die Videokamera auf den rostigen Chevrolet. Es war ein kalter Abend, und deshalb waren nur wenige Leute unterwegs, aber wegen einer Baustelle hielten hier etliche Laster, und unter dem Baugerüst standen ein paar Benzinfässer. Er richtete das Objektiv so aus, dass er freie Sicht auf den Gehsteig hatte. Perfekt. Jetzt musste er nur noch abwarten. Er versuchte sich einzureden, dass alles in bester Absicht geschah, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte.

Er wollte unbedingt, dass David Caine hier vorüberkam. Wenn er kam, bewies das, dass Tversky die ganze Zeit Recht gehabt hatte und, was viel wichtiger war, dass auch alles andere, was Julia vorhergesagt hatte, in Erfüllung gehen würde. Wenn Caine nicht kam … tja. Tversky seufzte und schüttelte den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Er musste sich konzentrieren.

Er öffnete die Lederhülle und betrachtete die elektronische Vorrichtung. Er hatte sie zwar an diesem Nachmittag schon mindestens zehnmal ausprobiert, machte sich aber immer noch Sorgen, dass etwas schief gehen könnte. Er bemühte sich, diese Gedanken beiseite zu schieben und stattdessen an die Ereignisse zu denken, die ihn hierher geführt hatten. Seine Forschungen. Der Zwischenfall in dem Restaurant. Seine Entdeckung. Forsythes Zurückweisung. Julias Vision.

Jedes dieser Ereignisse war ein Glied der Verkettung von Umständen, die ihn hierher geführt hatten. Er fragte sich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass es zu einer derartigen Verkettung von Ereignissen kam. Eins zu tausend? Zu einer Million? Einer Billion? So etwas ließ sich nicht berechnen. Das war das Schöne am Leben: Alles war möglich, und alles war äußerst unwahrscheinlich – doch einige all dieser unwahrscheinlichen Ereignisse mussten dennoch geschehen.

Plötzlich tauchte ein Mann auf dem kleinen Bildschirm der Videokamera auf. Er trug einen großen Aktenkoffer aus Metall. Er ging an dem Tanklaster entlang, der in zweiter Reihe hielt, ein paar Meter von dem Chevy entfernt. Tversky Puls beschleunigte sich, und er wartete darauf, dass er das Gesicht des Mannes erkennen konnte. Tversky wischte sich die zitternden Hände an der Hose ab und ließ den Bildschirm keinen Moment aus dem Blick. Vorsichtig berührte er die kleine Tastatur.

Der Mann drehte sich langsam um, war nun im Profil zu sehen. Tversky seufzte enttäuscht. Es war nicht Caine. Sein Gesicht war schwammig und mit Aknenarben überzogen. Er sah aus, als würde er auf jemanden warten. Tversky hoffte für den Mann, dass er nicht lange dort stehen blieb. Es wäre schade, wenn ihn die Explosion ebenfalls erwischen würde.

 

«Ich glaube, wir haben ein Problem, Sir.» Lieutenant Spirns strenge Stimme ertönte in Grimes’ Headset.

«Na wunderbar. Was ist denn?»

«Der Mann, den wir gerade festgenommen haben. Sein Name ist nicht David Caine. Er heißt Jasper Caine.»

«Was?»

«Er hat irgendwas über einen David vor sich hin gemurmelt. Ich fand es seltsam, dass er von sich in der dritten Person spricht, und darum habe ich in seiner Brieftasche nachgesehen. Seinem Führerschein zufolge lautet sein Vorname Jasper. Als ich ihn fragte, wer David sei, sagte er, das sei sein Bruder.»

Grimes schlug mit der Faust an die Innenwand des FedEx-Lasters. «Scheiße!»

«Was sollen wir tun, Sir?»

«Warten Sie mal kurz.»

Grimes’ Finger flatterten über die Tastatur. Er rief Caines Akte auf und scrollte zum Abschnitt «Angehörige». Da stand nichts von einem Jasper Caine. Ja, da stand gar nichts von irgendwelchen Geschwistern. Sehr seltsam. Er hatte die Akte zwar nur einmal überflogen, hätte aber schwören können, dass da etwas gestanden hatte. Grimes bekam ein flaues Gefühl im Magen. Ihm kam ein Verdacht, und er überprüfte, wer die Akte zuletzt bearbeitet hatte.

Die einzige verzeichnete Änderung war eine Aktualisierung. Dummerweise konnte er von seinem Terminal in dem FedEx-Wagen aus nicht feststellen, welche Felder geändert worden waren. Er aktivierte das Satellitentelefon und war sofort mit einem Spezialisten seiner Abteilung verbunden.

«Hi.» Es war Augy.

«Hallo, Grimes hier. Ich brauche mal die letzte Backupdatei über Caine, David T.; Kennnummer ist Cat-Delta-Tiger-6542.»

«Augenblick, kommt sofort.»

Eine Minute später war Augy wieder dran. «Hab’s dir gerade rübergeschickt. Müsste schon angekommen sein.»

«Ja, ich hab’s.» Grimes klickte auf das Icon mit der Heftklammer und überflog den Text. Er bekam große Augen. Jemand hatte die Datei geändert; David Caine hatte tatsächlich einen Zwillingsbruder namens Jasper. «Okay», sagte Grimes mit pochendem Herzen, «ich brauche eine Log-Datei mit allen Änderungen. Schick sie mir rüber, wenn du sie hast.»

«Mach ich.»

Grimes legte auf. Sekunden später teilte ihm sein Rechner mit einem Piepen mit, dass eine Mail eingegangen war. Grimes öffnete die Datei und war entsetzt über das, was er da sah. Der Hacker hatte seine Identität mittels eines falschen Benutzernamens verborgen, aber Grimes erkannte den Code des Rechners, an dem die Änderung durchgeführt worden war. Es war Vaners. Er ließ die letzte Viertelstunde noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Wie sie die Zielperson identifiziert und ihr das Beruhigungsmittel gespritzt hatte, ehe sie sich dann vom Team getrennt hatte. Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, aber eins wusste er: Forsythe würde ihm an die Gurgel gehen.

Er verband sich mit Spirn. «Lieutenant, ich habe die Bestätigung, dass es sich bei Ihrem Mann um den Bruder der Zielperson handelt.»

«Verstanden. Was soll ich tun?»

Grimes dachte hektisch hin und her. Forsythe würde so oder so ausrasten, aber noch schlimmere Zustände würde er kriegen, wenn sie ihm einen unschuldigen Zivilisten anschleppten.

«Wann lässt die Wirkung des Mittels nach?», fragte Grimes.

«In ungefähr zwanzig Minuten. Er wird ein bisschen groggy sein und wahrscheinlich mörderische Kopfschmerzen haben, aber davon abgesehen geht’s ihm dann wieder gut.

«Okay. Schmeißen Sie ihn raus.»

«Wie bitte, Sir?»

«Sie haben verstanden, was ich gesagt habe!», belferte Grimes. Ihm brach der Schweiß aus. «Halten Sie an der nächsten Parkbank, und setzen Sie ihn dort ab.»

«Verstanden», sagte Spirn ganz ruhig, auch wenn Grimes am Tonfall des Soldaten hörte, dass ihm das gar nicht gefiel. Aber das war Grimes egal. Der konnte ihn mal. Fünf Minuten später raste der schwarze Lieferwagen von der Gasse fort, in der sie Jasper abgesetzt hatten, und der FedEx-Laster folgte dichtauf. Grimes verband sich mit seinem Chef.

«Houston», sagte Grimes, «wir haben ein Problem.»

 

Navas Handy läutete in ihrer Tasche. Der Anruf kam direkt aus Forsythes Büro. Offenbar hatte sie es geschafft. Sie schaltete das Telefon ab und konzentrierte sich darauf, was jetzt zu tun war. Dabei fragte sie sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihr auf die Spur kamen.

Da wurde ihr klar, dass es bereits so weit war.

Grimes hatte garantiert ihr Handy lokalisiert, ehe er Forsythe sie anrufen ließ. Das bedeutete, dass sie wussten, wo sie war. Sie musste sich jetzt beeilen. Es war schon schlimm genug, dass sie Caine aus den Augen verloren hatte, aber wenn man sie festnahm, konnte sie nichts mehr unternehmen.

Sie schaltete das Telefon wieder an, und es begann sofort zu läuten. Nava achtete nicht darauf und lief mit erhobenem Arm zur Straße. Ihr Schicksal, das wusste sie, lag jetzt in den Händen des ersten Taxifahrers, der hielt.

 

«Haben Sie sie lokalisiert?», fragte Forsythe.

«Ja. Wir hatten das Signal kurz verloren, aber jetzt kommt es deutlich rein. Sie bewegt sich mit 50 km/​h in Richtung Süden.»

«Können Sie das Signal mit einem Satellitenbild koppeln?»

«Schon erledigt», sagte Grimes. «Sie sitzt in einem Taxi, das auf dem West Side Highway unterwegs ist.»

«Schicken Sie das Team los, die sollen sie festnehmen.»

«Die sind schon unterwegs. In ein paar Minuten müssten sie sie schnappen.»

«Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie Vaner haben.»

Forsythe beendete das Gespräch und ging dann in seinem Büro auf und ab. Er fragte sich, ob Vaner etwas wusste, das er nicht wusste. In diesem Fall war David Caine wahrscheinlich genau das, wofür Tversky ihn hielt. Und jetzt war er ihnen entwischt. Aber wenigstens hatten sie Vaner bald. Und wenn er mit ihr fertig war, würde sie diesen Verrat bereuen. Und zwar bitterlich.